Das Alexandria der Ostsee

read by / gelesen von Elna Lindgens

 

Translated by Elna Lindgens
Also available in Swedish: Östersjöns Alexandria
 

Eines Tages in den 1850er-Jahren suchte ein Schüler des schwedischen Gymnasiums in Wiborg seinen Lehrer Carl Wilhelm Ahrenberg auf. Mit Tränen in den Augen bat er ihn um Rat: welches Land sollte er sein Vaterland nennen?

Für Ahrenberg lag die Antwort auf der Hand: Finnland und das Finnische stünden als zukünftige Lebensaufgabe an erster Stelle.

Der junge Mann hieß Julius Krohn und sollte einer der großen Pioniere des finnischsprachigen Kulturlebens werden. Die Familie Krohn war pommerschen Ursprungs, Großvater Abraham hatte bereits im 18. Jahrhundert als Bäcker und Brauer in Sankt Petersburg Fuß gefasst. In Julius’ Elternhaus sprach man Deutsch, mit den Kindern jedoch auch Französisch und Russisch (die zwei einheimischen Sprachen Finnisch und Schwedisch waren Küchenjargon). Kein Wunder also, dass der Junge sich entwurzelt und orientierungslos fühlte.

Der Generation seines Großvaters hätte dieses Dilemma noch wenig Kopfschmerzen bereitet. Hatte doch Goethe erst 1772 energisch verkündet, sein Vaterland sei dort, wo er in Ruhe leben und wirken könne.

Seitdem war die kosmopolitische Freizügigkeit nach Goethe’scher Art Schritt für Schritt einer schwärmerischen Fixiertheit auf Sprache, Herkunft und Heimat gewichen. Als Ideal hatte der Weltbürger im Europa der neuen romantischen Epoche schon ausgedient; auch Julius kannte seinen Runeberg, der im Gedicht „Bauernjunge“ (Bondgossen) die Treue zur eigenen Scholle besingt: „Hat ohne Heimat ohne Freund / das Leben einen Sinn?“1

Doch nicht umsonst bezeichnete Jac Ahrenberg die Stadt Wiborg noch 1892 in Briefen an Georg Brandes als die polyglotteste Europas – nach Konstantinopel. Das mag eine Übertreibung gewesen sein, nichtsdestotrotz hatte man das gesamte 19. Jahrhundert hindurch in Wiborg ganz ungeniert Schwedisch, Finnisch, Deutsch und Russisch miteinander gemischt.

Finnisch diente dabei als simples Verständigungsmittel zwischen den Bevölkerungsgruppen; ein gebildeter Wiborger hielt etwas darauf, mindestens vier Sprachen zu beherrschen – „auf allen Vieren laufen“, scherzte man.

Als die Stadt 1812 nach einer fast hundert Jahre langen russischen Episode mitsamt dem sogenannten Alten Finnland zum Großfürstentum Finnland vereint wurde, machten die Finnen 44 % einer Gesamtbevölkerung von 2900 Personen aus. Der Anteil Russen lag bei 30 %, während Schweden und Deutsche 14,24 bzw. 12,5 % der Bevölkerung stellten. Unter letztere mischten sich auch Juden und Polen als weitere Nuance in das vielfarbige Gewebe.

Die alten deutschen Familien, „die Alten und die Echten“, die jahrhundertelang Handel und Verwaltung der Stadt dominiert hatten, gingen bereits in den Petersburger Salons ein und aus und waren nur mäßig begeistert von der Aussicht, sich nach dem fernen und verschlafenen Åbo ausrichten zu müssen. Finnland hieß für sie Provinz. „Die Hunde von der anderen Seite“ nannte man die Leute jenseits des Kymijoki gerne spöttelnd.

Tatsächlich profitierten die Handelshäuser lediglich von der neuen Ordnung; einer launischen und stümperhaften russischen Bürokratie nicht länger ausgeliefert, ging die Stadt einer wirtschaftlichen Blütezeit entgegen, mit u. a. dem Saimaakanal und der Eisenbahn als bedeutendem Zugewinn. Allerdings liefen die Schweden, nicht zuletzt durch den Einzug des Hofgerichts im Jahr 1839, den Deutschen nun den Rang als wahre Herren von Wiborg ab.

Schrittweise kam es auch zu einem Erstarken finnischer Kräfte, die politisch jedoch erst mit Finnlands Selbstständigkeit im Jahr 1917 ihre volle Wirkung entfalten sollten.

Bereits im Mittelalter versuchte Wiborg, seine günstige Lage zwischen Ost und West bestmöglich zu nutzen: russische Pelze waren eine der Waren, die man entlang uralter Handelswege zu der hanseatisch getrimmten Stapelstadt am Finnischen Meerbusen schaffte. Mit der Zeit wurden Teer und Holz zu neuen, einheimischen Trümpfen, während der Import immer variantenreicher ausfiel. So machte etwa der Rohzucker Havanna zu einem wichtigen Handelsposten Wiborgs in Übersee.

In diesem geschäftigen Treiben spielte das deutsche Element eine entscheidende Rolle. Die Menschen in der „Festung“ – wie das alte Patrizierviertel genannt wurde– waren von außerordentlich tüchtigem Schlag. Mit ihrem Fleiß und Erfindungsreichtum hauchten jene Krämer einem Landstrich Leben ein, der sonst schnell in Bedeutungslosigkeit versunken wäre.

Dabei profitierten sie massiv von der unterschwellig vorhandenen Klangemeinschaft der Deutschen rund um die Ostsee. Selbst in unmittelbarer Nähe des Zaren fanden sich diskrete Freunde für den Fall, dass Wiborg ein wenig extra Zugkraft brauchte. Dieselben Familien saßen auf wichtigen Spähposten entlang der baltischen Küste; Tipps und Warnungen erreichten die „Festung“ in einem Tempo, von der eine gewöhnliche Kleinstadt nur träumen konnte.

Schon zu Zeiten der Hanse hatte sich die deutsche Ostseemafia zahlreiche unlautere Vorteile erzwungen. Dennoch waren die Kaufleute in Wiborg keine „Barone“ im berüchtigten baltischen Sinn – auch wenn ihr Deutsch vielleicht denselben osteuropäischen Klang hatte. Wo sie waren, verbreitete sich weithin Wohlstand, und auf dem Land begegnete man ihnen mit Respekt, nicht mit Hass.

Wagt man es, von einer Elite zu sprechen, liegt das vielleicht – um Örnulf Tigerstedt zu zitieren– an der einzigartigen Mischung aus „Kosmopolitismus, Sachlichkeit, kühler Objektivität und einem ausgemachten Unwillen gegen jede Form von Fanatismus.“

Von anderem, lebhafteren Temperament waren die Russen, die im 18. Jahrhundert in Wiborg Einzug hielten, den Duft nach Knoblauch und Wodka mit sich bringend. Anfangs noch kleine Händler, waren die bärtigen, kaftangekleideten „Kupétse“ bald geschäftstüchtige Holzpatrone. Ihre Anwesenheit machte sich auch in der Küche Wiborgs bemerkbar, zu deren Delikatessen nun Piroggen und Buchweizengrütze im Tontopf gehörten.

Im Großen und Ganzen führten die Russen jedoch ihr eigenes Leben, auch die, die zur Gesellschaft gehörten. Nur aus der Ferne ließen sich die dunklen Schönheiten der Mädchenschule auf der Esplanade bewundern, und denselben Abstand hielten auch die Offiziere der örtlichen russischen Garnison. Revier wurde großgeschrieben in Wiborg. Oder wie Alma Söderhjelm sagte: „gänzlich unabhängig voneinander schlug man sich durchs Leben“.

Sie fügt jedoch hinzu, dass es eben diese Ungerührtheit war, die Wiborg den leisen Hauch einer Weltstadt verlieh. Leben und leben lassen, ohne Spähspiegel und frei von der aufdringlichen Neugier – üblicherweise in jeder kleinen Gemeinde zu finden.

Nie haben Rassenunruhen den Wiborg’schen Pluralismus erschüttert, ganz gleich, welche Spannungen es unter der Oberfläche gegeben haben mag. Und auch ohne das Klischee des „fröhlichen Wiborgs“ zu bemühen, ein Begriff, der bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht: die Stadt strahlte bis zuletzt eine Aura unbeschwerter Lebenskunst aus. Ihre redlichen Bürger verstanden es zu feiern, so galt der Ball zum 7. Januar als legendär. Vielleicht hat das helle karelische Gemüt auch die „Festung“ durchdrungen, hat ein Tropfen „shirokaja natura“ den schwedisch-deutschen Ernst erweicht.

Selbst der nationalistische Eiferer Snellman blieb vom Unternehmergeist Wiborgs nicht unbeeindruckt. 1866 konstatiert er bereitwillig „die Fähigkeit, das große Ganze zu sehen, wie sie nur das Geschäftsleben hervorbringen kann“. Nach finnländischer Tradition bleibt Wiborg mit seiner babylonischen Sprachverwirrung dennoch das absolute Gegenstück zum Snellmann’schen Einheitsstaat.

Ging es nach unserem Philosophen, waren schon zwei Sprachen eine zu viel, sollte ein echter „Nationalgeist“ herausgemeißelt werden. Yksi mieli yksi kieli, „ein Volk, eine Sprache“ lautete die Devise ganz im Zeichen Herders und Fichtes; jede Nation ist eine organische Einheit, in der das Individuum nicht ungestraft auf Französisch deutsch oder auf Schwedisch ein Finne sein kann. Die große Entdeckung seiner Zeit findet in Snellman einen leidenschaftlichen Deuter:

„Doch drückt der Mensch nicht nur seine Gedanken in Worten aus, er glaubt und fühlt, weiß und will darin, seine Gedanken, sein ganzes vernünftiges Wesen lebt und bewegt sich in der Sprache.“

Wiborg gehörte auch so gesehen der Vergangenheit an, als dass die Stadt immer deutlicher eine Machtstruktur offenbarte, der es an demokratischer Legitimation fehlte. Noch kurz vor dem Ersten Weltkrieg hielten die Schweden, ermöglicht durch ein Zensuswahlrecht, die Mehrheit im Stadtrat inne – an einem Ort, der überwiegend finnisch war.

Dasselbe lukrative Auserwähltsein kannte schon die Hanse. Was hätte Snellman wohl von dem Gerede über die „Neue Hanse“ gehalten? Hätte er einen neuen schwedisch-germanischen Versuch gewittert, sich die Ostsee Untertan zu machen?

Im größeren europäischen Kontext betrachtet erweist sich das vielsprachige Wiborg keineswegs als kuriose Ausnahme. Elias Canetti wurde im bulgarischen Russe an der unteren Donau geboren, und in seinen Memoiren beschreibt er, wie bemitleidenswert ihm die Bauernmädchen vorkamen: konnten sie doch nur Bulgarisch! Auf der Straße bekam man an einem Tag gut sieben oder acht verschiedene Sprachen zu hören. Russe war eine Hafenstadt, in der sich sowohl Griechen, Türken als auch Armenier auf Anhieb heimisch fühlten.

Elias seinerseits gewöhnte sich nie an die Trupps von Roma, die einmal in der Woche mit viel Gepolter auf den Hof fuhren.

Canettis Familie gehörte zu den „Spaniolen“, den sephardischen Juden, und die ersten Kinderreime, die der Junge lernte, waren spanische. Dazu passt, dass seine Amme Rumänin war. „Wiborg’sch“ sind auch die Konstellationen, die uns bei näherer Betrachtung in beispielsweise Vilnius begegnen. Die Vielfalt beginnt schon beim Namen: was für die Litauer Vilnius ist, heißt bei den Polen Wilno, bei den Deutschen Wilna und bei den Weißrussen Wilnja. Doch geprägt haben die Stadt im 19. Jahrhundert vor allem die Juden, hier hatten sie, wie Czesław Miłosz sagt, ihr Jerusalem des Nordens gefunden. Sprachlich war die Gemeinde, allen Snellman’schen Regeln zum Trotz, gespalten: Jiddisch war zwar vorherrschend, aber eine emanzipierte Minderheit sprach bereits Russisch.

Auch dürfen wir nicht vergessen, dass Städte wie Prag, Pilsen oder Ljubljana bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein nicht geringes Kontingent an Deutschen beherbergten (wie Bukarest seltsamerweise Griechen!). Nicht ohne Grund sieht Claudio Magris in seinem Buch Donau in Deutschen und Juden ein Bindeglied von unschätzbarem zivilisatorischen Wert für das zentrale Osteuropa.

Die Habsburger Monarchie förderte die Vielfalt von Nationalitäten und Sprachen. In seinen Proklamationen wandte sich der Kaiser stolz an „meine Völker“, und die Nationalhymne wurde in elf verschiedenen Sprachen gesungen. Hier kommen wir Alexander dem Großen nahe, der mit seiner „unreinen“ Mischung aus Hellenischem und Orientalischem der gesamten Mittelmeerkultur einen neuen und lebhafteren Puls beschert hat.

Als Sammelbecken für Völker und Lebensarten sollte Alexandria nicht nur im Rom der Kaiserzeit, sondern auch am Bosporus wiederauferstehen. Die byzantinischen und osmanischen Imperien waren multinationale Gebilde, die sich, was Rasse anging, elegant an die menschlichen Gegebenheiten anpassten.

In seiner eigentlichen Reinform ist der Nationalstaat eher spät in Erscheinung getreten. Französische Revolution und Napoleonische Kriege befeuerten Patriotismus als volkstümliche Leidenschaft; Herder und andere Theoretiker der Romantik folgten diesem Ruf und verkündeten, nur Sprache und Nationalität stellten die „natürlichen“ Grenzen eines Staates her.

Schiller noch vertrat rigoros den Gedanken eines Deutschtums, das nicht ausschließlich deutsch sein wollte. Doch erwuchs unter Preußens Führung allmählich ein Reichsgedanke, der eben auf nationaler Identität fußte und sich gegen alle leichtfertigen Kreuzungen nach Habsburger Art wandte.

Wer hier bald in Bedrängnis geriet, waren die Juden, das heimatloseste aller Völker. Antwort auf diese neuerliche Herausforderung fand sich im Zionismus: auch die Juden strebten danach, die verlorene Einheit von Blut, Erde und Sprache wiederzuerlangen.

Die Intoleranz gegenüber ethnischen Minderheiten nahm zu, vor allem im 20. Jahrhundert, das sich mit Woodrow Wilson auch politisch zum Nationalitätenprinzip bekannte. Welches Unheil das neue Revierdenken anrichten konnte, zeigt das Beispiel Kemal Atatürks, des Begründers der modernen Türkei. Geboren wurde er in Thessaloniki, einer Stadt, in der Türken, Griechen und Juden seit Langem reibungslos miteinander auskamen, und die deshalb als nützlicher osmanischer Spähposten gen Westen fungierte.

Derselbe Atatürk war als Sieger jedoch in hohem Maße verantwortlich für das Massaker an Griechen und Armeniern in Smyrna (dem heutigen Izmir) im Jahr 1922. Im Kosakenhemd mit weißem Gürtel stand er auf der Terrasse seiner Luxusvilla und sah die Stadt brennen. Nun, sagte er und zeigte auf das Feuer, sei Smyrna frei von Fremden. „Die Türkei den Türken!“

Mit der „Operation Smyrna“ verabschiedete sich Atatürk von einem Reich, bunt und vielfältig wie ein Mosaik. Und er blieb nicht der Einzige, der dem Zusammenleben, wie es am östlichen Mittelmeer bis auf die Antike zurückging, ein Ende bereiten sollte. Als Nasser seinerseits 1957 die letzten Griechen aus Alexandria vertrieb, bediente er sich Methoden, die kurz zuvor die Sudetendeutschen zu spüren bekommen hatten und die heute den Ungarn in Rumänien und den Türken Bulgariens drohen. Ihren grausamen Höhepunkt sollte diese Art ethnischer Säuberung auf bosnischem Boden erreichen, mit Sarajevo als Symbol für ein Europa, das längst vergangen war.

Man muss nicht erst bis Kafkas Prag schauen, um zu verstehen, welch schauriger Aderlass unsere Geisteswelt damit ereilt hat.

Weiter nördlich löschte der Krieg zwischen 1941 und 1944 Wiborg aus, verwandelte es in ein Vineta der Erinnerungen und Träume. Zu diesem Zeitpunkt war der vielsprachige Kern bereits zerfallen, doch blieb noch genug, um dem Ort in der spartanischen „ersten Republik“ eine angenehm extravagante Note zu verleihen.

Heute, in den 1990ern, in denen das Misstrauen gegenüber Fremden und Minderheiten wieder eine große nationale Herausforderung darstellt, brauchen wir die Stadt vielleicht als Erinnerung daran, dass Offenheit und Vielfalt im finnländischen Kontext einst möglich waren. So betrachtet führt der Weg nach Europa erneut über Wiborg.

Das karelische Beispiel ist für das ganze, mit ungelösten Nationalitätenproblemen kämpfende Europa von Interesse. Eine Einwanderungswelle hat seine alten Säulen ins Wanken gebracht und zwingt es, sich mit einer stark erweiterten Vielfalt an Sprachen, Rassen und Religionen anzufreunden.

In Florenz, im Herzen unserer Zivilisation, haben sich über 10.000 Araber und Afrikaner angesiedelt. „Einen arabischen Basar“ nennt ein entrüsteter Bürger die Stadt. Man vermutet, dass bis zur Jahrtausendwende fünf Millionen Menschen aus der Dritten Welt über Italien nach Europa kommen werden.

Wir befinden uns bereits mitten in einer Krise, die sich nicht nach Snellman’schem Rezept lösen lässt. Ausnahmsweise jedoch können wir aus der Geschichte Trost schöpfen: Wiborg, Konstantinopel, Alexandria – sie alle sind Beweise dafür, dass der Mensch erstaunlich flexibel ist, wenn es darum geht, in seinen Alltag auch das zu integrieren, was fremd und gefährlich anders scheint.

1 deutsche Übersetzung: Willi Grigor, 2017

[1994]