Sofi Oksanens "Fegefeuer" in Estland

Translated by Elvira Willems
Also available in English: Sofi Oksanen’s “Purge” in Estonia

In einem Artikel, in dem Jonathan Culler die Theorie der „vorgestellten Gemeinschaften“ von Benedict Anderson, insbesondere die Beziehung zwischen dem modernen Roman und der Nation aufgreift, vertritt er die Ansicht, dass der Roman in der gegenwärtigen Welt als transnationale Form fungiert, die sich an eine internationale, kosmopolitische Leserschaft wendet.1 Insofern ist es möglich, dass die nationale Gemeinschaft der Leserinnen und Leser, die dem Ursprung des Romans am nächsten ist, nicht unbedingt sein bestes Publikum ist.2 Culler führt als Beispiel die kritische Rezeption von Vargas Llosas Der Geschichtenerzähler in Peru an, die dem Autor Quietismus und Ausflüchte vorwarf. Culler argumentiert, dass die Leserinnen und Leser in Peru den Roman vor dem Hintergrund von Vargas Llosas Engagement als Politiker und Autor lesen. Er vertritt die These, eine „geografische Distanz“ vom nationalen Kontext eines Romans sei notwendig, um einen Roman als Roman lesen zu können.

Einen interessanten Testfall für Cullers Argumentation stellt die Rezeption des international erfolgreichen finnischen Romans Fegefeuer (Puhdistus, 2008) von Sofi Oksanen in Estland dar, dem Land, in dem die Romanhandlung spielt. Cullers Erörterung des kosmopolitischen Romans befasst sich zwar mit postkolonialer Literatur, doch auch Literatur über Erinnerung(en) ist ein transnationales Phänomen der zeitgenössischen Literatur, die dem postkolonialen Literaturtyp, den Culler3 diskutiert, ähnlich ist. Beide richten sich an eine internationale Leserschaft, indem sie sich mit weitverbreiteten Phänomenen wie etwa postkolonialen Erfahrungen oder dem Durcharbeiten historischer Traumata befassen, diese aber in einem historisch spezifischen (nationalen) Kontext präsentieren. Weil Fegefeuer sich mit dem traumatischen Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs und der Sowjetherrschaft in Estland befasst, kann der Roman versuchsweise, wenn auch nicht ganz unproblematisch, als Literatur über Erinnerung und Traumata gelesen werden. In meiner Analyse der Rezeption von Fegefeuer in Estland untersuche ich, wie die transnationale Perspektive die Lektüre des Romans im nationalen Kontext beeinflusst und umgekehrt.

Der Roman Fegefeuer, der auf dem gleichnamigen Theaterstück4 der Autorin basiert, erschien im April 2009 in estnischer Übersetzung. Er wurde als quasi-estnischer Roman aufgenommen, zum Teil wegen des estnischen Hintergrunds der Autorin und zum Teil, weil er durch seine beiden Protagonistinnen Aliide und Zara die miteinander verwobenen Geschichten des stalinistischen Terrors in Estland und des Frauenhandels im postsowjetischen Osteuropa erzählt. Zara, eine junge Frau aus Wladiwostok, kommt auf der Flucht vor ihren gewalttätigen Zuhältern nach Estland auf den Bauernhof ihrer Großtante Aliide und erfährt dort mehr über das Leiden, die verbrecherischen Taten und die Kollaboration ihrer Familie während des Zweiten Weltkriegs.

Die estnische Presse berichtete wiederholt vom wachsenden Erfolg des Romans in Finnland und andernorts und feierte diesen, noch bevor der Roman auf Estnisch zu lesen war. Nach der Übersetzung wurde er von der Öffentlichkeit begierig aufgenommen, aber nicht als literarisches Werk rezensiert.5 Der Kulturkritiker Kaarel Tarand behauptet, der Grund für die ausbleibende literarische Kritik und dafür, dass Fegefeuer im öffentlichen Raum in werbenden Artikeln und Interviews, die Oksanen zur Nationalheldin erklärten, einen so breiten Raum einnahm, sei darin zu finden, dass dem Roman bereits große internationale Anerkennung zuteil wurde, bevor er überhaupt nach Estland gelangte.6

Im Herbst 2010, also über ein Jahr nach seiner Veröffentlichung in Estland, wurde Fegefeuer zum Gegenstand einer beispiellosen öffentlichen Debatte über die Frage der Darstellung der estnischen Geschichte in fiktionaler Form.7 Die Debatte wurde mit bemerkenswerter Intensität geführt und nahm weit mehr öffentlichen Raum ein, als literarischen Debatten gewöhnlich zugestanden wird. Ausgelöst wurde die Diskussion durch eine Kolumne der Journalistin Piret Tali in der Tageszeitung Eesti Päevaleht, die fand, Fegefeuer mache aus der Geschichte Estlands „einen modernen Thriller mit kurzen Sätzen à la Dan Brown, übergossen mit einer ekelhaft trendigen Soße aus Gewalt gegen Frauen, Angst und Depression“8. Bei denen, die sich später für Fegefeuer stark machten, provozierte ihr kritischer Ansatz augenblicklich Schmerz und Wut. Dabei scheint der kritische Einwurf weniger eine Reaktion auf den Roman selbst zu sein, als eine Resonanz auf den Beifall, den der Roman dafür erhielt, dass er ein Dokument über die estnische Geschichte sei, der die internationale Leserschaft über die historischen Leiden der Esten aufkläre. Die wesentlichen Kritikpunkte, die sich alle um Fragen der Geschichte drehen, lassen sich auf zwei größere Argumentationslinien aufteilen: Die eine betrifft die im Roman getroffene Wahl der Figuren, die andere befasst sich mit der Darstellung der Geschichte in dem Roman, die zum Teil dieser Wahl geschuldet ist.

Die kritischen Ansätze betrachten Fegefeuer als einen Roman, der Teil der Kulturindustrie ist, die auf Zugänglichkeit, Effekthascherei und Unterhaltung abzielt. Indem er eine entsetzliche Geschichte von Verbrechen und von Menschen zugefügten Leiden werden, erzählt, bedient er sich Elementen des Thrillers und des Melodramas, die ihn zu einer fesselnden Lektüre machen, die Geschichte Estlands dabei jedoch in einen Themenpark verwandeln. In seiner reißerischen Darstellung von Gewalt gegen Frauen in der Zwangsprostitution exotisiert der Roman Elemente des Lokalkolorits und macht Anleihen bei Hollywoodfilmen.9

Ein anderer Aspekt der Auseinandersetzung betrifft die ethnische Stereotypisierung der Charakterdarstellung. Fegefeuer wird in diesem Punkt mit den stalinistischen Romanen der 1940er-1950er Jahre verglichen, die „einen gewissen Reiz hatten; sie erfüllten einige unserer tiefsitzenden psychischen Bedürfnisse, unser Verlangen nach Märchen, nach Geschichten über Helden und Schurken“10. Während in der stalinistischen Literatur den heroischen Sowjetbürgern sadistische Nazis gegenübergestellt wurden, sind die patriotischen Esten in Fegefeuer edel an Körper und Seele, während die Sowjets durchweg schmutzig und böse sind. Mit anderen Worten, die Elemente der Massenkultur in Fegefeuer, der Wunsch des Buches, seine Leserschaft zu unterhalten, und sein populärer Erfolg scheinen es als Roman über historisches Leiden suspekt zu machen, weil die Art der Darstellung die Historie verzerrt.

Sehen wir uns diese Vorwürfe der Verzerrung genauer an, stellen wir fest, dass manche Kritiker behaupten, diese schematische Darstellungsweise präsentiere ein allzu negatives Bild der Sowjetzeit und verteufele diese.11 Versuche, die Sowjetzeit zu rehabilitieren, haben zu dem Vorwurf der Sowjetnostalgie und der Gefühllosigkeit gegenüber dem Leiden der Landsleute sowie des Unvermögens, zwischen den Perioden des stalinistischen Terrors und dem Sozialismus der 1970er und 1980er Jahre zu unterscheiden, geführt.12 Die Ethnologin Ene Kõresaar, die die Debatte um Fegefeuer im Hinblick darauf analysiert hat, wie in der Öffentlichkeit über Erinnerung(en) diskutiert wird, sagt, die widerstreitenden Argumente spiegelten das typische Szenarium der postsowjetischen Erinnerungskultur wieder, in der der Diskurs des Totalitarismus und des Leidens in der stalinistischen Zeit mit angenehmeren Erinnerungen an das Alltagsleben im späten Sozialismus kollidiert.13

Ein weiterer, ernsterer Vorwurf der Verzerrung bezieht sich auf das heikle Thema der sexuellen Gewalt gegen Frauen in der Stalinzeit. Tali, die dies zur Sprache bringt, argumentiert, dass das Thema durch die Darstellungsweise in Fegefeuer eher internationalen Erfahrungen, etwa im Kosovo oder im Kongo, entliehen zu sein scheine als der estnischen Geschichte.14 Das Thema Gewalt gegen Frauen in den späten 1940er Jahren in Estland ist bislang so gut wie gar nicht historisch erforscht worden, und es ist auch kein Topos der estnischen Erinnerungskultur.15 Das bedeutet nicht, dass es solch ein Phänomen in der Stalinzeit nicht gegeben haben kann. Doch Talis Einwand weist darauf hin, dass es einigen Widerstand dagegen gibt, die Möglichkeit von Gewalt gegen Frauen im estnischen Kontext zu akzeptieren.

Viele fiktionale Werke lenken die Aufmerksamkeit auf vergangene Verbrechen, mit denen man sich in der Gegenwart nicht befasst. Trotzdem ist es, glaube ich, bei einem so heiklen Thema wie sexueller Gewalt gegen Frauen problematisch zu behaupten, es habe sexuelle Gewalt gegen Frauen in einem spezifischen historischen Kontext gegeben, insbesondere, wenn sie nicht nur als persönliche Erfahrung der Protagonistin dargestellt wird, sondern als weitverbreitetes Phänomen. Rein Rauds Zusammenfassung des Streits über die Kulturindustrie – „indem sie [Oksanen] die Geschichtsschreibung mit den Klischees verbindet, die westlichen Lesern hinreichend vertraut [...] sind, schlägt sie genau die Töne und Akkorde an, die Voraussetzung sind für einen Megaerfolg“ – lässt sich wahrscheinlich auch auf das Thema sexuelle Gewalt übertragen. Talis Bemerkung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen durchaus ein Topos der transnationalen Erinnerungskultur ist, auf die sich internationale Leser:innen beziehen können.

Dabei ist es durchaus möglich, dass das Problem, das die Kritiker mit der Verallgemeinerung sexueller Gewalt gegen Frauen haben, in erster Linie die vermeintliche Beziehung des Romans zur postsowjetischen Erinnerungspolitik ist – der letzte Aspekt, mit dem ich mich hier in Bezug auf Fegefeuer befassen will. Viele Kritiker haben die Meinung geäußert, dass der Roman in Estland gefeiert wird, weil seine Interpretation der estnischen Geschichte mit der postsowjetischen Erinnerungspolitik in Einklang steht. Diejenigen, deren Unbehagen über die Darstellung der Geschichte dazu führte, dass sie nach Fehlern in historischen Details suchten, waren anfällig für den Einwand, sie hätten Fegefeuer als realistischen Text gelesen. Man könnte argumentieren, da Fegefeuer mit scharf geschnittenen Gegensätzen und Stereotypen arbeitet, müsse es anders gelesen werden. Doch, wie Linda Kaljundi in ihrer Analyse der interessanten Verwendung olfaktorischer Motive und dem Thema Reinheit und Schmutz in Fegefeuer zeigt, ist das Bild der estnischen Geschichte, das aus einer solchen Lektüre erwächst, trotzdem anfällig für politische und moralische Kritik.16

In Estland hat sich die postsowjetische Erinnerungspolitik auf die Themen nationales Leiden und Heldentum konzentriert, die als „dominantes Narrativ und staatlich gefördertes Erinnerungsregime fungieren“17. Die Fixierung auf die Opferrolle hat als Deckerinnerung18 gedient, um Fragen nach dem Holocaust auf estnischem Territorium und nach der Kollaboration von Esten unter der Sowjetherrschaft auszuweichen. Gleichzeitig hat sie im Vielvölkerstaat Estland auch eine ethnopolitische Dimension, insofern als sie die unterschiedlichen Erinnerungen der verschiedenen ethnischen Gruppen ignoriert und ausgrenzt.19 Für Linda Kaljundi stellt Fegefeuer eine machtvolle Wiederholung des Erinnerungsregimes dar, das in den frühen 1990er Jahren etabliert wurde, denn der Roman stellt die estnische Republik der Zwischenkriegszeit als ländliches Paradies dar, den Bauernhof als Symbol für die Nation und die sowjetische Okkupation als einen Bruch. Kaljundi zeigt auf, dass die Zuschreibung von sexueller Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart und von politischem Terror auf Russen beide Phänomene gleichsetzt, die Viktimisierung von Frauen auf die ganze Nation überträgt20 und die Schuld einer ethnischen Gruppe zuweist, die ein Teil des postsowjetischen Estlands ist.

Mein eigener Beitrag zu der Debatte lenkte die Aufmerksamkeit auf die melodramatischen Elemente des Textes, die dadurch, dass sie eine unzweideutige moralische Interpretation der Welt anstreben, eine Welt von Tätern und Opfern konstruieren. Dies gestattet eine nationalistische Lesart des Romans, denn die Rollen sind gemäß ethnischer Zugehörigkeit verteilt.21 Besonders augenfällig wird das melodramatische Element in dem erlösenden Ende des Romans, wo die Protagonistin Aliide, der einzige ambivalente Charakter, ihre Moralvorstellung offenbart, indem sie ihre Großnichte Zara in letzter Sekunde rettet.22 Ihr Akt (selbst)aufopfernder Gewalt zielt jedoch nicht nur darauf ab, das Mädchen retten, sondern auch, die soziale Ordnung wieder herzustellen, die in dem Roman in ethnopolitischen Begriffen präsentiert wird.23

Wie Miriam Bratu Hansen herausarbeitet, erinnert die Reaktion auf Fegefeuer in Estland an die Rezeption von Steven Spielbergs Holocaustfilm Schindlers Liste (1993) in den USA.24 Ähnlich wie Spielbergs Film beschäftigt sich Fegefeuer mit kollektiv relevanten historischen Traumata – der Massendeportation von Esten im Jahr 1949 und der Niederschlagung des Guerilla-Widerstands der Waldbrüder durch das Sowjetregime in den späten 1940er und 1950er Jahren. In beiden Fällen ist die Rezeption geprägt von Misstrauen gegenüber dem Publikumserfolg der Werke und von der Vorstellung, es gebe einen Konflikt zwischen den Darstellungsweisen und der Thematik. Während die Polemik gegen Schindlers Liste auf einem Vergleich mit dem Film Shoah (1985) von Claude Lanzmann als eines exemplarischen Versuchs der Darstellung des Genozids beruhte, wurde Fegefeuer negativ verglichen mit den Romanen der estnischen Schriftstellerin Ene Mihkelson, die den stalinistischen Terror in sehr experimenteller Form behandeln und den Konflikt zwischen der individuellen Erinnerung und der postsowjetischen Erinnerungspolitik schildern, statt das historische Trauma im Namen nationaler Identität noch einmal durchzuarbeiten.25

In ihrer aufschlussreichen Analyse der Rezeption von Schindlers Liste argumentiert Miriam Bratu Hansen, dass der Film zum einen bedeutsam ist wegen seiner „diagnostischen Signifikanz“ für das öffentliche Gedenken an den Holocaust in der amerikanischen Kultur, aber auch hinsichtlich des Funktionierens von öffentlicher Erinnerung ganz allgemein.26 Sie zeigt auf, dass die unumwundene Ablehnung des Films seinen Aussagewert überschattet und die Diskussion von seinem Inhalt ablenkt.

Vor dem Hintergrund von Hansens Analyse kann man Fegefeuer einen Aussagewert auf mehreren Ebenen bescheinigen. Erstens rückte die Debatte über Fegefeuer ins Blickfeld, dass es im postsowjetischen Estland große Unterschiede in der Interpretation des Zweiten Weltkriegs und seiner Nachwirkungen gibt, und zwar nicht nur zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppierungen im Land, sondern auch innerhalb der estnischen Gemeinschaft selbst, insbesondere in Hinblick auf die Frage, ob die Erinnerungen ethnischer Minderheiten einen Platz in der kollektiven Erinnerung Estlands haben.

Der zweite Aspekt betrifft die Natur des kollektiven Gedenkens und die Rolle der Literatur als dessen Medium. Michael Rothberg hat vorgebracht, dass kollektive Erinnerung kein „Nullsummenspiel im Kampf um Überlegenheit“ ist, sondern vielmehr multidirektional ist und durch interkulturelle Querverbindungen zwischen unterschiedlichen Erinnerungen neue Formen der Solidarität schafft.27 Demzufolge kann sich die Sorge der Kritiker des Romans, Fegefeuer könnte politische Wirkung erzielen, indem der Roman ein hegemoniales Bild der Vergangenheit etabliere, aus zwei Gründen als übertrieben erweisen. Erstens schließt eine Erinnerung, wenn wir mit Rothberg argumentieren, andere Erinnerungen nicht notwendigerweise aus. Zweitens – und das bringt uns zurück zu Cullers Argument, das zu Beginn dieses Beitrags diskutiert wurde – werden Romane nicht nur als politische Statements gelesen. Die Kritiker von Fegefeuer sind in dieselbe Falle getappt wie die Publizisten des Romans, insofern sie Fegefeuer als historischen Bericht gelesen und besprochen haben. Was dabei in den Hintergrund gedrängt wird, ist die Tatsache, dass Fegefeuer womöglich kein Roman über historisches nationales Leiden ist – oder zumindest als solcher transnational nicht funktioniert –, sondern eine sehr meisterlich ausgeführte, beklemmende Geschichte über die Ängste von Frauen.28 Statt den Roman aus ideologischen Gründen abzulehnen, die nur im nationalen Kontext relevant sind, sollten wir seine Sprachgewalt und den Versuch der Autorin, sexuelle Gewalt und andere politisch relevante Themen in der Literatur darzustellen, genauer analysieren.29 Wie Culler zeigt, erlaubt die geografische Distanz oder eine transnationale Perspektive den Leserinnen und Lesern vielleicht, den Roman als Kunstwerk zu lesen und darin mehr zu finden statt weniger.

Schließlich ist Fegefeuer ein Beleg dafür, dass Literatur als Medium kollektiven Gedenkens ein Phänomen der Rezeption30 ist und dass der Publikumserfolg eine Voraussetzung dafür ist, transnationale Aufmerksamkeit auf Themen historischer Ungerechtigkeit zu lenken, besonders in marginalen historischen Kontexten. Die nationale Perspektive auf Fegefeuer untermauert die Erkenntnis, dass historische Genauigkeit dabei leicht in Gefahr gerät. Wie wir mit Genauigkeit in der Erinnerung an historische Ungerechtigkeiten und historisches Leiden in der Öffentlichkeit und in der Literatur umgehen ist eine Frage, die noch zu diskutieren sein wird.

Anmerkungen

1. Die Recherchen für diesen Artikel wurden durch ein Forschungsstipendium (Nr. 8530) der Europäischen Wissenschaftsstiftung gefördert.
2. Jonathan Culler, “Anderson and the Novel”, in Diacritics 29, (1999), S. 33.
3. Culler diskutiert eine Form der postkolonialen Literatur, in der, mit Timothy Brennans Worten, “die gegensätzlichen Topoi von Exil und Nation zu einem Lamento über das notwendige und bedauerliche Beharren auf Nationenbildung miteinander verschmolzen werden, in dem der Autor seine Zusammengehörigkeit zu einem Land erklärt, dessen Künstlichkeit und Exklusivität ihn in eine Art von Exil getrieben haben – eine Bestätigung seiner nationalen Identität und gleichzeitig eine Entfremdung davon”. Siehe Culler, S. 33; Timothy Brennan, “The National Longing for Form”, in Homi K. Bhabha (Hg.), Nation and Narration, London 1990, S. 63.
4. Fegefeuer feierte 2007 Premiere im Finnischen Nationaltheater.
5. Oksanen wurde 2009 von der führenden estnischen Tageszeitung Postimees zur Person des Jahres gekürt. Der Roman stand 2009 ganz oben auf der Weihnachtswunschliste des damaligen estnischen Ministerpräsidenten Andrus Ansip. Siehe “Ansip tahab jõuluvanalt Oksaneni raamatut” [Ansip wünscht sich das Buch von Oksanen vom Weihnachtsmann], in Postimees, 22.12.2009, abgerufen am 15.11.2011, http://www.postimees.ee/204103/ansip-tahab-jouluvanalt-oksaneni-raamatut/. 2010 verlieh der estnische Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves den Orden des Marienland-Kreuzes für außerordentliche Verdienste um die Republik Estland an Sofi Oksanen. Die erste Rezension von Fegefeuer, von Kaarel Tarand, wurde sechs Monate nach dem Erscheinen des Romans in Estland veröffentlicht. Kaarel Tarand, “Tuumapommiks kujutletud meelelahutus” [Unterhaltung, in eine Atombombe hineinfantasiert], in Sirp, 18.12.2009, S. 8.
6. Ebenda. 2008 erhielt Fegefeuer den Finlandia-Preis, 2009 den Runeberg-Preis und 2010 den Literaturpreis des Nordischen Rates sowie in Frankreich den Prix Femina étranger und den Prix du roman Fnac.
7. Losgetreten wurde die Debatte unter anderem durch die Premiere des Theaterstückes im Theater Vanemuine in Tartu, Estland im September 2010.
8. Die ersten Kritiken wurden tatsächlich von dem renommierten estnischen Schriftsteller Jaan Kaplinski in seinem Blogbeitrag „Sofi Oksanen und der stalinistische Preis“ geäußert, die negativen Reaktionen auf seinen Beitrag erregten dann größere Aufmerksamkeit. Siehe Piret Tali, “Kogu tõde Sofi O-st” [Alles über Sofi O.], in Eesti Päevaleht, 04.10.2010, S. 3; Jaan Kaplinski, “Sofi Oksanen und der stalinistische Preis”, in Ummamuudu, 24.08.2010, abgerufen am 15.11.2011.
9. Zu Unterhaltung und Verbrechen siehe Tarand, S. 8; zum Melodram siehe Eneken Laanes, “Trauma ja popkultuur: Sofi Oksaneni Puhastus” [Trauma und Massenkultur: Sofi Oksanens Fegefeuer], in Vikerkaar, Nr. 12 (2010), S. 52-65; zum Exotismus siehe Linda Kaljundi, “‘Puhastus’ ja rahvusliku ajalookirjutuse comeback” [Fegefeuer und das Wiedererwachen der Nationalgeschichtsschreibung], in Vikerkaar, Nr. 12 (2010), S. 36-51; zur Darstellung sexueller Gewalt siehe Tali, S. 3, und Laanes, S. 62-64.
10. Kaplinski. Zu ähnlichen Argumenten siehe Rein Raud, “Teised meist: stampide keeles ajalugu” [Andere über uns: Geschichte in der Sprache von Klischees], in Eesti Päevaleht, 05.11.2010, S. 3; Rein Veidemann, “Oksaneni kuvand eestlastest on vastuoluline” [Oksanens Bild von Estland ist widersprüchlich], in Eesti Päevaleht, 01.11.2010, S. 3.
11. Kaplinski; Tali, S. 3.
12. Mihhail Lotman, “Sofi Oksanen ja nõukanostalgia” [Sofi Oksanen und Nostalgie nach der Sowjetunion], in Eesti Päevaleht, 18.10.2010, S. 3.
13. Ene Kõresaar, “Ajakirjanduse “mälutöö” ja mis on Sofil sellega pistmist” [Die Rolle der Presse in der Erinnerungsarbeit und was Sofi damit zu tun hat], in Postimees, 06.11.2010, S. 6-7.
14. Tali, S. 3.
15. Die erste Autorin die sich, wenn auch indirekt, mit dem Thema befasste, war Imbi Paju in ihrem Dokumentarfilm Memories Denied (2005) und in ihrem Buch mit demselben Titel (2009).
16. Kaljundi, S. 46.
17. Eva-Clarita Onken, “The Baltic States and Moscow’s 9 May Commemoration: Analysing Memory Politics in Europe”, in Europe-Asia Studies 59, (2007), S. 31.
18. Zur Diskussion des Konzepts der Deckerinnerung siehe Michael Rothberg, Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Palo Alto 2009, S. 12-16.
19. Onken, S. 37.
20. Kaljundi, S. 46. Zu einer Lesart der Art und Weise, in der „die Geschichte einer Ära, eines Staates, einer Familie und einer Frau [...] zu einem Strick geflochten werden”, siehe Mari Klein, “‘Puhastus’ on väga mitmetasandiline lugu” [Fegefeuer ist eine vielschichtige Geschichte], in Eesti Päevaleht, 16.01.2009, S. 12.
21. Laanes, S. 59-62. Mein Verständnis des Melodramas schulde ich Linda Williams und Peter Brooks. Siehe Linda Williams, “Melodrama Revised”, in Nick Browne (Hg.), Refiguring Film Genres: History and Theory, Berkeley 1998, S. 42-88; Peter Brooks, The Melodramatic Imagination: Balzac, Henry James, Melodrama and the Mode of Excess, New Haven 1995.
22. Zu einer anderen Lesart des Endes von Fegefeuer siehe Markku Lehtimäki, “Sofistikoitunut kertomus ja lukemisen etiikka” [Komplexes Schreiben und die Ethik des Lesens], in Avain, Nr. 2 (2010), S. 40-49. Auch für Lehtimäki rehabilitiert die Schlussszene Aliide, doch statt melodramatisch zu sein, macht sie Fegefeuer zu einem moralisch ambivalenten Roman. Er vergleicht Aliides Dilemma, dass sie Zara rettet, indem sie russische Zuhälter umbringt, mit Sethes Dilemma in Toni Morrisons Menschenkind, die ihr Kind tötet, um es vor der Sklaverei zu bewahren. Ich finde diesen Vergleich nicht passend, denn Sethe tötet ihr eigenes Kind, um es vor der Sklaverei zu retten, während Aliide eine dritte Partei tötet, um Zara zu retten und ihre eigenen vergangenen Taten zu tilgen, wie Lehtimäki behauptet.
23. Zara kommt als russisches Mädchen zu Aliide, doch Aliide beschließt, sie zu retten, weil sie das Kinn ihres estnischen Großvaters Hans hat. Bevor sie sich selbst umbringt, denkt, Aliide, “Wenn das Mädchen durchkäme, würde es Ingel erzählen, dass hier das vor langer Zeit verlorene Land wartete. Ingel und Linda würden die estnische Staatsangehörigkeit bekommen [...] Auch das Mädchen würde als Nachkomme von Ingel und Linda einen estnischen Pass bekommen. Es würde nie wieder nach Russland zurückzukehren brauchen.” (Sofi Oksanen, Fegefeuer. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. München 3. Auflage 2012, S. 358). – Die ursprüngliche soziale Ordnung wird dadurch wieder hergestellt, dass die Sündenböcke — die russischen Zuhälter — eliminiert werden und Zara, die ihrer Gemeinschaft zu Unrecht entrissen worden war, wieder in ihr Umfeld zurückgebracht wird. René Girard bin ich zu Dank verpflichtet für mein Verständnis von Opfer und Gewalt: siehe René Girard, “Violence and Representation in the Mythical Text”, in To Double Business Bound: Essays on Literature, Mimesis, and Anthropology, Baltimore 1978, S. 185.
24. Miriam Bratu Hansen, “Schindler’s List Is Not Shoah. Second Commandment, Popular Modernism, and Public Memory”, in Yosefa Loshitzky (Hg.), Spielberg’s Holocaust: Critical Perspectives on Schindler’s List, Bloomington 1997, S. 77-103.
25. Ene Mihkelsons Romane über den stalinistischen Terror sind Ahasveeruse uni [Der Schlaf Ahasvers ] (2001) und Katkuhaud [Das Pestgrab] (2007). zu einem nicht antagonistischen Vergleich zwischen Oksanen und Mihkelson, siehe Sirje Olesk, “Two Ways to Write About Estonian History”, in Estonian Literary Magazine Nr. 1 (2011), S. 4-11.
26. Hansen, S. 94.
27. Michael Rothberg, S. 3, S. 5. Dazu ist anzumerken, dass Rothbergs Ansatz sich mit der Beziehung der verschiedenen Geschichten der Viktimisierung befasst, während in der Auseinandersetzung um Fegefeuer die unterschiedlichen Arten einer einzigen ethnischen Gruppe, sich an die Vergangenheit zu erinnern, miteinander rivalisieren.
28. Das letzte Argument wurde von Tiina Kirss vorgebracht. Siehe Tiina Kirss, “Sofi O. ja tema raamat” [Sofi O. und ihr Buch], in Eesti Päevaleht, 20.10.2010, S. 3.
29. Hansen analysiert die Rolle des Tons in der visuellen Produktion von Schindlers Liste. Siehe Hansen, S. 85-94.
30. Astrid Erll, Memory in Culture, Basingstoke 2011, S. 160. Mit Bezug auf Schindlers Liste argumentiert Hansen auch, dass die vorherrschenden Medien der öffentlichen Erinnerung die Massenmedien sind. Siehe Hansen, a.a.O., S. 98.