In Wasser geschrieben. Beim Lesen von "Die Ostsee"

Translated by Mirko Bonné
Also available in English: Writ in Water. Reading "Die Ostsee"
 

„Hier liegt einer, dessen Name man in Wasser schrieb“, lautet das Epitaph auf John Keats’ Grabstein. Dieser englische Dichter der Romantik wusste, dass er mit fünfundzwanzig Jahren sterben würde, zu früh für die Unsterblichkeit, somit dazu verdammt, fortgespült und vergessen zu werden.

Was aber, wenn Wasser gar nicht für Vergessenheit steht, vielmehr das Lebenselixier schlechthin ist, so wie Meere sind? In Wasser zu schreiben ist wie das Schreiben auf jeder abwaschbaren Oberfläche die Kunst, immer Neues auszuprobieren. Man denke nur an die unendlich erneuerbare Oberfläche einer Tafel oder Whiteboard im Klassenzimmer. Abgewischt mit einem Schwamm, ist sie immer von Neuem bereit, einem etwas beizubringen – eine reine Tafel, eine tabula rasa. Der Schriftsteller und Übersetzer Klaus-Jürgen Liedtke hat eine schwergewichtige Anthologie mit Texten aus den letzten zweitausend Jahren zusammengestellt, die sich mit der Ostsee beschäftigen. 1751Die Ostsee liefert unzählige Ausprägungen des Lebens an diesem Meer, denn im Sinne eines Zitates von Herder – der eine herausragende Rolle in dem Buch spielt – ist es gut, diesem Meer den Rang von etwas Allgemeingültigem zuzuerkennen, das über der Politik steht, ein unbenanntes Element:

„wie unsre Schiffahrt geht, ists nur überall Meer“.

Wasser ist natürlich ebenso etwas, das wir bei Taufe und Umtaufung verwenden. An der Ostsee und in ihrer Umgebung wurden Orte und Dinge von Anwohnern, Besuchern und Eindringlingen beständig benannt und umbenannt. Viele politische Mächte rund um dieses Meer haben sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Geschichte einer Periode der Größe erfreut. So schreibt Max Fürst, ein Sohn der Stadt Königsberg, über das einstige Reich Litauen:

„Es scheint, dass Gott gerecht ist und jedem Volk einmal seine Geschichtsstunde gewährt hat, worauf dann ewige Ansprüche angemeldet werden.“

Den meisten Reichen ist ein gerade mal fünfzehn Minuten währender Ruhm vergönnt, andere dagegen leiden fortgesetzt unter Phantomschmerzen.

Schweden war eine dieser Mächte und eine spezifisch ostseeische. Vom Westfälischen Frieden bis zum Tod Karls XII. und sogar später noch betrachtete Schweden die Ostsee gern als sein mare nostrum, einen schwedischen See – den Ostsee? – und ein Mittelmeer des Nordens. Und natürlich schmerzt es, ein mare nostrum aufzugeben; auch für Rom war das einst schmerzhaft. Schweden, wie wir wissen, gab erst im frühen 20. Jahrhundert seine Ansprüche auf die Stadt Wismar auf. Downsizing braucht Zeit.

Weltliche Mächte üben ihre Macht auch über Namen aus, und Städte entlang der Küste änderten ihre Namen, wie sich die Herrscher änderten. Beim Lesen von Die Ostsee stellt sich der Eindruck ein, Meeren hafte etwas besonders Instabiles an. Sie sind aus demselben Stoff gemacht wie große Geschichten und das Seemannsgarn, ständig anders, stürmisch oder beschaulich, packend, unberechenbar, launisch. All dies kommt in dem Buch zum Ausdruck anhand von Geschichten über Schiffbrüche, Beinahe-Schiffbrüche, Navigationstorturen, waghalsige Fischfangexpeditionen, Auslieferungen nach dem Krieg usw.

Die Ostsee in Liedtkes Darstellung hat tausend Gesichter; sie ist ein Wunder an Relativität. Sie ist sogar relativ zu der Weise, in der man sie betrachtet. In germanischen Sprachen wird das Mare balticum Ostsee genannt, wohl im Gegensatz zur Nordsee, die westlich der Ostsee und, zum Beispiel, südlich von Norwegen liegt. Norwegen weist also südwärts den Weg zu einer nördlichen See – wobei sein Name nur die angelsächsische Weise widerspiegelt, den Weg gen Norden zu bezeichnen. Wenn Dänen von Jütland nach Westen blicken, bezeichnen sie die Nordsee mit dänischem Aplomb als Westsee. Auch die Esten sprechen von der Westsee (Läänemeri), meinen aber die Ostsee, die ja für sie im Westen liegt. Und wer kann sagen, wo sich ihre Westsee mit der germanischen Ostsee trifft. Die Grenzen des Mare balticum sind in Wasser geschrieben; es ist kein limen sichtbar.

Diese Aufzählung erinnert uns daran, dass Namen eine Perspektive beinhalten. In der Sprache der Seeleute ausgedrückt, liegen Namen im historischen Wandel vor Anker, wenn etwa Königsberg zu Kaliningrad, Stettin zu Szczecin oder Arensburg zu Kuressaare wird. Linguisten haben dafür eine Kategorie, sie sprechen von Deixis oder deiktischen Wörtern. Ein Deiktikon ist ein digit, griechisch für Finger. Es zeigt nicht nur wie ein Finger in eine bestimmte Richtung, sondern hat auch einen Zeigenden, jemanden, zu dem dieser Finger gehört. Ein Deiktikon ist stets verortet: Seine Bedeutung ist relativ zu Zeit und Raum des Sprechers. Wie heute, morgen; hier, dort; ihr, sie – alles flüchtige, flatterhafte Begriffe.

Aus meiner Sicht sind Perspektivwechsel, die Relativität der Perspektiven, eine treibende Idee hinter diesem Buch. Auf diese Weise wird dieser seichte Wasserfleck zu einer so tiefen Quelle von Texten über Entdeckungen und Überraschungen, darüber, Dinge neu zu sehen. Die mittlere Tiefe der Ostsee beträgt fünfundfünfzig Meter, etwas weniger als die Hälfte der Höhe von Rostocks Petrikirche. Sie ist weder tief noch weit, doch ist sie das, was Ozeanografen als Nebenmeer bezeichnen. Sie erhält ihre Weite durch die Vielzahl von Erfahrungen, denen sie unterworfen war. Genau davon spricht der Titel von Tomas Tranströmers Langgedicht „Östersjöar“ (Ostseen), das eine herausragende Rolle in dem Buch spielt. Dieses Gedicht ist seit Langem, übersetzt in alle baltischen Sprachen – und einige weitere –, in der digitalen Baltic Sea Library (www.balticsealibrary.info) zu finden. Dasselbe gilt für Liedtkes Vorwort zu dem Buch, betitelt mit „Ostseewelten“, einem hörbar eindringlichen Plural.

Tranströmers Ostseen-Gedicht führt vom Stockholmer Schärengürtel bis nach Liepāja / Libau und zeigt damit eine Distanz auf, die für die Geschichte dieses Meeres von entscheidender, ja grundlegender Bedeutung ist. Die Lettische SSR trennte praktisch eine Welt von Schweden; die Ostsee war in der Mitte gespalten. So weit man das von kleinen Meeren sagen kann, war sie in gewisser Hinsicht ein politisch geteiltes Ganzes, ähnlich wie Berlin oder Nikosia / Lefkoşa.

Als umstrittenes Gebiet war sie immer schon Gegenstand der Neugier für andere Grenzgänger, Plünderer, Entdecker, Kaufleute, Stadtbauer und Staatsbauer – kurz, die Neugier für den Anderen. Und entlang dieser Neugier, dieser Wissbegierde ist Die Ostsee angeordnet. Von ihnen zehrt das Buch. Seine Abschnitte reihen sich wie folgt aneinander: Ankunft und Aufbruch, Wahre und erfundene Reisen, Historien und Schlachten, Hart am Wasser, Städte am Meer, Provinzen, Inseln und Peripherien. Schon diese Anordnung führt den Leser dazu, den Inhalt auf bestimmte Weise zu betrachten. Nationale Anthologien machen es sich für gewöhnlich einfach, gehen historisch, seriell vor und haken Strömungen und Tendenzen ab, während supranationale Anthologien dazu neigen, ihre Erzählung thematisch zu konstruieren, wie, unter anderem, in Hans Magnus Enzensbergers Thesaurus Museum der modernen Poesie, dessen Inhalt unterteilt ist in Augenblicke, Ortschaften, Meere, Gräber, Hochzeiten, Klagen usw.

Sind Ihre Leitbilder weder national noch supranational oder gar poetisch, sondern räumlich – und dies ist hier der Fall –, so steht es Ihnen frei, jede Art narrativer Neuformulierung ausprobieren. Zeit – kumulative, lineare Zeit – hat den geschichtlichen Diskurs in allen seinen Aspekten dominiert, und in jedem nationalen Rahmen gibt es stets eine implizite Priorität, die nationale Idee voranzutreiben. Überspringen Sie diesen Fokus, so können Sie den Raum vom Schauplatz zum Thema erheben und können in diesem Prozess neue Knotenpunkte Ihrer eigenen Geschichte gewinnen.

Ankünfte und Aufbrüche – Reisen – bilden ein Thema, das nicht nur seine ersten Abschnitte, sondern das gesamte Buch durchläuft. Wenn sich Ihre gewohnten Rahmenbedingungen ändern, geraten Sie aus dem Gleichgewicht. Alles erscheint neu und sonderbar. Dies ist ein uraltes Prinzip nicht nur der Reiseliteratur, sondern jedweden Schreibens, das „erneuern“, entautomatisieren, Perspektiven auffrischen, verunsichern will. Denn ein Großteil der Fremdheit bahnt sich den Weg in beide Richtungen. Ein Reisender sieht Dinge, die neu und sonderbar sind, lernt sich aber zugleich in einer neuen Umgebung besser kennen. „Unserem wahren Selbst begegnen wir am besten nicht unbedingt zu Hause. Die Möbel bestehen nämlich darauf, dass wir uns nicht ändern können, sie können es ja auch nicht“, bemerkt Alain de Botton in seiner Kunst des Reisens. Man muss sich der Fremdheit aussetzen, um sich selbst zu verunsichern.

Das Buch ist voller Vergleichsgegenstände, was eine andere Art ist, die Dinge neu zu betrachten. Carl Michael Bellman, Schwedens großer Liederdichter und Komponist im 18. Jahrhundert, wird auf eine Weise von Ernst Moritz Arndt und auf eine andere von Johannes Bobrowski dargestellt. Königsberg sieht anders aus für Nikolai Karamsin, einen weithin bekannten russischen Reisenden, der aus dem Osten kommt und tief beeindruckt ist, als für Hans Graf von Lehndorff anderthalb Jahrhunderte später in dem Chaos, das nach dem Vordringen der russischen Armee aus dem Osten herrscht. Und Leser, die glauben, Günter Grass’ Die Blechtrommel liefere mit einen Pferdekadaver fressenden Aalen ein ziemlich drastisches Bild vom Fischfang an der Ostsee, werden anhand dieser Anthologie feststellen, dass Werner Bergengruen Grass in den Schatten stellt. Die Aale des Baltendeutschen Bergengruen tun sich an der Ehefrau eines Fischers gütlich.

Ausländer oder Fremde können einen ebenso zu Hause überraschen: Wir lesen von einer Finnin während eines dieser vielen Kriege mit Russland. Aus heiterem Himmel betritt ein Kalmück ihr Zimmer, woraufhin sie buchstäblich entgeistert ist. Sein bloßer Anblick beraubt sie für immer ihres Gehörs. Begegnungen mit Unerhörtem gibt es hier zuhauf. Passenderweise werden die verschiedenen Abschnitte von Die Ostsee verbunden durch die Skandinavien darstellende Carta Marina des schwedischen Kartografen Olaus Magnus aus dem Jahr 1539. Die Karte ergötzt sich an den wilden Tieren und Drachen, von denen Kartografen wussten, dass sie unbereiste Gebiete bewohnen.

Das Buch beginnt mit einer Art Trick: Der erste Text und die erste Ankunft spielen nicht etwa an einem bestimmten Punkt im Baltikum, sondern an der Ostsee an sich, d. h. dem Meer. Im das Buch eröffnenden Text gelangt der finnlandschwedische Schriftsteller Arvid Mörne an die Küste und schließlich 1929 nach Riga. Mörne geht vom Wolfgangsee aus auf eine mäandernde Reise, die auf dem Kontinent beginnt und ihn bis in den tiefen Norden führt. Sein Essay ist selbst in Finnland wenig bekannt, stellt jedoch eine erfinderische Methode dar, den Leser für die nördlichen Untiefen des Baltikums zu sensibilisieren, indem er aus mitteleuropäisch alpinen Höhen herabsteigt und jene vergrößert. Das Kerninteresse des Buches gilt dem Wassereinzugsgebiet des Ostseebeckens. Die Menschen, die an den Rändern der Ostsee leben (die Anrainer), sind in etwa so zahlreich wie die Bevölkerung Deutschlands.

Ich habe die Bedeutung des Raums teilweise deshalb betont, weil die Zeit in allem, was nach Geschichte riecht, stets mühelos obsiegt, während dies in Die Ostsee nicht der Fall ist. Nur riecht sie offenbar zu sehr nach Geschichte. Am äußersten Ende des Spektrums finden wir Tacitus, den Mann, der Deutsche und noch weiter entfernte Völker erst bekannt machte. Ich kann nicht umhin, Ihnen als Finne, mit Tacitus’ Worten, etwas über mich mitzuteilen:

„Die Finnen sind sonderbar wild, grässlich arm: sie haben nicht Waffen, nicht Pferd, nicht Helm; (…) Den Menschen gegenüber ohne Fürsorge, sorglos gegenüber Göttern, haben sie sich des Allerschwersten versichert: niemals von einem Wunsche belästigt zu werden.“

Das ist Geschichte; heute haben sogar Finnen Wünsche.

Dieses Buch ist demnach aus dem glücklichen Zusammentreffen von Zeit und Raum entstanden: In gewisser Weise ist es das Kind des Wiederauflebens der Ostseeregion nach 1989 als ein gemeinsamer, nicht gespaltener Raum. Es war ein langsames und tastendes Wiederaufleben; derlei braucht seine Zeit. Ich erinnere mich an eine Anekdote, die der estnische Schriftsteller Jaan Kross bei einem Treffen der Lahti International Writers erzählte, dessen Vorsitzender ich Anfang der neunziger Jahre war. Auf einer seiner ersten Reisen außerhalb der Sowjetunion schlenderte der im vorliegenden Buch prominent vertretene Kross über einen Kairoer Basar. Ein Teppichhändler fragte ihn, woher er komme. „Aus Estland“, antwortete Kross stolz. „So einen Ort gibt es nicht“, sagte der Teppichmann. „O doch, es gibt ihn“, beharrte Kross und ging triumphierend zu einer Wandkarte, die ihm an dem Stand aufgefallen war, um auf Estlands besonderen Platz im Universum hinzuweisen. Als er sich der Karte jedoch näherte, stellte er fest, dass dieser besondere Ort in toto vom Michelin-Mann verdeckt war, dem Logo mit dem fetten Autoreifenmann, das problemlos den Platz aller drei baltischen Republiken einnahm. Ein Augenbeweis war also nicht zu erbringen, weswegen der Teppichhändler seine Skepsis gegenüber der Existenz Estlands denn auch nie aufgegeben hat.

Daraus lernen wir, dass nicht mal Michelin-Richtlinien vertraut werden kann. Besser orientieren wir uns, indem wir auf Texte zugreifen, die erfüllt sind, ja durchdrungen sind von der Geschichte des Raums, und indem wir sie entlang der zweitausend Jahre umfassenden Zeitspanne, die uns dafür zur Verfügung steht, Bilder werden lassen wie in Die Ostsee.