Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz

Erstes Kapitel

1
Jakob Michael Reinhold Lenz wird in ein geknechtetes und von Kriegen verwüstetes Land hineingeboren. Das an der nördlichen Ostsee und am Finnischen Meerbusen gelegene Baltikum, Lettland und Estland, Lenzens Heimat, damals Livland genannt, ist seit Jahrhunderten Streitplatz großer Mächte, der Schweden, der Deutschen, der Polen und Russen. Eroberung und Rückeroberung, Belagerung; Krieg, immer wieder Krieg. Am Beginn des achtzehnten Jahrhunderts werden dem Land die schwersten Wunden zugefügt. Der Nordische Krieg tobt. In Schutt und Asche fällt alles, selbst die Zeugnisse der Renaissance und Ordensgotik, die in den vorherigen Kriegen verschont blieben. 1702 schreibt der russische Feldherr Scheremetew stolz über die Pflichterfüllung an seinen Zaren Peter I.: »Ich habe Dir zu melden, daß der allmächtige Gott und die allerheiligste Gottesmutter Deinen Wunsch erfüllt haben; in dem feindlichen Lande gibt es nichts mehr zu verheeren; von Paskow bis Dorpat, die Welikaja herab, die Ufer des Peipus entlang, bis an die Mündung der Narwe bei Dorpat, hinter Dorpat, über Lais bis Reval, fünfzig Werst weit gegen Wesenberg und wieder von Dorpat den Embach aufwärts zum Felliner See, gegen Helmet und Karkus und hinter Karkus bis auf achtunddreißig Werst gegen Pernau und von Riga bis Walk: alles ist verwüstet. Alle Schlösser niedergelegt. Nichts steht aufrecht außer Pernau und Reval … sonst ist von Reval bis Riga alles mit Stumpf und Stiel ausgerottet: die Orte stehen nur noch auf der Karte verzeichnet … an Deutsche habe ich hundertvierzig gefangen; wieviel Esthen, weiß ich nicht zu sagen; die Kosaken haben dieses Geschäft unter sich betrieben; ich habe ihnen die Gefangenen nicht nehmen mögen, um ihren Eifer nicht abzukühlen … Vieh und Esthen haben wir in Menge gefangen. Kühe sind jetzt um drei Altznen zu haben, Schafe um zwei Dengen, kleine Kinder um eine Denge, größere um eine Griwa, vier Stück kauft man für eine Altzne.«

In der Buchführung des Feldherrn Scheremetew findet sich auch ein säuberliches Verzeichnis all der Ortschaften, die er niedergebrannt und vernichtet hat. Das lettische Dorf Casvaine ist darunter.

Kaum fünfzig Jahre, ein Menschenalter danach wird Jakob Michael Reinhold Lenz dort am 23. Januar 1751 geboren. Elend, Fremdherrschaft und Ausbeutung, Hungersnöte und Pest, Brände und Überschwemmungen – das sind die großen erschreckenden Bilder von Lenzens Kindheit und Jugend. Die Gedichte des Fünfzehnjährigen werden davon sprechen. Zugleich ist die Nachkriegszeit eine Zeit des Aufbruchs und der Wiederbelebung, der regen Bautätigkeit und landwirtschaftlichen Sanierung. Das Land versucht, sich aus der Lethargie zu befreien. Das erstarkende Rußland, unter dessen Herrschaft Livland nun als eine Provinz des zaristischen Reiches lebt, schenkt vor allem nach dem Machtantritt Katharinas diesem Landesteil große Aufmerksamkeit.

Der Geburtsort von Lenz liegt im Gebiet Wenden, das eine Landfläche von 1750 Haaken umfaßt und 227 Güter und 29 Kirchspiele hat. Das Dorf Casvaine ist eines der größten Kirchspiele. Armselig dennoch, vom Krieg gezeichnet. Die Ruine einer alten Lettenburg, eines erzbischöflichen Schlosses später, erhebt sich in der Nähe. Im Dorf selbst die Katen, die Holzhäuser der Letten, gedeckt mit Holzschindeln oder Schilf. Die Stallungen, Scheuern, Kleeten, Badstuben und Eiskeller. Das Pfarrhaus bescheiden, nur ein wenig größer als die Bauernkaten, mit mehreren Räumen und Nebengebäuden. Die kleine, wieder errichtete Holzkirche auf einer Anhöhe. Das einzige Gebäude aus Stein ist das zum Gut Karstenbehn gehörende Haus. Andere Gutshäuser sind weiter weg, vereinzelte Gehöfte, verstreut in der Umgebung liegend. Цасвание nennen die Russen das Dorf, die Deutschen sagen Seßwegen. Und die Deutschen sind die herrschende Schicht. Von ihnen werden die Güter verwaltet, und die Besitzer sind fast ausschließlich Deutsche. Armer deutscher Landadel, der von der Ausbeutung eines fremden Volkes lebt. »Undeutsche« nennen die Gutsbesitzer anmaßend die, denen das Land eigentlich gehört. Auch die Pfarrer sprechen von »Undeutschen«, denn auch sie sind zumeist Eingewanderte aus Norddeutschland. So auch der Pastor des lettischen Dorfes Casvaine. Es ist Christian David Lenz, Lenzens Vater.

Der 12. Januar 1751 nach dem alten russischen Kalender, der 23. nach dem neuen, der Tag der Geburt. Unruhe, Aufregung im Pfarrhaus. Die kleinen Geschwister in einem Raum gebannt. In der großen Stube die Vorgänge. Die Mutter Dorothea Lenz ist dreißig Jahre. Ihr viertes Kind ist es. Mehrere Tage später, an einem Sonntag, ist die Taufe. Wir sehen den kleinen Zug, der sich vom Pfarrhaus zur Kirche bewegt, Vater Lenz, der Pastor, die Mutter mit dem Kind. Die Großeltern mütterlicherseits, Marie Neoknapp und ihr Mann, Pastor in Neuhaus. Die Taufpaten, von Lenzens Vater in das Kirchenbuch eingetragen: »ein Herr Regierungschirurgus Harlebusch, der den Taufpaten Pfarrer Jakob Andreas Zimmerman vertritt und zugleich selbst Pate ist, ein Herr Obristleutenant H. Otto Reinhold von Igelströhm, Erbherr von Selbou und Kronenhof, eine Frau Baronin Catharine, Witwe von Tiefenhausen, geborene von Berg auf Gravendahl und Fräulein Helene von Berg, des Landraths von Berg auf Erlaa Fräulein Tochter, deren Stelle die Fräulein Helene von Tiefenhausen, der verwittweten Frau Baronin von Tiefenhausen älteste Tochter vertritt«.

Pastor Lenz gibt seinem Sohn den Namen Jakob Michael Reinhold (Jacob Michael Reinhold steht im Kirchenbuch) und spricht den Segen: »Heiland, bewahre dem Knaben, was Du ihm in der Taufe geschenkt hast und so ers verliert, so suche ihn wieder, und halte ihn zu Deinen Kindern und Knechten; fange Dein Gnadenwerk in seiner Seele kräftig an und führe es fort bis zum Ende seiner Wallfahrt um Deines blutigen Verdienstes willen! Amen.«

Man verläßt die kleine Dorfkirche, geht ins Pfarrhaus hinüber, sitzt noch zusammen, feiert. Ein Baron, eine Baronin, ein adliges Fräulein, ein Regierungschirurgus. Pastor Lenz allein stammt aus ganz einfachen Verhältnissen. Kupferschmied ist sein Vater, er hat eine bescheidene Werkstatt in Köslin in Pommern. Dort ist Christian David Lenz am 26. Dezember 1720 zur Welt gekommen und aufgewachsen. Er wird nicht der Erstgeborene gewesen sein, die Kupferschmiede kann nur einer übernehmen. Und so schickt der Vater den Sohn Christian David, als er fünfzehn Jahre ist, von zu Hause weg. Dem Lehrer oder dem Pfarrer ist er vielleicht aufgefallen, ein heller Kopf, Theologie sollte er studieren; nach Halle, ins Preußische also, geht er. Dort an der Alma mater schlägt er sich fünf Jahre lang ohne finanzielle Hilfe der Eltern durch. An der Franckeschen Stiftung, dem Waisenhaus, gibt er Nachhilfestunden, macht Kopierarbeiten und anderes, um Freitisch und Schlafstelle zu haben. Mit zwanzig Jahren, 1740, beendet er das Studium und geht zurück nach Köslin. In Pommern wie in Deutschland sind die Pfarrstellen knapp, und Empfehlungsschreiben und Unterstützung von Gönnern hat der Sohn des Kupferschmiedes offenbar nicht. So wandert er aus, nach Osten ins Baltikum. Über die Hälfte aller Pastorate in Livland sind damals mit deutschen Theologen besetzt. Christian David Lenz fängt als Hofmeister bei einer Familie in Öttingen in der Nähe von Wenden, der größten Stadt des gleichnamigen Gebietes, an; andere Quellen sprechen von Baron Liphardt in Nötkenhof im Serbischen Kirchspiel. In jener Hofmeisterzeit jedenfalls lernt Jakobs Vater die lettische und estnische Sprache, tritt aus dem deutschen Untertanenverband aus, legt sein Examen im Livländischen General-Konsistorium ab und wird ordiniert. 1742 erhält er eine Pfarre in Serben. Dort muß er auch Jakobs Mutter begegnet sein. Dorothea Neoknapp, Tochter eines Pfarrers. Neoknapp, der das Pastorat in Neuhaus innehat, ist auch Deutscher, aber eine Generation vor Jakobs Vater ins Baltikum eingewandert. Dorothea ist schon in Livland geboren. 1744 heiratet sie Christian David Lenz. Er ist vierundzwanzig, sie dreiundzwanzig Jahre. Im folgenden Jahr kommt das erste Kind, dann 1747 das zweite, im Jahr darauf das dritte. 1749 zieht die Familie Lenz um. Eine Pfarrstelle ist frei geworden im Kirchspiel Casvaine, ebendort, wo Jakob Lenz zur Welt kommt, wo an einem Januartag 1751 im Pfarrhaus die Taufgesellschaft zusammensitzt. Herr und Frau Pastor Lenz mit den Baronen und Erbherren von den umliegenden Gütern.

Ungewöhnlich ist die Runde nicht. Ein Dorfpfarrer in Livland, aus welch ärmlichen Kreisen er immer stammt, ist gesellschaftlich und sozial dem Landadel etwa gleichgestellt. Zu einem Pastorat gehören, neben Pfarrhaus und Garten, Land und Leibeigene oder dienstverpflichtete Bauern. Das Land erhält der Pfarrer zudem steuerfrei, was ihm dem ärmeren Adel gegenüber sogar manchen finanziellen Vorteil bringt. Ein Dorfpfarrer in Livland ist also der Besitzer eines mittelgroßen, schuldenfreien und unbelasteten Landgutes. Sein Anwesen gilt zugleich als Besoldung, andere Einnahmen hat er nicht; es sei denn durch Publikationen oder Nebenarbeiten.

Die Hinwendung der Pastorenfamilie Lenz zum Landadel der Umgebung hat aber möglicherweise auch persönliche Motive. Jakobs Großmutter, die Mutter von Dorothea Neoknapp, ist eine Adlige, ein Fräulein Marie von Rhaden. Neoknapp, der Bürgerliche, wird ihr Hofmeister gewesen sein. Sie lieben sich, sie erwartet ein Kind. Die »Verführungsgeschichte« endet mit der Heirat, mit einer Mesalliance zwischen Bürgerlichem und Adliger, eine für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Sache. Skandal, Empörung, Klatsch – und nun, nach so vielen Jahren, eine geheime Überlegenheit bei Dorothea Lenz, ein sich Dazugehörigfühlen. Wir können es nur ahnen, die Familie bewahrt Schweigen.

Jakob, der Sohn, der Enkel der adligen Dame, wird in seinem Drama »Der Hofmeister« sprechen. Sein Hofmeister wird davongejagt, so wie es üblich war, und in widerlicher Doppelmoral endet die Tragikomödie. Die Familie Lenz und die mit ihnen befreundeten Adligen werden das dem Dichter nie verzeihen. Mit Empörung und Befremden spricht man darüber, daß er sich angemaßt hat, eine intime Geschichte öffentlich auszustellen.

An jenem Taufsonntag im Januar 1751 ahnt keiner der Anwesenden, daß mit Jakob einer heranwächst, der die Stumpfheit und bornierte Intoleranz ihrer Weltsicht und Lebensweise gnadenlos zur Schau stellen wird. Noch ist nichts Absicht und Gestalt. Wünsche für den Neugeborenen lediglich, ausgesprochene oder geheime. Und je nachdem, wie sich das Fest wendet, mit Selbstgebranntem zur Ausgelassenheit, zum Überlauten, oder zur religiösen Einkehr, Nachsinnen über den Taufspruch: »Heiland, bewahre dem Knaben … fange Dein Gnadenwerk in seiner Seele kräftig an und führe es fort bis zum Ende seiner Wallfahrt um Deines blutigen Verdienstes willen!«

Jakob Michael Reinhold Lenz wächst heran.

Schon im nächsten Jahr liegt ein anderer in der Wiege, sein Bruder Johann Christian. Jakob lernt laufen, er lernt sprechen. Zwei Jahre ist er. Drei. Der Vierjährige. Fünf wird er. Kein Schattenriß der Familie des Pastors Lenz existiert, kein Bild, auf dem man sie sehen könnte, Vater, Mutter und die Kinder. Vor dem Pfarrhaus aufgestellt vielleicht, in Sonntagstracht, 1757, eben in dem Jahr, als Jakob sechs wird. Der Vater im Talar mit überernster Miene, ein Fanatisierter, der er gewesen sein muß. Einer, der seine enge Lebenssicht unverrückbar zum Wort Gottes verklärt, hart und borniert. Die Mutter daneben, mit sechsunddreißig wirkt sie schon alt, ergeben, ohne Widerspruch, aber vielleicht ist sie mild, gütig. Den einjährigen Karl Heinrich Gottlob trägt sie auf dem Arm. Die anderen Kinder rechts und links von den Eltern. Der Älteste, der zwölfjährige Friedrich David, er kommt wohl nach dem Vater. Dann die beiden Schwestern, die zehnjährige Dorothea Charlotte, die neunjährige Elisabeth. Der fünfjährige Johann Christian. Und Jakob Michael Reinhold. Blond, schmal, feingliedrig, so wie er später beschrieben werden wird. Mit großen Augen. Die Haare kindlich lang oder schon hinten zusammengebunden. Die dünnen Beine in dunklen Wollstrümpfen, die Füße in Schnürschuhe gesteckt, viel zu groß, abgelegt vom Bruder wahrscheinlich. Die Kleidung der Kinder eine seltsam steife Nachahmung der der Erwachsenen.

Vorstellung. Möglichkeit. Die Kindheit Jakob Lenzens in dem lettischen Dorf Casvaine ist durch keinerlei direkte Zeugnisse belegt. Weder eine Äußerung von ihm selbst noch eine Äußerung von anderen gibt es.

2
Umrisse, in denen wir ihn sehen. Die Landschaft seiner Kindheit: Wiesen und nicht endende Wälder um das Dorf Casvaine. Hügelland, sanft und weit. Ein breites Tal jenseits des Dorfes. Felder, Brachland. Flächigkeit, Ebene. Der Himmel darüber groß, endlos weit der Bogen des Horizontes. Im Sommer die Farbschattierungen, schließlich beherrschend das satte Gelb der Ähren. Bei Dürre der Anblick kahlgefressener Roggenschläge. In der Nähe fischreiche Seen, Moraste. Ein kurzer Sommer mit hellen, einer bloßen Dämmerung gleichenden Nächten. Nordlicht und Wetterleuchten, das man »Mehlthau« nennt, an warmen Abenden ist es eine fast tägliche Erscheinung. Über den Morasten Nebel, der sich wie Rauch erhebt, langsam fortrückt und weit ausbreitet. Im Herbst Regen, Nordwind, Stürme. Die Vogelschwärme am Himmel, die Dohlen und Krähen. Und der Winter ist die beherrschende Jahreszeit. Er dauert sechs Monate.

Livland – das Land des Nordens. Waräger, Wilder, Nordländer, Sohn des rauhen Nordens wird sich Jakob Lenz später nennen, wird vom »braunen Himmel« Livlands sprechen. Winter ist von Ende Oktober bis Mitte April. Die Gewässer frieren zu. Der Schnee liegt hoch. Aber der Winter bedeutet nicht Erstarrung, nicht Ruhe, im Gegenteil, im Winter beginnt das Leben. Es ist die Zeit des Reisens, des Holzeinschlages und der Jahrmärkte. Der Schlitten ist ein schnelles Fortbewegungsmittel, und die zugefrorenen Gewässer und Moraste machen Abkürzungen möglich. Im Frühjahr werden die Wege unsicher, das Überqueren der Seen ist gefährlich. Eisgang setzt ein, die Schneeschmelze beginnt, und die Flüsse treten über die Ufer. Das Frühjahr, das oft lange auf sich warten läßt, ist die Zeit der Einsamkeit. Die Wege sind aufgeweicht oder überschwemmt, einzelne Gehöfte und ganze Dörfer sind von der Umwelt abgeschnitten. Der Vorfrühling in Livland mit seiner eigenartigen Landschaft voller Wasserfläche, schwärzlich-weiß.

Die Jahreszeiten bestimmen den Lebensrhythmus des Dorfes. Frühling, Sommer, Herbst und Winter, die Wiederholung der gleichen Arbeitsgänge. Im Frühjahr, sobald die Erde auftaut und das Schmelzwasser abfließen kann, wird gepflügt, Holz gesägt, Häuser werden gebaut und Zäune ausgebessert. Im Mai ist die Aussaat, die Mistfuhre und der Umbruch des Brachackers. Im Wald werden die Kohlen für die Schmiede gebrannt. Im Juni ist Heuernte, Tage und Nächte verbringen die Bauern auf den oft weit entfernten Wiesen, bis die Saden, jene kegelförmigen Haufen, oder die großen Kujen, hoch und spitz, aus zehn bis zwanzig Saden bestehend, auf der Wiese sind. Im Juli werden bei Niedrigwasser die Dämme bei den Mühlen ausgebessert. Im folgenden Monat beginnt die Kornernte. In langen formlosen Reihen, den Rauken oder Skirden, stehen Roggen und Hafer auf den Feldern, die Gerste auf kleinen Lattengerüsten. Dann die Einfuhr der Ernte. Die Fuder werden in die Riegen gebracht, später in Kleeten, Kornmagazine, weit abgelegen von den Gehöften, ein Teil nahebei in Handkleeten. Arbeiten im Spätherbst und Winter sind das Dreschen, das Bierbrauen, Mälzen, der Branntweinbrand, das Flachsen, Spinnen, die Leinwandherstellung, die Holzfuhre. Auf den zugefrorenen Seen wird das Schilf gemäht für die Dächer der Bauernhäuser, und das Eis wird gehackt und in die Keller gefüllt. Vorfrühling, Frühling, der Eisgang setzt ein, der Lebensrhythmus des Dorfes beginnt von neuem.

Lettische Leibeigene verrichten diese Arbeiten, Knechte, Mägde, Feldwächter, Bauern, Achtler, Halbhäkner, Viertler und sogenannte Lostreiber oder Landläufer, russische, estnische und lettische Gelegenheitsarbeiter. Die Lage der Leibeigenen in Livland ist schrecklich, schlimmer als in Rußland, von Deutschland zu schweigen. Selbst die Zarin Katharina muß in einem Ukas von 1765 zugeben, daß sie »wahrgenommen in wie großen Bedruk der Bauer in Liefland lebe«, sie spricht von »tyrannischer Härte« und »ausschweifenden despotisimo«. Der Bauer werde entweder »aufgerieben oder verjagt«, die »dritte Bedrückung« des Bauern sei »der Excess in der Bestrafung. Dieser ist so enorm, daß das Geschrey davon zu meinem empfindlichen Kummer bis an den Thron gedrungen«.

Was sieht ein Kind, das seine ersten acht Lebensjahre auf dem Dorf verbringt, von alle dem? Jakob Lenz muß Augen und Ohren dafür gehabt haben; er sieht, sieht hin, hört. Sein späteres soziales Gespür spricht dafür.

Dem Knaben Jakob begegnen sie, die Letten, bettelarm und halbverhungert, im Pastoratshaus des Vaters, in der Kirche beim Gottesdienst, im Dorf selbst, auf den Feldern, auf dem Jahrmarkt. Jahrmarkt ist jährlich dreimal in Seßwegen. Krämer kommen aus der Stadt. Salz und Eisen werden verkauft, Federvieh, Pferde. Und Menschen! Sie tragen Strohkränze auf dem Kopf. Lustig will das dem Kind scheinen. Die Kränze aber sind das Zeichen, daß sie als Leibeigene feilgeboten oder unter den Gutsbesitzern getauscht werden können, gegen Pferde oder Hunde, gegen Pfeifenköpfe, Jagdgerät und ähnliches. »Die Menschen sind hier nicht so teuer als ein Neger in den amerikanischen Kolonien«, schreibt Hupel, der bei Dorpat lebende Aufklärer und Publizist. »Einen ledigen Kerl kauft man für 30 bis 50, wenn er ein Handwerk versteht, Koch, Weber u. d. g. ist, auch wohl für 100 Rubel. Ebensoviel gibt man für ein ganzes Gesinde (die Eltern nebst ihren Kindern), für eine Magd selten mehr als 10 und für ein Kind etwa 4 Rubel.«

Und Jakob sieht die Leibeigenen im Pastorat, der Vater hat tagtäglich mit ihnen zu tun. Wenn ein Kind im Kirchspiel geboren wird, wenn geheiratet wird oder einer stirbt, müssen die Dorfbewohner zum Pastor kommen. Er hat das Seelenregister zu führen, das Verzeichnis der Getauften, Kopulierten und der Verstorbenen, hat es jährlich aus dem Kirchbuch abzuschreiben und an das Generalgouvernement Livland zu senden. Wöchentlich werden im Pfarrhaus »Dorfkatechisationen« abgehalten, und sonntags ist die Predigt in der Kirche. Im Winter macht Lenzens Vater »Hausbesuchungen«, wie es für einen Pastor üblich ist. Sie dienen dazu, den Bauern die Pflichten der sogenannten Haustafel einzuschärfen und zu prüfen, wie weit sie im Lesen und in der Erlernung des Katechismus gekommen sind. Meilenweit fährt er bei strenger Kälte, kommt in heiße, mit Rauch und Dunst von dem zum Dörren aufgesteckten Korn angefüllte dunkle Stuben der Letten, in denen Menschen und Tiere in einem einzigen Raum zusammengedrängt leben. Der Lette wird auf Stroh geboren, er schläft ohne Bettuch und stirbt auch so. Pastor Lenz wird den Sohn nicht zu seinen Katechisationen in die Bauernhütten mitgenommen haben. Aber in den Katen wird der Junge dennoch gewesen sein.

Auch im Pastorat erlebt Jakob die Bauern, wenn sie im Herbst ihre Abgaben entrichten. Wie dem Gutsbesitzer, so haben sie dem Pfarrherrn das Vorgeschriebene zu übergeben. Im September die Korngerechtigkeit. Auf Weihnachten zu den Gerechtigkeitsflachs, Garn, ein Schaf, Hühner, Gänse, Enten, fertige Leinwand. Zu anderen Jahreszeiten müssen die Bauern des Kirchspiels dem Pastor Beeren und Pilze bringen, auch Fische aus den umliegenden Seen. Fast alles, was auf dem Tisch der vielköpfigen Pastorenfamilie steht, kommt von den »Undeutschen«. Auch das, woraus die Mutter die Kleidung für die Familie macht, Garn, Schafwolle, Leinwand.

Und auf den Feldern wird er sie sehen, die Leibeigenen und die gemieteten Russen, die vom Gutsherrn für das Reinigen der Heuschläge pro Quadratmeter vier Kopeken bekommen, die estnischen und lettischen Lostreiber, die man für die Heuernte, beim Küttnisbrennen und Flachshecheln, bei der Ziegelscheune und zum Torfstechen braucht. Badstübner werden sie auch genannt, da sie oft in den Badstuben, den kleinsten Hütten auf den Gehöften, übernachten oder dort im Herbst und Frühjahr ihre Kleider trocknen, die Ärmsten der Armen.

 

Die Einteilung der Welt in Deutsche und »Undeutsche«. In diese Welt wächst Jakob hinein. Die einen dienen, die anderen herrschen. Der Mensch soll dem Menschen untertan sein. Gottgewollte Ordnung, die der Vater rechtfertigt und von der Kanzel herab verteidigt. Die »Undeutschen« hält er für faul, dumm und trunksüchtig, in der Bekehrung zum Christentum sieht er ihr Heil.

Nur wenige erkennen damals die Verhältnisse in ihren wirklichen sozialen Spannungen, einer davon ist der Livländer Jannau, der in seiner »Geschichte der Sklaverey und Charakter der Bauern in Lief- und Esthland« über die deutschen Prediger schreibt, »Herrschsucht« sei ihr »Beginnen und Dummheit die Fessel, die den Letten und den Esthen in der Sklaverey erhielt. Kein Einziger bildete durch die Religion, die er zu predigen doch berufen war. Ein jeder suchte Land und Leute, ward groß durch seine Thaten, und tötete die Freyheit der Unschuldigen, die er bekehren wollte.«

Das Christentum nimmt den Letten ihre heidnischen Götter, Laima, Mahte, Semkikka, Krihwe und andere, verfolgt ihre Zusammenkünfte in der Natur an heiligen Bäumen, Quellen und Hügeln. Von den Pfarrern und Gutsherren wird die Zerstörung dieser Stellen, das Abholzen der Bäume angeordnet. Unter strenger Strafe stehen die Treffen in den heiligen Hainen, auch ist es den Letten verboten, ihre Toten dort wie seit alters her zu begraben und Opfergaben, Wolle, Hanf und Flachs in Baumhöhlen zu legen. Die Christianisierung zerstört die heidnischen Bräuche, vernichtet unbarmherzig alte Volkstraditionen. Selbst das Spielen auf dem Dudelsack oder der Bockspfeife, den bei den Letten beliebten Instrumenten, wird von den deutschen Pastoren verfolgt. Oft wird den Bläsern der Dudelsack weggenommen, wird verbrannt oder zerschnitten, und die Musikanten werden vom Abendmahl ausgeschlossen. Gepredigt wird Gottesfurcht und Arbeitsamkeit. Der Pastor spricht das, was den Gutsbesitzern nützt. Und der deutsche Pfarrer wird von den Letten gesehen wie der deutsche Gutsbesitzer, als gefürchteter Herr, als Herr über ihr Leben und ihren Tod.

Haß gegen die Deutschen ist die Folge. Der lettische und estnische Bauer kann im Deutschen nur einen Feind sehen, »sein Schicksal hat den Haß in seiner Seele geboren, er ist und bleibt in seinem Herzen ein Widersacher des Deutschen«. Saks tulleb, der Deutsche kommt, ist ein Schreckwort, mit dem der estnische Bauer sein schreiendes Kind einschüchtert. Jannau, der das schreibt, geht auch auf die Faulheit ein, die »würklich unserm Bauer eigenthümlich ist«. Die ist »nicht angeboren, sie ist durch die Strenge der Leibeigenschaft angeerbt. Bey solchen Umständen müßte die menschliche Natur nicht das mehr seyn, was sie ist, wenn nicht Ueberdruß entstehen, und sich schnell Faulheit erzeugen sollte.«

In dieser Welt der sozialen und nationalen Spannungen, des Hasses, wächst der Junge auf. Mit Angst sieht er die Letten, denn er ist der Sohn des Pastors, er ist ein Deutscher. Und immer wieder wird er die unbarmherzig geißelnden Worte des Vaters von der Kanzel der Dorfkirche herab hören. Die Letten werden des »fleischlichen Sinnes, des Unglaubens, der verderbten Neigungen, der Gier, der überviehischen Trunkenheit und schändlichen Wollust« angeklagt, eines »faulen und leeren Maulchristentums« beschuldigt. Da ist von Sünden, von Buße, von einem Strafgericht Gottes die Rede.

Will Gott, was geschieht, wenn die Kirchgänger unter dem Geläut der Glocken das Gotteshaus verlassen? Ein Dorfpfarrer in Livland, also auch Lenzens Vater, ist für den Vollzug vom Landadel gerichtlich verhängter Strafen an den lettischen Bauern verantwortlich. Und des Sonntags nach dem Gottesdienst geschieht das. »Wenn der Gemeine aus der Kirche gehet, wird der Verbrecher an einen Phal unweit der Kirche angebunden, sein Leib von oben entblößt; der sogenannte Kirchenkerl oder Glockenläuter verrichtet die Execution; indem er allezeit mit zwo frischen schmalen Ruthen, die den Spießen und Spitzruthen ähnlich sind, drymal den entblößten Rücken des Verurteilten schlägt, dann ein Paar frische ergreift.«

»Die kleinste Vergehungen werden mit 10 Paar Ruthen geahndet, mit welchen nicht nach der gesetzlichen Vorschrift, mit jedem Paar drymal«, schreibt Katharina in dem schon erwähnten Ukas, »sondern so lange gehauen wird, als ein Stumpf der Ruthen übrig ist, und bis Haut und Fleisch herunter fallen.«

Jakob muß Zeuge solcher Exzesse gewesen sein. Aber: Die Strafen sind von den Adligen, den Freunden des Vaters verhängt, ihr Vollzug wird vom Vater selbst beaufsichtigt, muß das Kind sie nicht für gerecht halten? Und was hört es nicht alles flüstern und sprechen, wenn Pastor und Gutsherren im Pfarrhaus zusammensitzen. Angegriffen worden seien Gutsherren von Bauern mit Stöcken und Prügeln, dort und dort sei ein Gutsherr zu Tode gekommen durch seine Leibeigenen, einen anderen Adligen hätten sie in Stücke gehackt, eine Gutsherrin sei von ihren Leibeigenen erstochen worden. Vorfälle, die Hupel in seiner Chronik überliefert. Wovon Jakob hört, ist Aufbegehren einer verzweifelten, gepeinigten Masse.

Der Nordische Krieg und die Pestjahre von 1710 und 1711 haben die Bevölkerung von Livland, Estland und Kurland um die Hälfte reduziert. Die Gutsherren suchen dem wirtschaftlichen Ruin des Landes mit noch härterer Ausbeutung entgegenzuwirken. Hatten die Leibeigenen nach dem alten Wackenbuche wöchentlich eineinhalb Tage mit Anspann und des Sommers ebensoviel zu Fuß bei den Herren zu frönen, so müssen sie nun viermal soviel frönen, das heißt die ganze Woche über, zugleich aber alle anderen Abgaben entrichten. Und immer neue kommen hinzu, Reparatur von Landstraßen und Wegen, Materialzufuhr und Arbeitsleistungen an Pastorats-, Postierungs- und Krongebäuden. Abfuhr der Regimentsfurage, Kornmahlen und Viehhüten. Aber ihr Leben wird nicht besser, all ihr Schweiß und Blut verrinnt sinnlos. Sie haben nichts zu verlieren. Durch Krieg, Katastrophen und steigende Ausbeutung dreifach gequält, beginnen sie, gegen den Druck der Leibeigenschaft aufzubegehren. Das estnische Volkslied »Klage über die Tyrannen der Leibeigenen«, das der in dieser Gegend lebende junge Johann Gottfried Herder später in seine Sammlung »Stimmen der Völker in Liedern« aufnimmt, wird im Volk nicht mehr nur heimlich, sondern lauter und lauter gesungen.

Tochter, ich flieh nicht die Arbeit,
fliehe nicht die Beerensträucher,
fliehe nicht von Jaans Lande:
vor dem bösen Deutschen flieh’ ich,
vor dem schrecklich bösen Herren.

Arme Bauern, an dem Pfosten
werden blutig sie gestrichen.
Arme Bauern in den Eisen,
Männer rasselten in Ketten,
Weiber klopften vor den Türen,
brachten Eier in den Händen,
hatten Eierschrift im Handschuh,
unterm Arme schreit die Henne,
unterm Ärmel schreit die Graugans,
auf den Wegen bläckt das Schäfchen.
Unsre Hühner legen Eier
alles für des Deutschen Schüssel …

Im Gebiet Wenden, dort, wo Pastor Lenz mit seiner Familie lebt, und in den anliegenden Kreisen, im Walkschen, im Dorpatschen, brechen in jenen Jahren Bauernunruhen aus. Auch in Rußland ist es so. Katharina versucht zunächst durch einige Maßnahmen dem zu begegnen. Eine solche Politik vertreten auch in Livland einzelne aufgeklärte deutsche Gutsbesitzer. Der Landrat Baron Schoultz zum Beispiel, der Reformvorschläge macht, das Römerhoffsche Bauerngesetzbuch entwirft und auf seinem Gut praktiziert. Aber das stößt schon auf den erbitterten Widerstand der Überzahl der Landadligen. Ebenso wie die in ähnliche Richtung gehenden Vorschläge des livländischen Generalgouverneurs Browne. Sie werden 1765 vom Landtag abgelehnt. Daß die Leibeigenschaft in Livland, heißt es in den Landtagsakten dazu, »nicht aus Barbarei, sondern aus dem natürlichen Genie der … Nation abzuleiten sei« und »sehr wohl neben der Humanität stehen könne«.

 

Lenzens Vater stellt sich in allen diesen Fragen – nach seiner späteren Karriere in der livländischen Kirchenhierarchie zu urteilen – schon sehr bald auf die Seite des reaktionären deutschen Adels. Sein Aufstieg zum ersten Mann der Kirche Livlands ist die Geschichte seiner Anpassung. Aus Halle, der Hochburg des Pietismus, kommt Christian David Lenz. Von dieser Bewegung ist er in den Jahren seines Studiums geprägt. Der Pietismus als ein letzter großer Ausläufer des Mystizismus ist mit seinem Christentum der persönlichen Religiosität und sittlichen Lebensführung gegen die starre Kirchenorthodoxie gerichtet. Er fördert Kräfte im Menschen, die der Rationalismus vernachlässigt: Gefühl, Phantasie, Gemüt, Herz. Er läßt den einzelnen seine Subjektivität entdecken, innerhalb des religiösen Bewußtseins ein neues Selbstwertgefühl entwickeln. Das Schreiben von Tagebüchern ist ein Ausdruck dafür. Auch Lenzens Vater schreibt als junger Mann ein solches.

Der Pietismus bringt auch eine radikale Bewegung hervor: die Herrnhuter. Und sie beginnen gerade in Livland eine große Rolle zu spielen. Sechs Jahre nach der Gründung der Sekte durch Graf Zinzendorf kommen 1729 die ersten Vertreter als Handwerker nach Livland, »um durch Beispiel und Belehrung auf das Landvolk einzuwirken«. 1736 unternimmt Zinzendorf eine Reise durch Livland und besucht seine Freunde. Die Ideen der Herrnhuter treffen auf die katastrophale Lage der Menschen, und in den vierziger Jahren finden sie einen gewissen Widerhall im estnischen und lettischen Volk. An einigen Orten sammelt sich sogar in der Bewegung der mährischen Brüder der Widerstand gegen die Grundbesitzer. Auch Pastoren schließen sich der Bewegung an. Radikale Führer treten offen gegen die Willkürherrschaft der Grundherren auf. Das führt 1743 – neben den ständigen Konflikten mit der offiziellen Kirche – zum direkten Verbot der Herrnhuter in Livland. Als der Vater von Lenz, zwanzigjährig, von der Universität Halle kommt, scheint er den sozialen Ideen gegenüber noch aufgeschlossen. Wie aus einem seiner Berichte an das Oberkonsistorium in Riga hervorgeht, setzt er sich für die Herrnhuter ein. Ein Jahr vor dem Verbot ist das. Bis er merkt, wie gefährlich und seiner eigenen Karriere hinderlich dieses Engagement ist. »Der schnelle Beyfall wurde durch ethliche Vorfälle, Untersuchungen usw. etwas gemildert«, teilt Hupel mit. »Einige, selbst Prediger, traten zurück. Zween Anhänger, den öselschen Superintendent Eberh. Gutsleff und einen andern dasigen Prediger, betraf wegen gewisser Anschuldigungen das Schicksal, daß sie im J. 1747 nebst zween andern Brüdern nach St. Petersburg geführt wurden, wo der erste im J. 1749 im Gefängnis starb; doch erhielt der zweyte im J. 1762 seine Freiheit.« Pastor Lenz distanziert sich auch öffentlich von den Herrnhutern. 1750 erscheint in Königsberg eine seiner Predigten. »Es war der Verfasser selbst unter die Herrnhuter geraten«, gesteht er, »da er aber den Urgrund ihres Wesens einsah, trat er von ihnen ab und schrieb die erwähnte Vorrede.« Diese will »der Reuertheologie der Herrnhuter die Larve abziehen«. Nun, da er selbst Pfarrherr ist und im Anblick von Armut und Elend der Bauern die Unversöhnlichkeit der Gegensätze ahnt, läßt er die sozialen Belange fallen. Seine Predigten werden immer orthodoxer, härter und unnachgiebiger. Man spürt kaum wirkliche Liebe zum Menschen, statt dessen aber fanatisches Eifern. So in einer Predigt, die Pastor Lenz 1751 veröffentlicht und die er drei Jahre zuvor, am 14. August 1748, im benachbarten Wenden hielt, kurz nachdem dort ein großes Feuer die Stadt verheerte, viele Häuser zerstörte und auch Menschenleben kostete. Durch ihre »schweren Sünden« hätten die Einwohner den »Zorn des Allmächtigen gereizt … Was Wunder, daß der Herr endlich seinen Grimm über euch ausgeschüttet hat?… Niemand hat je sein eigen Fleisch gehasset, sondern ernähret es und pfleget sein … Erstaunliche Sorglosigkeit! diese allein verdiente Sodoms Schwefelbrand«. Die Veröffentlichung der Wendener Predigt geschieht, so sagt Pastor Lenz in der Vorrede, da die Einwohner nach der Feuersbrunst ihr schändliches Leben fortsetzen und wieder »Holz zum Feuer tragen«. Das »Feuergericht in Wenden« sollen sie »als eine Stimme Gottes ansehen, die ihnen zuriefe: So ihr euch nicht bessert, werdet ihr alle auch also umkommen«. Ob solcher Beschuldigungen strengt die Stadt Wenden gegen Pfarrer Lenz einen Prozeß beim Oberkonsistorium und Hofgericht an und gewinnt ihn.

Pastor Lenz fährt dennoch mit seinen Straf- und Bußpredigten fort, Sonntag für Sonntag in seinem Kirchspiel Seßwegen.

Wir sehen den Knaben Lenz in der lutheranischen Dorfkirche in Casvaine sitzen. Die lettischen Bauern haben sie nach dem Krieg wieder errichtet. Aus rohen Holzbalken ist sie gezimmert, ein einfaches Schiff mit flacher Decke. Am Altar Christus am Kreuz, aus Holz geschnitzt. Im Raum selbst schwere Holzbänke, wie Abteile, mit Türen versehen, rechts die Frauen, links die Männer, am Eingang zu jeder Reihe Kerzenhalter. Der Fußboden ist aus viereckigen Ziegelsteinen. Der einzige Schmuck sind die farbigen Malereien auf dem Holz von Fenstern und Wänden, barocke Formen, Wandbespannungen vortäuschend. Die Kirchspiele sind arm, kaum eine Dorfkirche in Livland kann sich damals eine Orgel leisten. Eine Trommel, wie sie die Soldaten im Krieg mit sich führen, steht neben dem Altar, und beim Einsetzen und Singen der Kirchenlieder gibt der Trommler den Rhythmus an.

Der dumpfe Gesang, einzelne hohe Frauenstimmen sind herauszuhören. Die lettischen Bauern, die Leibeigenen sitzen in den Bänken, eine finstere, graue, gleichförmige Masse. Bis auf den letzten Platz ist die Kirche gefüllt, Pastor Lenz duldet keine Säumnisse im Kirchgang. Seine Rede (meist predigt er ein bis anderthalb Stunden) ergießt sich über die Gemeinde.

Der Vater auf der Kanzel, unnahbar, ein Richter, Gott selbst. Der Vater ist die absolute Autorität, der Welterklärer. Der Mächtige, den man lieben und fürchten muß. Davon wird Jakob Lenz sich sein ganzes Leben nicht befreien können. Die Vatergestalt bleibt immer übermächtig und erdrückend. Für den zwanzigjährigen, den dreißigjährigen, den vierzigjährigen Lenz, bis zu seinem Tode.

Das liegt in der Kindheit. Da ist es schon in seinen zerstörerischen Konsequenzen angelegt, aber noch nicht sichtbar. Noch ist es Schrecken und Süße, Furcht und Geheimnis für das Kind.

Und immer wieder während der endlos langen Gottesdienste mag Jakob nach oben gesehen haben an die Holzdecke. Sie wird, wie die meisten Dorfkirchen damals in Livland, einen naiv bemalten Himmel haben, blau über die ganze Fläche, darauf schwebende Engelsgestalten, die zur Ehre Gottes musizieren. Engel mit Geigen, mit Tuben, mit Flöten, mit Trommeln, mit Hörnern, Trompeten und Harfen. Noch niemals hat Jakob solche Instrumente wirklich gesehen, niemals ihren Klang gehört. Seine Phantasie entzündet sich. Und auch die biblischen Geschichten, die der Vater als Gleichnisse gibt, lösen sich ab von seinem kleinlichen Eifern, berühren in ihren großen poetischen und menschlichen Bildern die kindliche Phantasie.

Jene Geschichte von Jesus von Nazareth, den die Hohepriester und Ältesten des Volkes banden und abführten, von Judas Ischariot um dreißig Silberlinge willen verraten. Jesus von Nazareth, vom Volk mit Speichel bedeckt, die Kleider vom Leib gerissen und höhnisch in einen Purpurmantel gehüllt, eine Dornenkrone auf das Haupt gedrückt, der König der Juden. Jesus von Nazareth, vom Landpfleger Pontius Pilatus übergeben, schweigend gegen seine Ankläger, unschuldig zum Tode verurteilt. Unschuldig fließt sein Blut, unschuldig wird er ans Kreuz geschlagen. Eine gewaltige, erregende, das Kind wohl bis ins Innerste treffende Geschichte. Wie auch die Visionen der alttestamentarischen Propheten, die Offenbarungen Johannis. Seine ersten Gedichte werden es bezeugen.

Große, unauslöschliche Bilder der Bibel sind es, die neben die erschreckenden Bilder der Gegenwart Livlands treten. Geprägt aber immer wieder und verzerrt durch den Vater, moralischen Zwecken untergeordnet, Geboten, Verboten, Gottgefälligkeit, Sünde, Strafe, Buße. Vorstellbar die Angst des Kindes. Vor der Strenge des Vaters, seinen Strafen, die als die Gottes ausgegeben werden. Was ist Sünde, die kleinen Vergehen, Spielen mit lettischen Kindern, Sprechen mit den »Undeutschen«, der Überdruß, ewig auf die Geschwister aufzupassen, die Regungen des eigenen Körpers, fremd, unerklärlich; die Gier nach phantastischen Geschichten, nach Worten, Sätzen, Reimen, Rhythmus, nach den Büchern, die Sucht nach Einsamkeit, das heimliche Entfernen aus dem Pfarrhaus?

Wiederum Umrisse: der Achtjährige, auf irgendeinem lettischen Bauerngehöft. Er sitzt im Versteck in der Tenne, wenn das Dreschen beginnt, der Riegenkerl gewählt wird, der die Riege mit Strauchwerk beheizt und aufpaßt. Jakob sieht, wie das Getreide zunächst durch Feuer gedörrt wird. Dann die Roggengarben mit den Händen an die Wand geschlagen werden, bis die schweren Körner, die zur Saat taugen, herausfallen. Weizen, Gerste und Hafer werden erst mit den Füßen ausgetreten, ehe man mit dem Dreschflegel schlägt. Kornlaufen heißt es. Auf dem Boden der Tenne liegt das Getreide. Knechte und Mägde bewegen sich tanzend darauf. Der Dudelsack spielt. Die nackten Füße der Mädchen im wirbelnden Tanz auf der Tenne. In heller Erregung sitzt der Junge in seinem Versteck.

Ein anderes Bild: Jakob im Sommer, barfuß, im Leinenkittel, an einem der umliegenden Seen. Er sieht den russischen und polnischen Wanderfischern zu, die diese Seen befischen und mit ihren großen Netzen Rebsen, Hechte, Quappen, Stinte, Turben, Bleie, Barse und Füdchen fangen. Wortfetzen, fremde, Russisch, Polnisch. Und die Sprache der Letten im Dorf, auch sie fremd, doch manches geläufig, vom Vater gehört. Und ein drittes Bild: Jakob entdeckt in einem hohlen Baum Wolle, Wachs, Garn, Brot, Opfergaben der Letten für ihre Götter. Getrieben von Neugier, erlebt er eines ihrer heidnischen Feste. Im Freien unter großen Bäumen auf Hügeln wird es begangen. Geheim geschieht alles. Feuerschein und seltsame Gesänge, Tänze und Riten. Jakob in schrecklicher Angst hinter einem Strauch, entdecken die Letten ihn, den Pastorssohn, wird es schlimm, und erfährt der Vater davon, wird es noch schlimmer.

Jakob ist in den ersten acht Jahren der Kindheit in Casvaine sich sicher viel allein überlassen. Der Vater ist mit Pflichten im Kirchspiel überhäuft. Durch die Einwanderung in das fremde Land ist Lenz auch von der vorhergehenden Generation, der des Großvaters und der Großmutter väterlicherseits, getrennt. Die Eltern der Mutter wohnen in Neuhaus im gleichen Gebiet Wenden, nicht allzuweit entfernt, aber nicht nah genug für ständige Begegnungen. Der Großvater Neoknapp ist dort bis an sein Lebensende Pastor. Vielleicht gelegentliche Besuche. Wenn ein Kind geboren wird, kommt die Großmutter. Bleibt eine Zeit, jene skandalumwitterte Großmutter Marie von Rhaden, verheiratete Neoknapp. Märchen, Lieder, Musik, wenn sie da ist.

Wir wissen es nicht. Auch nicht, welchen Einfluß die Mutter auf die Kinder hat, besonders auf Jakob. Über ihr Äußeres und ihren Charakter ist nichts überliefert. Einen einzigen Brief von Dorothea Lenz an den Sohn gibt es. Ein kleines Schreiben voller orthographischer Unbeholfenheiten. Vierundzwanzig ist Lenz da und schon Jahre im Ausland. »Mein allerliebster Jakob«, schreibt die Mutter, »wie vergeblig habe ich nun so viele Jahre auf Deine Zu hause Kunft gewartet, wie oft habe ich nicht umsonst aus dem Fenster gesehn, wenn nur ein Fragtwagen ankam, ob ich Dich nicht erblickte, allein vergebens. Wie manche Tränen und Seufzer, habe ich nicht zu Gott geschickt, daß er Dich führen und leiten mögte. Ach wenn ich Dich auch noch einmahl sehen könnte, vor meinem Ende, und Dich segnen, ehedem ich sterbe, so wolte ich zufriden sein. Wie lange wiltu so herum irren, und Dich in solche nichtswürdigen Dinge vertifen, ach nimm es doch zu Herzen was Dein Vater Dir schreibt, es ist ja die Wahrheit, nimm es nur zu Herzen, und denke nach, was wil aus Dir werden? ich billige alles was Papa geschrieben hat.« Kein Vorwurf ist in ihrem Ton. Leiden, mütterliche Ängste. »Melde mir auch«, fährt sie fort, »ob Du jetzo ganz gesund bist mit Deinen Halse und Zähnen; ich bin Deinetwegen sehr besorgt gewesen.« Und am Schluß: »Uebrigens grüsse und küsse ich Dich zährtlig mein liebes Kind. Gott segne Dich und leite Dich auf seinen Wegen.« Die Mutter wird Jakob nicht wiedersehen, im Sommer 1778 stirbt sie, ein Jahr bevor er nach Livland zurückkommt. Von Kränklichkeit und Schwäche seiner Frau ist bei Lenzens Vater schon sehr zeitig die Rede, von nichts anderem. Auch Jakob äußert sich nicht über seine Mutter. Sicher spricht sie ihm die ersten Verse vor, singt ihm Kirchen- und Volkslieder. Sie ist in Livland aufgewachsen, kennt die schwermütigen und eigenartigen Gesänge der Esten und Letten. Zweistimmig gesungen, der Refrain besteht gewöhnlich aus den Wörtern Kassikenne, Kannikenne, mögen sie auf den Inhalt passen oder nicht. Die Neigung zur Musik, die Freude am Tanz mag die Mutter Jakob eingegeben haben. Bald wird der Junge Klavier spielen lernen (»Candid. Hoffmann, d. euch auf dem Claviere informirte« wird erwähnt), später lernt Lenz das Lautenspiel. Und Märchen mag die Mutter ihm und den Geschwistern erzählt haben. Vielleicht tut es aber auch eine alte lettische Magd, die es in den meisten deutschen Pastorenfamilien gibt. Sie berichtet Jakob, was sie selbst als Kind und junges Mädchen in der Korndarre oder an den langen Winterabenden in der Spinnstube hörte, da das Feuer wärmte und der Kienspan brannte. Die Märchen von Pikne Dudelsack, vom Galgenmännlein, vom Bäumling und Borkeline, von der schnellfüßigen Königstochter und der Aschentrine, die Geschichten von Kaval-Ants, dem schlauen Ants, und von den gewitzten Darren- und Tennenwarten und Riegenaufsehern, die Märchen von Vanatulu, dem Teufel, vom Tontlawald, dem Gespensterwald. Und von der Vogeltäuschung. Nach einem alten Volksglauben muß man gleich früh am Morgen einen Bissen essen, Vogelstimmen auf nüchternen Magen zu hören bringt Unglück.

Der Vater wird das alles nicht gern gesehen haben, und ganze Tage und lange Abende muß das Kind sicher in seiner Studierstube an den Hausandachten und Selbstbesinnungen teilnehmen, die pietistische Atmosphäre der Prüfungen, Tröstungen, Erleuchtungen, der Bußen von weltlichen Sünden in sich aufnehmen. Dort wird er, nachdem wohl die Mutter ihm die Anfänge des Lesens und Schreibens beigebracht hat, vom Vater den ersten Unterricht erteilt bekommen. Zusammen mit dem ältesten Bruder, den der Vater in seiner wenigen freien Zeit unterrichtet. Griechisch, Latein, Religionsgeschichte. Jakob ahmt nach, bekommt vom Vater sicher zuweilen eigene Aufgaben, löst sie überraschend, glänzt im Auswendiglernen.

Als der Bruder zwölf Jahre alt ist, verläßt er das Haus. General Berg bringt ihn nach Königsberg, dort soll er sich am Fridericianum auf das Theologie-Studium vorbereiten. Das ist 1758.

Anfang des Jahres 1759 gibt es große Bewegungen im Seßwegener Pfarrhaus. Unruhe. Flüstern, Sprechen der Eltern, Besuch vom Oberkonsistorium aus der Stadt. Vorstellung eines Nachfolgepastors. Lenzens Vater wird befördert. Eine Stadtpfarre in Südestland, in Dorpat, ist frei geworden. Pastor Lenz erhält sie. Im Januar wohl steht es fest. Ende Februar zieht die Familie um. Der mobile Hausrat wird verpackt. Viel ist es nicht, was ihnen gehört. Küchengerät, Töpfe, Bücher, Schreibsachen, Kleider, Bettzeug, die Wiege. Die Mutter erwartet das nächste Kind.

25. Februar 1759. An diesem Tag setzten sich vor dem Pfarrhaus die Schlitten in Bewegung. Beladen bis obenan, Körbe, Truhen, die Federbetten in Fässern. Die Kinder dick vermummt. Dorothea Charlotte zwölf, Elisabeth elf, Lenz acht, Johann Christian sieben. Der Pastor und seine Frau. Die lettischen Bauern stehen schweigend. Abschied. Hinter dem Dorf öffnet sich für Jakob eine Welt und eine zweite und eine dritte. Unendlichkeiten. Eine Schneelandschaft. Hügel an Hügel, eine sanfte Landschaft. Rechts und links der Wege kahle Erlen und Birken, die von der Bewegung des Gefährtes, auf dem er sitzt, willkürlich verändert werden, übergroß in der Nähe, in der Ferne sich verkleinernd, schließlich im Fluchtpunkt scheinbar vereint. Seltsames Spiel. Und der Himmel, der »braune Himmel Livlands« darüber aufregend und ruhelos, ein großer Himmel, der alle Erwartungen und Hoffnungen des Kindes birgt.

3
Schon ist die Silhouette von Dorpat erkennbar. Aber es dauert noch Stunden, bis die Schlitten die Stadt erreichen.

Dreitausend Einwohner zählt Dorpat, auch Tarbat, Tartu, Tarbeten, Dorpt oder russisch Jurjew genannt, im Süden Estlands gelegen. An der Straße nach Sankt Petersburg befindet sich die Stadt, ist von Riga 226 Werst, von Reval 185 Werst und von Narwa 174 Werst entfernt. Es ist die älteste Stadt überhaupt, älter als Riga und Reval. Wie das gesamte Baltikum hat das 1012 gegründete Dorpat eine schmerzliche und wechselvolle Geschichte. Eroberung durch den deutschen Orden, 1558 dann Einnahme der Stadt durch den Zaren Iwan Wassiljewitsch. Im siebzehnten Jahrhundert mehrfache Belagerungen durch die Polen, durch die Russen, durch die Schweden, vierzehn Belagerungen und elf Eroberungen insgesamt. Die Schweden sind die Sieger; lange lebt Dorpat unter schwedischer Herrschaft. Schließlich, am Ende des über zwanzigjährigen Nordischen Krieges fällt Estland und der nördliche Teil Lettlands an Rußland.

Im Krieg wird Dorpat 1707 durch »springende Minen beynahe zum Steinhaufen« gemacht. Ein Jahr danach werden vom Zaren Peter I. alle deutschen Einwohner Revals, Narvas und Dorpats nach Rußland verschleppt, da sie der Verräterei mit den Schweden beschuldigt werden. Sieben Jahre liegt Dorpat wüst und öde, nur wenige Letten sind in der Stadt, in den Ruinen leben Tiere, 1721, im Jahr des Nystädter Friedens, dürfen die Exilierten zurückkehren, Peter I. gibt der Stadt ihre Rechte und Privilegien wieder. Aber nur langsam erholt sich Dorpat, 1724 zählt die Stadt siebzehn neue Bürger, ein Jahr später kommen zehn hinzu.

Als Jakob Lenz mit seinen Eltern nach Dorpat zieht, sind überall die Narben des Krieges sichtbar. Die vier Stadttore, das deutsche und russische am Fluß Embach, auf der anderen Seite das Jakobs- und das Andreas-Tor, liegen in Trümmern. Von der auf dem Berge, dem Tommemägi, sichtbaren gotischen Domkirche Sankt Dionysi stehen nur noch die Mauern, vierundzwanzig starke Pfeiler, die das Gewölbe trugen, und ein Rest des Turmes. Auch die auf dem Hügel neben dem Domberg liegende Schloßkirche ist zerstört. Ebenso alle öffentlichen Gebäude, die Universität, vom schwedischen König Gustav Adolf gegründet und mit den gleichen Privilegien wie Uppsala ausgestattet. Das Rathaus, die großen Vorratskammern für Korn und Flachs, alles ist im Krieg vernichtet worden. Zögernd beginnt man in den dreißiger Jahren mit dem Wiederaufbau, die sechziger Jahre dann sind von einer umfangreichen Bautätigkeit belebt. Es sind die Jahre, da Lenz in der Stadt wohnt. Der Knabe, der Jüngling, fast zehn Jahre verbringt er in Dorpat. Es sind die Jahre des Schulganges, die Vorbereitungszeit auf das Studium. Acht ist er, als er mit den Eltern in die Stadt kommt, über siebzehn, als er sie verläßt.

Eine Stadt, aus Trümmern erwachsend, sich erhebend nach all dem Leid, eine Stadt voll Schmutz und Elend. Esten, Deutsche und Russen leben in der Stadt. Die Russen sind Kaufleute und Händler, auch Handwerker, Maurer und Gärtner. Die Deutschen sind Handwerker, zumeist aber sogenannte Gelehrte, Beamte, Pfarrer, Stadtschreiber, Notare. Sie bilden, gemeinsam mit den wohlhabenden russischen Kaufleuten, die Oberschicht. Besetzen Bürgermeisteramt und leitende Positionen, üben die Gerichtsbarkeit aus. Die Esten sind die unterdrückte Schicht, sind Hausbedienstete, Tagelöhner, entlaufene Leibeigene, der Pöbel. Die Nachkriegszeit aber gibt den Esten Aufstiegschancen. Die Handwerker nehmen auch in Ermangelung anderer estnische Burschen, die arbeiten sich hoch, werden Meister. Viele Esten sind freie Städter, Fuhrleute, Schiffer und Fischer. Aber sie haben nur zum Teil Stadt- und Bürgerrechte, werden schlecht behandelt. Alle Lasten der Stadt, Einquartierungen, Wege- und Festungsbau und sonstige Dienste werden ihnen aufgebürdet. Dorpat ist eine Stadt mit tiefen und unversöhnlichen sozialen und nationalen Gegensätzen. Die Deutschen hassen die »Undeutschen«, die Esten die Eingewanderten und die Russen. Spannungen zwischen Deutschen und Russen, Machtkämpfe. Alles im Schatten des vergangenen Krieges, im Schatten der Not. Eine Stadt mit ihrem Fleiß, ihrer Redlichkeit, ihrer Biederkeit, hinter der Habsucht lauert, ihrer Gelehrsamkeit, die oft Hohlheit ist, eine Stadt mit ihren Glaubensgrundsätzen und ihrer Unterdrückung Andersdenkender, ihrer Kleinlichkeit und Arroganz.

Diese baltische Kleinstadt wird nun für viele Jahre der Raum des Heranwachsenden. Auf dem Domberg wird er mit Schulfreunden und estnischen Jungen spielen, auf dieser kahlen Fläche, in den gespenstischen Ruinen, des Sommers und im Winter, da es in der Dämmerung einen besonderen Reiz hat. Er wird auf den Wiesen, Heuschlägen und Viehweiden diesseits und jenseits des Flusses zu finden sein, wird in der Vorstadt herumstreifen, alles erkunden, bis zur Bischofhoffschen Grenze hin, die Mühlen, den Neuen Kirchhof, den Rabenstein und den Jarmakrug, wo der Weg nach Luzia geht. Ja, bis zu den äußersten Enden der Stadt, wo die Rigische und die Pleskowsche und auf der anderen Seite die Petersburgische Straße in unbekannte Fernen führen.

Jakobs unmittelbares Zuhause aber ist die Gegend zwischen der Johannis- und der Ritterstraße, nicht weit vom Domberg. Dort ist die Stadtpfarrkirche, in der der Vater predigt. Die Kirche Sankt Johanni, ein riesiger dreischiffiger Backsteinbau aus dem Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, gotisch, mit spätromanischem Portal und glasiertem Kachelwerk. Auch diese Kirche ist im Nordischen Krieg zerstört und ausgeraubt, jahrelang muß der Gottesdienst in der Scheune eines nahe gelegenen Stadtgutes gehalten werden. Aber bald beginnt man mit der Restauration, in Lübeck wird Geld gesammelt, Kaiser Peter gibt hundert Dukaten, die Revaler Bürger dreiundvierzig, man schafft einen Kirchenkasten an und versieht ihn mit tüchtigen Schlössern. 1740 wird dann der Kirchturm wiedererrichtet und gedeckt, der Dorpater Kupferschmied Christian Brackmann arbeitet Knopf und Hahn kostenlos. Altar und Kanzel werden aus dem Pleskowschen herbeigeschafft, die Orgel wird repariert. Als Jakob mit seinen Eltern nach Dorpat kommt, erlebt er die Kirche so.

Ein gewaltiger Eindruck muß es gewesen sein.

Um die Kirche stehen die kleinen Häuser, nach dem Kriege notdürftig gebaut, die meisten einstöckig, nur wenige mit Mansarden, nicht mehr mit Stroh gedeckt, sondern mit Schindeln oder Ziegeln. Zwischen Johannis- und Ritterstraße, links vom Kirchenschiff, sind die Wohnhäuser vom Kaplan, Organisten, Kantor und Pastor, rechts das Armenhaus und andere Gebäude. In der Johannisstraße selbst, schräg gegenüber dem Hauptportal der Kirche, ist ebenfalls ein Wohngebäude für einen Pastor. Hier also oder an der Ecke zur Ritterstraße muß Pfarrer Lenz mit seiner Frau und seinen zahlreichen Kindern gewohnt haben. Der Vater klagt über den schlechten Zustand des Hauses, schreibt an die Herren Ämtermänner der Stadtgilde, daß er sie bitte, »einmal auf die Anbauung eines neuen Pastoraths für mich mit mehreren Ernst bedacht zu seyn, als bisher geschehen. Sie wissen es selbst wohl, wie alt und baufällig meine jetzige Wohnung als die dazu gehörigen Nebengebäude sind. Ich will Ihnen also nur noch zu Gemüthe führen, daß ich und meine arme kränkliche Frau in diesem Hause Leben und Gesundheit aufs Spiel setzen, und besonders letztere denen häufigen und gefährlichen Zugwinden in demselben ihre erstaunenden und anhaltenden Flüsse an Kopf und Zähnen zu danken hat. Jeder Fremde, der mich besucht, wundert sich, daß ich schlecht logirt bin, als vielleicht kein Prediger im ganzen Lande ist, und es wird insgeheim der ganzen Stadt zur Last gelegt, daß sie kein besseres Pastorat für mich besorge, da sie doch auf andere Ausgaben oft soviel verwende.« Aus welchem Jahr der Brief ist, wissen wir nicht. Aber es hat sich wohl nichts geändert, die ganzen zwanzig Jahre seiner Dorpater Amtszeit wohnt Pastor Lenz in diesem Haus. Für Jakob ist es zehn Jahre sein Zuhause.

4
Der Junge wird zunächst noch für einige Zeit mit seinen Schwestern Dorothea Charlotte und Elisabeth in die Elementarschule gegangen sein, in die sogenannte Töchterschule, in der Mädchen und kleine Knaben von dem Lehrer Johann Daniel Krusen unterrichtet werden. Aber alles, was da zu lernen ist, hat ihm die Mutter wohl schon beigebracht, oder er hat es in Seßwegen mitbekommen, als der Bruder vom Vater unterrichtet wurde. Vielleicht finden die Eltern auch eine Winkelschule für ihn, wo die Stadthonoratioren in einem Wohnhaus vier oder fünf etwa gleichaltrige Knaben gemeinsam unterrichten lassen.

Dann endlich hat er das Alter, um die höhere Schule zu besuchen. Dorpat hat eine Lateinschule, eine »combinierte Kron- und Stadtschule«. 1731 ist sie nach der Zerstörung an Stelle des einst von Gustav Adolf gegründeten Gymnasiums wieder errichtet worden. Ein hölzernes Schulhaus, wie wir wissen, daneben zwei Gebäude, auch aus Holz, in einem wohnen auf Kosten der Krone Rektor und erster Lehrer, im anderen, von der Stadt besoldet, Subrektor und Rechenmeister. Vier Klassenstufen hat diese Schule, Quarta, Tertia, Sekunda und Prima, und sie besitzt den Status eines Gouvernements-Gymnasiums, ist zur Vorbereitung auf die Universität zugelassen, die Schüler müssen nicht nach Riga oder Reval reisen wie später in den neunziger Jahren, als man das Gymnasium in eine einfache Volksschule umwandelt und ihr den Status aberkennt. Der Grund: Schüler aus Dorpat gehen kaum zur Universität. Innerhalb von neun Jahren, zwischen 1749 und 1758, ist es niemand. Wie überhaupt die Stadtschule nach den Kriegswirren nur wenige Schüler hat, seit 1731 ist die Zahl in der Sekunda immer zwischen acht und dreizehn, zu Johanni 1749 ist kein einziger Schüler da, drei Jahre später sind es wieder zwei, in der Tertia befindet sich oft nur ein Schüler.

Als Jakob mit zehn oder elf Jahren an die Dorpater Lateinschule kommt, hat sich die Zahl der Schüler vermehrt. Jakob Lenz, so berichtet Konrad Gadebusch, Publizist und später Dorpater Bürgermeister, »genoß die Anführung des damaligen Rektors Martin Hehn«, und die Schule sei »in guten Stand, mit geschickten Lehrern hinlänglich besetzt«. Jakobs Vater hingegen, der auch das Amt des Schulinspektors innehat, findet die Zustände dort miserabel. Die Eltern hätten Furcht, »daß ihre Kinder entweder durch Schläge jämmerlich gemißhandelt, oder verflucht und durch die rauhen Bemerkungen des Teufels … ganz mutlos und blödsinnig gemacht werden«, schreibt Vater Lenz anklagend an Rektor Hehn. Und zu Jakob direkt: »So würde z. E. mein Jakob durch Härte und Schärfe nur betäubet, und so confuse gemacht werden, daß ihm hören und sehen vergehen, und dann nichts mit ihm auszurichten seyn würde.«

Dieser Martin Hehn hat in Halle studiert, dann als Hofmeister sein Leben gefristet, schließlich ist er Rektor. Die Lehrer werden schlecht besoldet, sind auf Nebenverdienste wie Nachhilfestunden, Orgelspiel oder Bartscheren angewiesen, bis sie endlich aufsteigen in ein kirchliches Amt. Hehn wird 1769 Diakon, wenig später Pastor auf Lebenszeit. Entlädt er die eigene Not des Schulmeisterdaseins, durch seine Schläge den Jammer der Kinder verdoppelnd? Wahrscheinlich tut er nur das Übliche, das, was alle tun.

Der vormalige Rektor Johann Heinrich Lau hat Lektionsverzeichnisse anfertigen lassen, aus denen in etwa der Unterrichtsstoff an der Dorpater Schule zu ersehen ist. In der Prima wird Theologie, Hebräisch, Griechisch und Latein gegeben. Theologie wird nach dem Lehrbuch von Freyling unterrichtet, und die Beweisstellen werden im ersten Kurs deutsch, im zweiten griechisch, im dritten hebräisch auswendig hergesagt. In Latein liest man Vergil, Ovids »Metamorphosen«, Julius Cäsar und hat Stilübungen und Anleitung zum »Versificiren, ließ Imitationes nach Cicer. Orat. machen, handelte Cellarii antiquitt. ab und las täglich ein Kapitel aus der Bibel«. In der Sekunda kommen Geschichte und Geographie hinzu und wieder lateinische Stilübungen. Sonnabends wird das Evangelium lateinisch und griechisch erklärt. »In Tertia wurden der angehende Lateiner, Langes Colloquia, die Declinationen und Conjugationen abgehandelt, die Religion vorgetragen und die Bibel gelesen.« Naturwissenschaften wurden überhaupt nicht unterrichtet, und auch Mathematik steht unten an. Der Rechenmeister lehrt in der Prima lediglich »Handels- und Haushaltungs-, auch Interessen-Rechnung, in Secunda Brüche und die Regula de Tri in gebrochenen Zahlen, in Tertia Brüche und die Regula de Tri in ganzen Zahlen, in Quarta die Elemente des Rechnens«.

Jakob in der Dorpater Lateinschule, im regelmäßigen Viereck des Schulzimmers, auf einer der erhöhten Bänke mit dem schmalen Fußstütz. Die Schultische beschmiert, zerschnitten, mit eingebrannten Löchern. Die Bankreihen. Tür. Ofen. Der Lehrertisch, auf ihm mehrere Stöcke, Ruten, Lineal, der Kantschu, Schweiß der Angst. Das Klassenzimmer. Religion, Didaktik, Rhetorik. Das fortwährende Repetieren der Vokabeln, griechische, lateinische, hebräische. Das Aufsagen der Folge der biblischen Bücher, vorwärts und rückwärts. Das Auswendiglernen. Das schnelle Aufschlagen der Bibelstellen. Nacherzählen von Abschnitten aus Historienbüchern im Wortlaut, das Abfragen des Kompendiums der Dogmatik. So oder ähnlich kann es gewesen sein.

Trotz allem, trotz der Stockschläge auf Hände und Rücken, trotz der Demütigungen eine ungeahnte, große Welt, die sich Jakob auftut, die Welt des Wissens. Lenz wird mit Begier eingetreten sein. Vergil, Ovid, Julius Cäsar. Und anderes. In der Schule befindet sich eine kleine Büchersammlung in einem extra dazu verfertigten Schrank, Rektor Lau hat sie 1748 aus Rigaer Spendengeldern anlegen lassen. In kurzer Zeit wird Jakob alles gelesen haben.

Die Auseinandersetzung des Vaters mit Rektor Hehn endet damit, daß Pastor Lenz seine Söhne aus der Schule nimmt.

Nicht mit »körperlichen Züchtigungen« solle man strafen, sondern mit »moralischen und schriftlichen Gründen«, teilt er Hehn mit.

Vater Lenz unterrichtet seine Söhne nun selbst. Für einen Hauslehrer reicht das Geld nicht. Und da er mit Amtsgeschäften überhäuft ist, findet er wenig Zeit. Nach einem Dreivierteljahr sieht er sich gezwungen, seine Kinder wieder in die öffentliche Schule zu schicken. Ein versöhnendes Gespräch, eine »Vereinigung« zwischen ihm und Hehn geht dem voraus. Der Schulrektor läßt es sich nun nicht entgehen, seinerseits Pastor Lenz anzugreifen. Er bezweifelt dessen Lehrbefähigung; der Pastor muß sich verteidigen, er weist von sich, daß seine Söhne »in den 3 Viertel Jahren, da sie bey mir gewesen, zu Hause nicht gelernt hätten. Wann hieran auch etwas wäre; so wäre es wol nicht zu verwundern, da ich mich, bey meinen unaufhörlichen Amtsarbeiten kaum 2,3 Stunden in mancher Woche mit ihnen beschäftigen können, daß sie im Ganzen bleiben, und das gelernte nicht wieder vergessen möchten, bis ich sie anderwärts unterbringen könnte, welches nun auch wenigstens mit Jakob gewiß würde geschehen seyn, wenn unsere Vereinigung nicht abermals meinen Entschluß geändert hätte. Indessen bin ich überzeugt, daß beide Kinder im componieren und copia vocabularum doch einige profectus gemacht, und Jakob manches in der griechischen Emphasiologie profitiret habe«. Das alles spielt sich um 1763/64 wohl ab.

Jakob und sein Bruder werden wieder Schüler der Kron- und Stadtschule, vielleicht sogar mit Freude, und mit allem, was das Schülerdasein mit sich bringt. »Pflichten, so Scholaren gegen sich und andere zu beobachten haben« heißt es in den Schulgesetzen und unter Artikel 5: »Wenn sie zu Hochzeiten und dergleichen Gelagen gehen wollen, muß solches mit Consens der Präceptoren geschehen, die ihnen einen Unterricht geben, wie sie sich, wie in allem aufzuführen, so auch insonderheit des Tanzens zu enthalten haben.« Und unter der Rubrik der »Pflichten, so Scholaren insonderheit in der Schule wahrzunehmen haben« steht: »Die Scholaren sollen sich zu rechter Zeit in der Schule einfinden und beym Singen und Beten seyn, damit sie nicht mit Stöcken herbey getrieben werden müssen.«

Jahre später wird Lenz ein Gedicht schreiben, an die »hochwohlweisen Herrn Philanthropins« gerichtet:

Die Proben eurer Lieb’ auf meinem Rücken
Verzeiht, sie können nicht mein Naturell ersticken
Ich bitte um ein Wort und sag’ ich mehr
So lächelt ein Welt von Prügel auf mich her …
Das werden Köpfe nur ihr lieben Herrn! auf Erden
Ach lauter Drahtmaschinen werden

Wie lange Jakob Lenz die Dorpater Lateinschule besucht hat, ist ungewiß. Von dem Vierzehnjährigen stammt eine Rede, gehalten am 1. Januar 1765, anläßlich einer Schulfeier. Vielleicht war es die Abschlußfeier. Zehn Seiten ist die Rede lang. »Über die Zufriedenheit« heißt sie.

5
Ein halbes Jahr vor dieser Schulfeier wird in Dorpat die Zarin erwartet. Durch einen Staatsstreich zur Macht gekommen, ist Katharina am 28. Juni 1762 zur Kaiserin von Rußland gekrönt. Der Dorpater Bürgermeister Sahmen, der in Moskau zugegen ist, berichtet es. An den Beginn von Katharinas politischer Laufbahn knüpfen sich viele Hoffnungen.

»Der Staat ist eine tote Masse, die der Monarch erst belebt; eine stillstehende Maschine, die der Monarch erst aufzieht, richtet und ihr ganzes Triebwerk in Wirksamkeit setzt, die nicht eher wirkt als nach seinem Winke. Der Monarch lebt für den Staat, und der Staat lebt durch ihn«, schreibt Schlözer in seinem Buch »Neuverändertes Rußland«. Die Aufklärung nährt die Legende von der guten Herrscherin, und Katharina gibt sich als solche. »Nordische Semiramis« läßt sie sich gern nennen. Die Worte der Aufklärer macht sie zu den ihren. Montesquieus Werk bezeichnet sie als ihr »Gebetbuch«, mit Voltaire tauscht sie Briefe, nennt ihn ihren Freund. Auch mit anderen Philosophen und Schriftstellern steht sie in Briefwechsel. D’Alembert schlägt sie vor, seine Enzyklopädie in Petersburg zu beendigen. Denis Diderot folgt 1775 der Einladung der Zarin an ihren Hof.

Vielseitig und tatentschlossen ist ihre Politik in den ersten Jahren. Die Herausbildung einer eigenen Intelligenz fördert sie. Akademien, Universitäten, Gymnasien werden gegründet, die Erlaubnis zur Errichtung privater Druckereien erteilt. Die Zarin gibt persönlich die Anregung zur Herausgabe einer Vielzahl literarischer Zeitschriften, und sie übersetzt selbst und schreibt, elf Dramen und sieben Opern sind überliefert. Der Lieblingssatz der Zarin ist: »Alles geschieht zum Wohle aller und jedes einzelnen.«

1764, als sie zu der Reise in den westlichen Teil ihres Reiches rüstet, regiert sie gerade zwei Jahre. Die Hoffnungen in den baltischen Provinzen sind groß, denn Katharina ist Deutsche. Ausdrücklich bestätigt sie die von Peter I. bei der Kapitulation von Riga und Reval zugesicherten Privilegien der Deutschen.

Die Nachricht von dem bevorstehenden Besuch wird die kleine Stadt Dorpat in helle Aufregung versetzt haben. Hektisches Treiben herrscht. Auflagen werden erlassen. Das Schwarze-Häupter-Korps, dem alle unverheirateten Männer der Stadt angehören, bereitet sich vor, zu Pferde ihr entgegenzuziehen. Die Standarten werden auf Hochglanz gebracht. Die Armseligkeit der Stadt muß überdeckt werden. In Dorpat wird man, wie in Riga, für den Besuch der Zarin extra Gassen erweitern, Nebengebäude und Anbauten wegreißen, Straßen neu pflastern und schmücken, die Brücken mit roten Lehnen und die Bäume mit Girlanden versehen. Die Bauern aus der Umgebung müssen tagelang vorher die Straßen zur Dämpfung des Staubes mit Wasser benetzen. Der Stadtrat verordnet Absperrungen, unsichere Elemente, Bettler und Gebrechliche, Krüppel und Verunstaltete haben sich zu verbergen, der Zarin nicht unter die Augen zu kommen. Dennoch wird es einem Bürger gelingen, so ist überliefert, ein »selbstgemaltes Transparent« hoch zu halten, auf dem die von Mauern umgebene Stadt Dorpat zu sehen ist und vor den Toren eine Anzahl Menschen, die der Züchtigung eines Mannes zusehen. Darunter steht:

Allergnädigste Kaiserin!
Wir werfen uns zu Deinen Füßen
Um Huld und Gnade zu genießen
Denn unseres Rathes Richterwürde
Legt auf uns sehr große Bürde
Uneinigkeit und Zank herrscht unter dessen Geist
Drum liegt Gerechtigkeit und Polizei darnieder.

Die »Rigischen Anzeigen« verfolgen genau die Reiseroute der Zarin, unter dem Datum Montag, den 20. September 1764, ist der letzte Teil des Berichtes abgedruckt: »Beschluß des Reisejournals Ihrer Kaiserl. Majestät«. Danach näherte sie sich nach dem Besuch von Riga und Reval am 17. Juli Dorpat. »Nach eingenommener Mahlzeit ging der Weg Abends 7 U. weiter nach dem zwei Werste von Dorpt liegenden, und Sr. Erlaucht dem Krn. Oberhofmarschall Graphen von Siebers zugehörigen Gute Ropkoi, woselbst Ih. M. Nachts um 1 U. anlangten. Auf der letzten Station von Dorpt wurden Ih. K. M. von dem Generalfeldzeugmeister von Billbois bewillkomet, und vor der Stadt kamen allerhöchstdenenselben der Bürgermeister mit den vornehmsten von der Bürgerschaft entgegen, welche die Monarchin bis zu erwehnten Gute zu Pferde begleiteten. Das am Wege campierende Jaroslawitsche Infantrieregiment gab, unter der Abfeuerung seiner Feldstücke und Senkung der Fahnen, die gewöhnlichen Honneur ab … Den 18. als am Sonntag, versammelten sich auf gedachtem Gute vormittags um 10 U. alle in Dorpt befindlichen Generalspersonen, Staabs- und Oberoffiziere samt dem Magistrat und der Geistlichkeit, um I. M. zur glücklichen Ankunft alleruntertänigst zu gratulieren. I. M. kamen um 11 U. aus I. Apertements, und nachdem Sie die Vornehmsten zum Handkuß gelassen, erhoben s. allerhöchstdieselben zu Anhörung des Gottesdienstes nach der Stadt. Der Zug ging durch die von der Bürgerschaft errichtete Ehrenpforte, bei welcher einige junge Bürgertöchter in weißer Kleidung standen, die aus ihren Körben den Weg mit wohlriechenden Blumen bestreuten und unter Anführung zweier Pastoren in Deutscher Sprache Psalmen sangen. Während der Zeit wurden von den Stadtwällen die Kanonen abgefeuert.«

Jakob sieht die Zarin Katharina also ganz gewiß. Vielleicht geht er sogar mit dem Vater nach Ropkoi an jenem Sonntagvormittag, um den Zug der Zarin mit zur Stadt zu geleiten. Oder er steht in der Menge, weit vorn, neben dem Vater. Die Kutschen, Karossen, der rote Samt, die Pferde mit dem kostbaren Zaumzeug, die Kleider, der Glanz. Am Nachmittage dann tritt Pastor Lenz mit einer Rede vor die Zarin. »Nach dem Gottesdienste«, heißt es in dem Reisejournal weiter, »begaben s. Ih. M. wieder nach erwähntem Gut des Oberhofmarschalls, woselbst allerhöchstdieselben sämtliche Stabs- und Oberofficiere zum Handkuß liessen, und sodann an einer Tafel von 30 zu Mittage speiseten. Nachmittage um 5 U. war abermahl Kour, und gelangten zur Audienz und zum Handkuß: 1. Die Gemahlinnen der Generalität und der Staabs- und Oberoffiziere. 2. Die evangelische Geistlichkeit aus der Stadt u. vom Lande, wobei der Pastor Lenzen eine Glückwunschungsrede hielt. 3. Der Magistrat u. die Vornehmsten von der Bürgerschaft, bei denen der Bürgermeister Sahmen das Wort führte. 4. Die Russische nach Dörpt handelnde Kaufmannschaft. 5. Die Frauen der angesehnsten Bürger.«

Soweit der Bericht.

Noch lange wird man in der Familie des Pastors Lenz vom Besuch der Zarin Katharina in Dorpat sprechen. Der Dreizehnjährige liest zudem die begeisterten Huldigungsoden auf Katharina, die ein junger Dichter namens Johann Gottfried Herder in den »Rigischen Anzeigen« veröffentlicht. Auch Lenz wird sein erstes Gedicht der Zarin widmen, »an Ihre Majestät Catharina die Zweite, Kaiserin von Rußland«. Der Vater läßt ein in Seide gebundenes Exemplar der Zarin persönlich zukommen. Später verfaßt Jakob noch andere Gedichte auf sie, widmet sie ihr; noch als reifer Mann knüpft er Hoffnungen an sie, in einem seiner letzten Briefe spricht er von der »huldreichen Gnade der großen Monarchin«, als sich ihre Politik der schönen Worte längst als demagogische Phrase entlarvt hat. Diese Illusionen teilt Lenz freilich mit vielen seiner Zeitgenossen. Daß sie bei ihm so stark und ausdauernd sind, mag mit den Kindheitseindrücken zusammenhängen und damit, daß die Vorstellungen des Heranwachsenden über Macht, Regentschaft, Monarchie sich zu einer Zeit bilden, als die Politik der Zarin tatsächlich Anlaß zu Hoffnungen gibt.

 

Bei ihrem Besuch in Dorpat 1764 nimmt Katharina auch die Befestigungsanlagen der Stadt in Augenschein, findet sie in einem unzureichenden Zustand und ordnet ihre Erneuerung an. Diese Vorgänge sind eine weitere Erfahrung von Lenzens Jugend. Sein Interesse an den Kriegswissenschaften, besonders der Fortifikationslehre, hat hier wohl seinen Ursprung. 1767 wird in Dorpat eine Garnisonsschule eröffnet, in der in russischer Sprache Ingenieur- und Kriegskunst unterrichtet wird. Alle technischen Details des Festungsbaus kennt Lenz, und in Straßburg wird er zeitweise junge Offiziere Fortifikation lehren; sein Wissen darüber später in Sankt Petersburg als Chance einer Anstellung am Kadettenkorps betrachten. Der Junge muß zugesehen haben beim Bau dieser Wehranlagen. Jener schon erwähnte Generalfeldzeugmeister von Villebois leitet das Ganze. Er läßt die Türme der alten Schloßruine abtragen und die Steine zum Wehrbau verwenden. Der Wall, der die Stadt zur einen Seite begrenzt, erreicht in den nächsten Jahren eine ansehnliche Höhe.

Jakob muß auch die Menschen gesehen haben, die diese Arbeit tun. Wie Sträflinge werden sie gehalten, zum »Festungsbau nöthige Arbeitshäuser« errichtet man innerhalb der trostlos ragenden Ruinen des alten Rathauses, hölzerne Verschläge, dort vegetieren die Leute. Auch Soldaten, ganze Regimenter werden zu der Arbeit herangezogen.

Ein anderes Erlebnis, das in Jakobs Kindheit fällt, ist die Dorpater Messe. Dorpt ist Stapelstadt für Rußland. Vom Hafen Baltischport führt der Weg nach Sankt Petersburg durch die Stadt. Der Krieg hat viel zum Erliegen gebracht, aber langsam erholen sich Handel und Gewerbe. Viele Dorpater Bürger leben von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, Zimmervermietung und Beköstigung Fremder bringen Nebeneinnahmen. Dreimal im Jahr findet der Jahrmarkt in Dorpat statt, zu Mariä Himmelfahrt, zu Jakobi und zu Michaelis. Die größte Messe ist im Winter, am 7. Januar wird sie eröffnet und dauert den ganzen Monat über an. Von Riga und Narwa kommen russische und deutsche Kaufleute, Viehhändler und Eisenkrämer und Händler mit Waren aller Art. Salz, Heringe, Wein, Flachs, Tuche, wollenes Zeug, Spitzen und Kattune werden angeboten. Sensen, Ellenkram, Glas, Gewürze, Nürnberger Kram, Tobak liegen in den Buden nebeneinander. Da der Absatz der Krämer klein ist, versucht jeder von den »begehrigen Sachen etwas zu halten«. Mit Schiffen und Booten kommen die Waren über den Embach, aus dem Pleskowischen Balken, Holz, Flachs, Talg, Teer und dergleichen, aus der Peipus und der Werzjew Fische, aus dem Oberpahlschen das Brennholz, das bis unter die Stadt geflößt wird.

Jakob auf dem Jahrmarkt. Das ist die Welt, fratzenhaft häßlich und geheimnisvoll schön zugleich. Unverwandt wird der Junge in die Gesichter blicken, die verzerrten, die leidvollen, die überlegenen. Die Gesten der Menschen, ihre Art miteinander umzugehen, das Feilschen, das Handeln. Stimmengewirr in verschiedenen Sprachen, Schreien, Rufen der Händler und Käufer, das Gedränge, die Ausdünstungen, die Gerüche, verlockend und abstoßend. Die Esten in ihren Röcken und Winterpelzen aus schwarzbrauner Wolle, Männer- und Frauenkleider vom gleichen Schnitt, die russischen Kaufleute in ihren Kaftanen, die Kaufmannsfrauen mit den modisch schwarz angemalten Zähnen. Später im Elsaß wird Lenz die Kleidung der Esten, Letten und Russen Pfarrer Oberlin aufzeichnen, wird von ihren Bräuchen und Lebensgewohnheiten sprechen.

Nach den Jahrmärkten fällt die Stadt Dorpat wieder in ihre kleinliche Gemächlichkeit zurück. Der Zunftstreit gewinnt wieder die Oberhand. Register endloser Händel über die Grenzen der Befugnisse. Da verklagen die Bäcker einen Koch, der Torten bäckt, die Große Gilde prozessiert mit dem Rat darüber, ob die Buchbinder zur Großen oder zur Kleinen Gilde gehören, da beschweren sich die Kaufleute über den Hutmacher Vogel, weil er sich Vitriol hat kommen lassen, da fangen die Fuhrleute mit einem Offizier Händel an, weil er Rigische Waren führt, »ein Ruß, welcher sich mit Aschirkassischen Taback hier eingefunden hatte, durfte denselben an Niemand als hiesige Kaufleute veräußern« und so fort.

Sind die Jahrmärkte vorbei, geht man wieder zu den Dorpatern einkaufen, in Peukers Bude zum Beispiel, einer der kleinen russischen hölzernen Verkaufsstände, die überall in der Stadt sind. Oder man geht zu Johann Rosenthal, dem wohl angesehensten Kaufmann der Stadt. Er annonciert seine Waren sogar in den »Rigischen Anzeigen«. Unter dem Datum des 2. Dezember 1762 bietet er »frisch Harlemmer Öl in Gläsern zu 35 und 50 Cop. als Medizin bei Gicht, Podagra und Steinschmerzen«.

Überhaupt die »Rigischen Anzeigen«. Als Jakob zehn Jahre ist und schon lesen kann, werden sie im ersten Jahrgang herausgegeben. »Rigische Anzeigen von allerhand Sachen, deren Bekanntmachung dem gemeinen Wesen nöthig und nützlich ist.« Wöchentlich, alle Montage, erscheinen sie. Ukase, gouvernementliche Verordnungen, Beförderungen, Todesfälle, Verkauf beweglicher und unbeweglicher Güter, Nachrichten über entlaufene Leute, Personen, die ihre Dienste antragen, Preise, Wechselkurse, ein- und auslaufende Schiffe. »Schiffer Jefim Peteroff nach Pillau mit Proviant, Schiffer Illia Issakoff dito; Schiffer Frericks Lammerts nach Amsterdam mit Balken und Holzwaaren, Schiffer Hans Tanch von Stockholm mit Ballast und Schiffer Negotie, mit Theer, Porcellain, zinnerne Leuchter, Kuchenpfannen, eiserne Platen, papierne Tapeten, irdene Schüsseln, Thee- und Tischkesseln, eisernen Nägel«. Schiffer Nanne Abbes aus Amsterdam bringt »Caffee, Candiszucker, Cardustabak, frische Heringe, Perlgraupen, Weinessig, Mallaga Wein etc.«.

Die Angaben über die entlaufenen Leute. »Dem Herrn Major von Buddenbroch zu Planhoff ist am 11. Jun. dieses Jahres ein von dem Gute Karoben erblich gekaufter Estland. Junge namens Hindrich entlaufen. Selbiger ist 18 bis 19 Jahre alt, von mittelmäßiger Größe, breitem Gesicht, stumpfer Nase, kleinen grauen Augen und schlecht hellbraunen Haaren, geht in Bauernkleider, versteht etwas vom Tischlerhandwerk, macht Violinen, spielt auch etwas darauf und versteht Brandwein zu brennen. Für die Einlieferung dieses Häuptlings werden 10 Rubeln versprochen.« Oder: »Dem Herrn Oberleutnant Matwej Murawjew vom Rigischen Garnisons-Regiment in Pernau ist ein ihm erblich überlassener Bauernjunge von dem Gute Lesse, Namens Juri, am 29. verwichenen Monats entlaufen. Selbiger ist 30 J. alt, von mittelmäßigem Wachstum und länglicher Nase, hat rotbraune Haare, einen abgeschorenen Bart, länglich Gesicht mit eingefallenen Backen und herunterhangenden Augenbrauen, geht in einem schwarz-braunen Bauerrock von Wattmal mit einer breiten schwarz lederen Mütze auf dem Kopf u. an den Füssen wollene Strümpfe und Pasteln. Für die Einlieferung desselben verspricht man zehn Rubel.«

 

Andere Ereignisse, die nachweislich in Jakobs Kinderjahre fallen, sind die Verheerungen der Stadt Dorpat durch Feuer und Wasser. Fast jedes Jahr im Frühjahr, wenn der Schnee zu schmelzen beginnt und der Eisgang einsetzt, wandelt sich der durch Dorpat fließende Embach in einen reißenden Strom. Kommt das Frühjahr schnell, mit Föhn und Winden, ist die Katastrophe besonders groß. Über Nacht kann es geschehen. Weite Teile der Stadt und der Vorstadt werden überschwemmt, vieles wird vernichtet, und oft sind auch Menschenleben zu beklagen.

1763, als Lenz zwölf Jahre alt ist, wird er in Dorpat Augenzeuge eines großen Brandes. Schon 1755 hat eine Feuersbrunst viele der gerade nach dem Krieg wieder errichteten Häuser zerstört. Jetzt bricht das Feuer in der Vorstadt aus und legt zahlreiche kaum beendete Neubauten in Schutt und Asche. Der ganze Stadtteil ist von den Flammen erfaßt, glutrot der Himmel. Das Kind sieht die schreienden, sich und ihre Habe rettenden Menschen. Über Stunden. Das Feuer bespringt die Stadt. Danach verkohlte Balken, fliegende Asche, Obdachlosigkeit, Not.

6
Vom Strafgericht Gottes hat der Vater gesprochen, als in Wenden das Feuer ausbrach. Was werden nun für bittere vorwurfsvolle Worte von der Kanzel der Dorpater Johanniskirche auf die Gemeinde fallen?

»Laß den Herzen seinen Vortrag lauter Spieß und Nägel seyn« erbittet Sohn Jakob für den Vater von Gott. Im kindlichen Wunsch spiegelt sich die väterliche Auffassung. Predigten müssen die Seele geißeln. In einem Neujahrsgedicht für die Eltern stehen diese Zeilen Jakobs. Die ersten Verse, die überliefert sind. In Riga werden sie aufbewahrt. Zwölf Jahre ist Lenz da. In gotischen Buchstaben mit klaren, schönen Schriftzügen schreibt er das Gedicht auf einen Foliobogen, das Titelblatt verziert er mit Ornamenten in Grün, Gelb und Rot und zeichnet rechts und links trompeteblasende Engel.

Wir sehen ihn, wie er dasteht, schüchtern und wichtig, in der guten Stube, inmitten der Geschwister zu Silvester 1763/64. Die Familie Lenz hat sich in den Dorpater Jahren vergrößert. Im September neunundfünfzig ist Karl Heinrich Gottlob geboren. Ein Jahr später Jakobs dritte Schwester Anna Eleonora. Im August 1761 der letzte Sohn der Familie Lenz, Benjamin Gottfried. Acht Kinder sind sie, das älteste ist schon in Königsberg, sieben leben im Haus. Auswendig sagt Jakob sein Gedicht her: »Neujahrs Wunsch an meine hochzuehrende Eltern von dero gehorsamsten Sohn Jakob Michael Reinhold Lenz«:

Seegne meiner Eltern Paar. Seegne Vater, meinen Vater,
In der künftgen Jahreszeit. Sey sein Licht und sein Berather,
Flösse immer seiner Seele deine heilgen Triebe ein,
Laß den Herzen seinen Vortrag lauter Spieß und Nägel seyn …
Hilf auch, Jesu! meiner Mutter, seegne sie in diesem Jahr,
Wende von ihr Not und Schmerzen, Hilf ihr doch auch in Gefahr.
Reich ihr deiner Hilfe Hand, will das Glaubens-Schifflein sinken,
Laß sie, wenn ihr Herze dürr, sich recht satt an Gnade trinken …

Die Autorität des Vaters wächst wohl zunächst in den Augen des Kindes in Dorpat. Der Vater ist ein wichtiger Mann in der Stadt, predigt vor einer großen Gemeinde, übt Gerichtsbarkeit aus, ist Beisitzer im Konsistorium. Die Freunde des Vaters sind der Herr Bürgermeister, der Herr Syndikus, der Herr Notär, der Herr Polizeibürgermeister, die Ratsherren. Einer gemeinsamen Tafelrunde gehören sie an.

Die Predigten sollen für den Heranwachsenden der Maßstab der Dinge sein, die Weltsicht des Vaters die seine. Das wird er fordern und erwarten. Aber: Eine heimliche Emanzipation des Sohnes von der Gedankenwelt des Vaters muß schon in den Dorpater Jahren stattgefunden haben. Zwei Dinge sind dabei entscheidend: Der ständige Krieg, den Pastor Lenz mit dem Stadtrat und den Gilden von Dorpat führt, und der Einfluß der Freunde des Vaters auf den Jungen.

 

Die Streitigkeiten mit der Stadt dauern die zwanzig Amtsjahre von Pastor Lenz an. Sie beginnen schon 1761, als er kaum zwei Jahre in Dorpat ist. Da sprechen ihm die Dockmänner Georg Geisendörffer, ein Hutmacher aus Franken, der Sattler Schumann und der Schustermeister Diedrich Kiens das Mißtrauen aus; sie weigern sich, bei ihm zur Beichte zu gehen, verlangen als Beichtvater den Diakonus Reichenberg. Pastor Lenz gelingt es zu diesem Zeitpunkt noch, das Stadtkonsistorium für sich einzunehmen. Eine Resolution zu seinen Gunsten wird am 29. Oktober 1761 verfaßt; die drei Handwerker erhalten einen Verweis wegen »frechen Frey- und Rottengeistes, hämischer Ausdrücke und niederträchtiger Angriffe« auf den Pastor.

Später gibt es keinerlei Belege mehr, daß sich die Stadt für ihn einsetzt, im Gegenteil, die Große, die Mariengilde, in der die Kaufleute vereinigt sind, die Antoniusgilde der Handwerker und der Stadtrat wenden sich wiederholt gegen Lenzens Vater.

Im Lenzschen Familienarchiv in Riga sind viele seiner wütenden Verteidigungsschriften an die Stadt Dorpat aufbewahrt. Sind auch die Umstände im einzelnen nicht mehr zu klären, da die Schriften der Gegenpartei fehlen, so wird doch in der Tendenz sichtbar, daß Pastor Lenz in seinen Dorpater Amtsjahren ständig die Eigenschaften probt, die ihn dann beim Umschwung der Katharinäischen Politik zur offenen Adelsreaktion zum ersten Mann der Kirche Livlands machen.

Ein Beispiel: sein Kampf gegen die Dorpater Herrnhuter. Geheime nächtliche Zusammenkünfte werden 1762 angezeigt, der estnische Küster Ignatius und der Dorpater Arzt Schmidt sollen die führenden Leute sein. Dem Esten wird unter anderem vorgeworfen, daß er sich nicht nur von »Undeutschen«, sondern auch von Deutschen die Hände hat küssen lassen. Wenig später geht Pastor Lenz gegen die Dudelsackpfeifer vor, zwingt die Stadtleitung, »mehrere Sackpfeifer und verschiedene Mezen am 2. Ostertage zum Teil zu verjagen, zum Teil ins Gefängnis zu bringen«. – »Sabbaths- und Festgreul schlimmster Art«, eifert er von der Kanzel der Stadtkirche am Ostersonntag, hätten »die Sackpfeifer und einige Schenckwirte« angerichtet.

»Rebellen und Meutereymacher« nennt Pastor Lenz die Dorpater Bürger immer wieder.

Ihre Klagen nun gegen den Stadtpfarrer Lenz sind unterschiedlicher Art. Daß die Predigten unpünktlich beginnen, die Kinder nicht katechisiert werden, die Bibel- und Erbauungsstunden nichts taugen, er den Armen keine Leichenpredigt halten wolle, die Kranken nicht oft genug besuche, bei Taufkindern, Leichen und Brautpaaren keine Zeiten festsetze, und immer wieder der Vorwurf, seine Predigten seien zu lang. »Haben nicht Jesu und seine Apostel auch öfters lange gepredigt?« entgegnet er darauf. Was auch im einzelnen gewesen sein mag, diese Klagen sind ein Indiz, daß er als Seelsorger nicht das Vertrauen der Dorpater Bürger hat. Die Kinderkatechisationen werden 1768 eingestellt, weil kein Kind kommt, Jahre später die Bibelstunden. »Unordnung in den Amtsverrichtungen« wirft die Stadt ihm vor, und die Konflikte spitzen sich so zu, daß die Kaufmannsgilde und die Handwerkergilde mit Klageschriften wider den Pastor auftreten, ihm »alle das oberheitliche Amt verkleinernde Ausdrücke auf der Kanzel« verboten werden. Pastor Lenz verfaßt eine Verteidigungsschrift, die in den Gilden verlesen wird: »Habe ich nicht den Armen das Accidens immer gar geschenket? Habe ich auch nicht als ein redlicher Patriot vor Ihre Kayserlichen majesté theurestem Antlitz gestanden, und in der Rede an Allerhöchst Dieselben das Elend und Armuth der Stadt auf’s dringendste vorgestellet und sie Ihrer hohen Gnade empfohlen? Habe ich nicht selbst nach dem Brande von 1763 an die Verunglückten 60 Rubel aus meinem Beutel ausgetheilet, und mich dadurch so erschöpft, daß ich kaum einen Rubel in cassa behalten? Wohlan siehe! gegen einen Mann, der so viele Verdienste für das geistliche und leibliche Wohl der ganzen Stadt hat, gegen einen so arbeitssamen und unermüdeten Lehrer, gegen einen so eifrigen Patrioten verfährt man so hart, den prostituiret man so in einer öffentlichen Schrift vor den Ohren beyder löblicher Gilden-Glieder, gegen den suchen meine Gegner die ganze Stadt aufzureizen, den bedrohen sie und heischen wider ihn die Strafe und Rache seiner lieben Obrigkeit. O schreyende Undankbarkeit!« Dieses Schreiben von Pastor Lenz ist vom 13. Mai 1768.

Da ist Jakob schon sechzehn, wird bald die Stadt verlassen. Aber die ganzen Jahre über ist er Zeuge dieser Auseinandersetzung zwischen seinem Vater und der Stadt. Hinzu kommen die ständigen Reibereien des Vaters mit seinen Amtsbrüdern Lange und Reichenberg, mit »lieblosen Katechismuspredigten« greifen sie sich von der Kanzel aus an. Die Atmosphäre in der Familie wird davon beeinträchtigt werden. Die Familie wird der letzte Hort der Rechthaberei des Vaters sein.

Mit Randglossen von Gadebusch ist die handschriftliche Verteidigung des Vaters versehen. Dieser Gadebusch, seit 1750 in der Stadt, seit 1766 Syndikus und später viele Jahre Bürgermeister in Dorpat, Freund des Pastors Lenz zuerst, dann zunehmend Gegner – gewinnt Einfluß auf den heranwachsenden Jakob. An der Emanzipation des Sohnes vom Vater hat Gadebusch ganz gewiß einen entscheidenden Anteil.

 

Friedrich Konrad Gadebusch ist einer der interessantesten livländischen Aufklärungsschriftsteller. 1719 in Altefähr auf der Insel Rügen geboren, Jurastudium, Hofmeister, Reisebegleiter, nun in Dorpat. Dieser Gadebusch hat Kontakt zu einem geistig sehr aufgeschlossenen Kreis in Riga, der sich dort um Kaufmann Behrens sammelt und dem der junge Herder und Hartknoch, der spätere Verleger Kants, angehören, den Hamann aus Königsberg öfters aufsucht. Gadebusch ist Mitarbeiter an der von Friedrich Nicolai in Berlin herausgegebenen »Allgemeinen Deutschen Bibliothek«, später an der von Bacmeister in Petersburg erarbeiteten »Russischen Bibliothek«.

Er ist es auch, der 1767 von der Zarin Katharina als Vertreter Dorpats in die »Gesetzgebende Kommission« berufen wird, die vom August des Jahres bis zum Dezember 1768 arbeitet und einen bedeutenden, wenn auch letztlich scheiternden Versuch darstellt, den russischen Feudalstaat an neue Gesellschaftsprozesse anzupassen. Er wird Lenz davon erzählt haben.

An diesen Gadebusch ist der erste Brief gerichtet, den wir von dem dreizehnjährigen Jakob besitzen. Ein Schreiben voller konventioneller Phrasen. »Hoch Edelgeborner Hochgelehrter Herr Secretair Verehrungswürdigster Gönner! Ew. HochEdelgeb. haben mich durch die neue Probe von Dero schätzbaren Gewogenheit außerordentlich beschämt. Meine Feder ist zu schwach, Denenselben die regen Empfindungen meines Herzens darüber zu schildern. Ich weiß Ew. HochEdelgeb. meine Dankbegierde auf keine andere Art an den Tag zu legen, als daß ich meine gestrigen Wünsche für Dero Wohlseyn wiederhole, und die gütige Vorsicht um die Erhörung derselben anflehe. Der Herr überschütte Dieselben und Dero werthes Hauß in künftigen Jahr mit tausend Seegen und Heil. Er erhalte Ew. Hoch Edelgeb. bis zu den spätesten Zeiten im ersprießlichen Wohlergehen.« Und so weiter.

Hinter der Konvention steht eine menschliche Beziehung. Jakob muß sich oft in Gadebuschs Haus aufgehalten haben. Dort ist eine große Bibliothek, zu der hat er Zugang. Viele Neuerscheinungen hat Gadebusch als Mitarbeiter von Nicolais »Allgemeiner Deutscher Bibliothek«. Da Lenzens Vater kaum Bücher aus Deutschland bezieht, auf denen wegen der langen See- und Landfracht hohe Zölle liegen, es in Dorpat weder eine öffentliche Bibliothek noch einen Buchladen gibt, die Lesegesellschaft, in der sich Prediger, Rechtsgelehrte und Adlige zusammentun, dort erst zehn Jahre später gegründet wird, ist Gadebuschs Bibliothek für Jakob wichtig. Viele Stunden und Tage wird er dort gewesen sein. Entronnen den Lektürevorschriften des Vaters, den staubtrockenen Kompendien von Rambach, Heilmann, Baier und Dieterikus. Entronnen den Verboten des Vaters, über die er später sarkastisch schreibt: »Bei unseren leichtsinnigen Zeiten fürchtete er nichts so sehr, als daß sein Sohn, sobald er dem väterlichen Auge entrückt würde, auf den hohen Schulen von herrschenden freigeisterischen und sozinianischen Meinungen angesteckt werden möchte. Denn ob er gleich den Sozinus nie gelesen und nur aus Walchs Ketzerliste kannte, so hatte er doch einen solchen Abscheu vor ihm, daß er alle Meinungen, die mit seinen nicht übereinstimmten, sozinianisch nannte.«

Gadebusch mag die Wißbegier des Jungen und seine Sensibilität gespürt haben. Und Jakob beeindruckt der Zuschnitt dieses Mannes, seine Toleranz und Großzügigkeit.
Eine Ahnung dessen, was in der geistigen Welt Europas vor sich geht, muß dieser Gadebusch dem jungen Lenz vermittelt haben, der da in jener öden Kleinstadt mit ihren kleinlichen Händeln unter dem Regime eines kleinlich denkenden Vaters lebt.

1762 ist Rousseaus »Émile« und sein »Contrat social« erschienen, 1764 kommt Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Altertums«, 1766 veröffentlicht Lessing seinen »Laokoon«, ein Jahr später »Minna von Barnhelm« und die »Hamburgische Dramaturgie«. Ebenfalls im Jahr 1767 erscheint in deutscher Sprache Lawrence Sternes »Tristram Shandy«, ein Jahr später »Yoricks empfindsame Reise«.

Im benachbarten Riga veröffentlicht Johann Gottfried Herder 1766 die Schrift »Über die neuere deutsche Literatur, Fragmente«, 1769 seine »Kritischen Wälder. Oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften, 1.–3. Wäldchen«. Lenz wird es sicher lesen. Wie er auch schon sehr zeitig Friedrich Gottlieb Klopstocks erste drei Gesänge des »Messias« gelesen haben muß. Dies vielleicht sogar unter den Augen des Vaters. Für Pastor Lenz ist es ein frommes Erbauungsbuch, das er unbesorgt in die Hausandacht einbeziehen kann. Für Jakob, den Sohn, aber ist es Dichtung. Poesie als Religion. Religion als Poesie, als Sehweise der Welt, so faßt er Klopstocks »Messias« offenbar auf. Er verschlingt das Buch, macht daraufhin eigene Versuche, ahmt Klopstock nach. »Der Versöhnungstod Christi« heißt sein erstes Gedicht. Auch Edward Youngs »Nachtgedanken« und Lyrik von Ewald von Kleist muß er gelesen haben. Spuren davon in eigenen Versuchen bezeugen es.

Gadebusch wird ihn dazu ermuntert haben und auch ein anderer Freund des Vaters, Theodor Oldekopp, Prediger der estnischen Gemeinde in Dorpat. Er ist es, der Jakobs erste Veröffentlichung vermittelt. »Ich mache mit vielem Vergnügen« heißt es in den »Rigischen Anzeigen« vom Jahr 1766, »dieses Gedicht bekannt, welches von einem fünfzehnjährigen Jünglinge allhier verfertigt worden. Ein Paar kleinere Gedichte von ihm entdeckten mir seinen dichterischen Geist. Ich vermuthete, daß er in der höheren Dichtkunst einen Versuch mit glücklichem Erfolg würde wagen können. Ich muntere ihn dazu auf, und hier ist der Versuch, der seinem glücklichen Genie Ehre macht. Ich versichere, daß dieses Gedicht seine eigene Arbeit sey, sowohl der Plan als auch die Ausführung … Anweisungen in der Dichtkunst hat er weder gelesen noch gehört. Kenner werden bald bemerken, daß die Klopstockische Muse ihn begeistert habe. Er ist wahr, er hat mit Empfindung gelesen, aber nicht ausgeschrieben. Ein solch seltenes Genie verdient alle Aufmunterung. Ich hoffe die Leser werden mit mir wünschen, daß die dichterischen Gaben dieses hoffnungsvollen Jünglings sich immer mehr zu Ehren unseres Vaterlandes entwickeln und erhöhen mögen.«

Und ein dritter muß für Jakob von Wichtigkeit gewesen sein. Die persönlichen Beziehungen zu ihm sind nicht belegt. Er lebt und arbeitet damals in der Nähe von Dorpat, ist Pastor wie Jakobs Vater. August Wilhelm Hupel, kaum dreißigjährig, geboren in Buttelstedt bei Weimar, Studium in Jena, dann Auswanderung; in Ecks, dreieinhalb Meilen von Dorpat Prediger, hernach in Oberpahlen, auch in der Nähe der Stadt Dorpat. Dort bleibt er sein Leben lang, trotz anderweitiger Berufungen. Lenz wird immer mit Hochachtung von Hupel sprechen, wird ihn von Moskau aus als Professor für die neu zu gründende Dorpater Universität vorschlagen. Lenz muß ihn schon als Junge gekannt haben, zumal sein Vater einige Zeit im Schloß Oberpahlen bei Baron Münnich predigt und Jakob als Fünfzehnjähriger an einer Hochzeit in Oberpahlen teilnimmt. August Wilhelm Hupel ist insofern von großem Interesse, da er als livländischer Aufklärungsschriftsteller den stärksten sozialen Gestus hat, sich nicht nur mit Topographie und Landeskunde, Gerichtsbarkeit und Geschichte, sondern auch mit der Lage der Ärmsten befaßt, mit der der Soldaten vor allem. Das tut er unter einem sehr merkwürdig erscheinenden Aspekt. Er sieht in der Sexualität eine dem Menschen, vor allem dem zur Enthaltsamkeit gezwungenen Soldaten auferlegte Qual, eine Versklavung. Als Lösung schlägt er die Kastration vor, plädiert aber gleichzeitig für die Heirat. »Vom Zweck der Ehen oder dem Versuch, die Heirat von Castraten zu verteidigen« heißt eine Publikation, eine andere »Origenes oder die Verschneidung«. Diese widersinnigen Vorschläge erwachsen aus der Unmenschlichkeit und Unnatur der gesellschaftlichen Verhältnisse im damaligen Livland. Der junge Lenz wird mit diesen Auffassungen konfrontiert worden sein, als ernsthafte Vorschläge ernsthafter Menschen erlebt er sie.

Gadebusch und Hupel lenken Lenz auf soziale Zusammenhänge. Die Tatsachen selbst hat er vor Augen. In Casvaine damals die Lostreiber, die Leibeigenen mit den Strohkränzen; die, die vor der Kirche ausgepeitscht wurden. In den Dorpater Jahren verschärfen sich die Gegensätze, wenn Jakob sie auch nicht mehr so unmittelbar erlebt. Der »große Bedruk der Bauern« nimmt zu. Alle Reformvorschläge werden vom Adel abgelehnt, 1765 das Römerhoffsche Bauerngesetzbuch von Schoultz, im gleichen Jahr die Vorschläge des livländischen Generalgouverneurs Browne. Ein einziges Zugeständnis des livländischen Landtages: Die Leibeigenen erhalten das Recht, bei den Gerichten Schutz gegen die Willkür der Gutsbesitzer zu suchen. Das ist formal, bleibt doch alle Gewalt in den Händen der Gutsbesitzer. Aber 1765 wird es als große Errungenschaft in ganz Livland in lettischer und estnischer Sprache von den Kanzeln herab verkündet.

 

Im gleichen Jahr ereignet sich in der Nähe von Dorpat ein in den Augen der Herrschenden ungeheurer Vorfall. Ein Diener begehrt gegen seinen Herrn auf. Es ist ein deutscher Bediensteter, den Baron Johann Reinhold von Igelströhm, aus dem Siebenjährigen Krieg kommend, nach Livland mitbringt. Der Herr schlägt den Diener, dieser greift ihn daraufhin mit dem Degen an. Verwundet ihn offenbar nur leicht, denn am 16. Juli 1766 passiert es, einen Monat später, am 25. August, feiert Igelströhm schon auf dem Schloß seines Schwiegervaters in Oberpahlen seine Hochzeit. Jener Diener aber wird gebrandmarkt und lebenslänglich nach Sibirien verbannt. Er wäre sofort gehängt worden, aber in Livland ist gerade in den Jahren die Todesstrafe abgeschafft worden. Hupel berichtet 1774 den Vorfall als Beispiel einer fortschrittlichen Gesetzgebung, »nur wenige Länder können sich solcher der Menschheit zur Ehre gereichender Criminaleinrichtungen rühmen«.

Jakob erfährt es, hört das Urteil. Das Ereignis muß in Dorpat in aller Munde sein. Auf dem Marktplatz in Dorpat wird der Verbrecher öffentlich auf einem Holzpodest am Schandpfahl ausgestellt und vor den Augen der Einwohner gebrandmarkt. Igelströhm sieht vom gegenüberliegenden Balkon aus zu.

Igelströhms sind mit Pastor Lenz bekannt, wir erinnern uns eines gleichen Namens unter den Taufpaten Jakobs. Die Einladung zur Hochzeit ergeht auch an Lenzens Vater. Und an Jakob. Er erhält vielleicht den Auftrag, die Hochzeitsgesellschaft mit Versen zu erfreuen.

Fast fünfzig Jahre nach Lenzens Tod wird ein Freund der Familie unter seinen Papieren die Handschrift eines kleinen Dramas hervorholen, das ebenjene Ereignisse mit Igelströhm und dem Diener behandelt. Ein Rührstück nach dem Muster der französischen Comédie larmoyante ist es. Viel Nachahmung, Konvention. Aber Lenz läßt den Diener, den Verurteilten seine Tat erklären. Sein Motiv ist die Verteidigung der persönlichen Freiheit. Als er nach zwei Tagen unerlaubter Entfernung auf das Gut des Barons zurückkehrt, sagt er, sein Herr dürfe nicht wagen, ihn wegen seines Ausbleibens »anzurühren«. – »Meine Ehre soll er nicht angreifen.« Als der Baron ihn dennoch schlägt, entgegnet er: »Es ist meine Pflicht, meine Ehre zu retten – und sollte ich selbst darüber unglücklich werden.« Im vollen Bewußtsein, sich als freier Mensch nicht erniedrigen zu lassen, führt er die Tat aus.

Das ist eine ungewöhnliche Sicht. Hier haben wir den Beleg, wo Jakob seine Augen hatte.

Die Annahme, das Stück sei am Vorabend der Hochzeit auf Schloß Oberpahlen aufgeführt worden, dürfte kaum zutreffen. Wahrscheinlich trägt Jakob ein Gedicht vor, das den gleichen Gegenstand behandelt. »Festlied« heißt es. In anakreontischer Manier wird das Liebesglück von Braut und Bräutigam nach dem überstandenen Schreck ausgemalt. Der Diener aber ist ein »Ungeheuer«, ein »schwarzer Mörder«, Gottes Auge erblickt und straft ihn. Das wird den Beifall der Gäste und den des Vaters finden.

Bei dem Drama aber würde das Lachen im Halse steckenbleiben. Wie der Sohn auf solche Gedanken kommen kann. Ja, wie? Er entfernt sich von der vorherrschenden Denkweise. Auch sein in Dorpat begonnener großer Gedichtzyklus »Die Landplagen« zeigt es. Krieg, Not, Zerstörung, Vergewaltigung, Gewalt, Mord an Kindern sind die Gegenstände. »Furchtbar« nennt er den »Stoff« seiner Dichtungen, »traurig« seine »Muse«. Das Unglück seines Vaterlandes beschreibt der Sechzehnjährige aus eigener Erfahrung. Mit harten, kompromißlosen Worten, eindringlichen Bildern. Die Kritik des Provinzblattes wird schreiben, daß man den jungen Dichter wie die Heuschrecken selber zu den Landplagen zählen müßte. Realismus ist nicht gefragt.

 

Sechzehn ist Lenz. Siebzehn wird er. Es ist Zeit zum Studium. Theologie bestimmt der Vater. Sind es Geldsorgen, Warten auf den jüngeren Bruder, die den Vater den Sohn so spät auf die Universität schicken lassen? Mehrmals richtet Pastor Lenz Gesuche an die Stadtleitung, bittet um finanzielle Unterstützung für das Studium seiner Söhne. Die Stadt lehnt ab, die Kassen seien leer.

Sommer 1768 wird es werden.

Ein Jahr zuvor, zum Winteranfang, macht Jakob eine Reise. Friedrich David, sein ältester Bruder, erhält nach Studium und drei Jahren Hofmeisterdasein ein Pastorat im Kirchspiel Tarwast, sechzig Meilen von Dorpat entfernt. Jakob darf den Bruder begleiten und ihm bei der Einrichtung seiner Haushaltung behilflich sein. »Nach einer langsamen und ziemlich beschwerlichen Reise«, schreibt er am 9. November 1767, »sind wir endlich am verwichenen Mittwoch Nachmittag um zwey Uhr glücklich und gesund in Tarwast angekommen. Der Weg ist fast inpassabel, und die ersten Tage hatten wir ungemein starke Stürme und Regen.« Die Landstraßen sind aufgeweicht, kaum noch zu erkennen, allein die Werstpfosten markieren sie. Von Dorpat in westlicher Richtung, nach der Abbiegung von der Pleskower Chaussee, gibt es keine Werstpfosten mehr. Von »scharfem Frost«, von »Schnee und Sturm«, spricht Jakob am 24. November.

Fast zwei Monate verbringt Lenz in dem Dorf Tarwast. Seine ersten ausführlichen Briefe stammen aus jener Zeit. Er berichtet Alltäglichkeiten, schreibt, sie werden zum »vor und nachmittäglichen Kaffee und zur Mahlzeit« oft von Leutnant Krüder von Arrohoff oder vom Rittmeister Pietsch »hereingebeten«, weil der Bruder »mit seiner Wirtschaft noch nicht völlig im Stande ist und wir erst mit dem Anfange der künftigen Woche unsere eigene Menage anfangen wollen«. Über die Frau des vorigen Pastors heißt es: »Die Wittwe ist eine simple Frau mit der der Umgang ziemlich langweilig wird: aber die Kinder sind rechte Unholde, und ich habe sie noch in meinem Leben so ungezogen nicht gesehen. Die jüngere Tochter strich ohne uns zu grüßen mir wie ein Wirbelwind vorbey und nahm ihren Weg gerade nach dem Tisch zu, auf den sie mit einem Satz sich heraufschwung und die Aelteste machte es eben so, nur mit dem Unterschied, daß sie bey jedem Schritt eine Art von Kniks machte, wie ihn ihr die Natur gelehrt hatte. Bey Tisch schreyt alles so untereinander, daß wir stumm seyn müssen, weil wir unser Wort nicht hören können.«

Jakob hat viel Zeit. Er reitet, geht spazieren und ist »so vergnügt, wie man es in der Einsamkeit seyn kann. Ich lese, oder schreibe, oder studire, oder tapeziere – oder purgiere, nachdem es die Noth erfordert.« Von einer Kur, die er in Tarwast macht, berichtet er seinem Vater, die ihm »gut bekommt … außer der kleinen Unbequemlichkeit«, die ihm »Diät, das Warmhalten, das Laxieren u. dgl. machen«. Als erstes Zeichen seiner zukünftigen Krankheit ist das gedeutet worden. Wahrscheinlich hat es sich um eine Wurmkur gehandelt, in Livland, wo man viel Fisch ißt, ist diese Infektion verbreitet.

Den zur Neige gehenden November und den Dezember verbringt Lenz in Tarwast, die Heilige Nacht und die Jahreswende 1768/69. Strenger Winter, Schneeflächen, zugefrorene Seen. Lenz an den Vater: »eine Bitte, gütigster Herr Papa! zu der mich die Noth und Dero väterliche Gewogenheit berechtigen. Ich habe bey der neulichen Herreise empfunden, wie wenig ein bloßer Roquelor bey Reisen in kühler und windiger Witterung vorschlage. Ich kann mir also leicht vorstellen, wie es anziehen muß, wenn man im Winter im bloßen Mantelrock reiset. Ich weiß wirklich nicht, wie ich einmal nach Derpt zurückkommen oder falls des Bruders Hochzeit im Januar seyn sollte, zu der er mit seiner Equipage mich mitnehmen will, wie ich die Reise dorthin werde thun können. Ueberdem ist mir ein Pelz allezeit nöthig: ich nehme mir also die Freyheit, Sie ganz gehorsamst zu bitten, ob Sie mir nicht können für 3 Rubel das Futter dazu, nemlich einen Sack schwarzen Schmaßchen aus den Russischen Buden ausnehmen lassen. Das Oberzeug darf nur Etemin seyn: und da Sie sich in dieser Zeit ohnehin ausgegeben haben, so daß ich mich billig gescheut haben würde, mir von Denenselben was gehorsamst auszubitten, wenn mich nicht die Noth zwänge: so könnte es ja solange in Peukers Buden auf Conto gesetzt werden, bis es Ihnen weniger beschwerlich fiele, das Geld dafür zu bezahlen. Ich überlasse dies übrigens ganz Ihrer eigenen gütigen Disposition und werde mich auch alsdann zufrieden geben, wenn die Umstände es für dismal nicht erlauben sollten.«

Die Reise nach Reval im Winter wird Jakob machen. Am 24. Januar findet in der Stadt am Finnischen Meerbusen die Hochzeit des Bruders statt. Ausgiebig wird gefeiert; in Livland sind die Zahl der Gäste und die Menge der Spirituosen vorgeschrieben. Ein Haakenbauer zum Beispiel darf »8 Tonnen Bier und 4 Stoof Brantewein« haben, einem Bürger in Reval bestimmt das Gesetz, wie viele Gerichte er auftragen darf. Bei der Hochzeit des Bruders Friedrich David mit Christine Margarethe Keller, Tochter des Superintendenten von Reval, muß sich Lenz wohl gefühlt haben. Er braucht nicht, wie die Dorpater Schüler, den »Consens des Präzeptors« einzuholen und sich auch nicht »insonderheit des Tanzens zu enthalten«. Ausgelassen wird er gewesen sein, getanzt haben, das liebte er sehr, wie wir aus späteren Jahren wissen. Er wird jenen estnischen Hochzeitsgesang mitsingen, an den er sich noch kurz vor seinem Tode erinnert, in südestnischem Dialekt, zweistimmig, die eine Zeile immer wiederholend, die der andere singt. Neitsikenne norarenne – kasike – kanike. Jungfräuchen, sehr junges, Kätzchen, Stiefmütterchen, wildes.

Und er träumt sich in die Rolle des Bräutigams, Anlaß zu überschwenglichen Versen über die Liebe ist die Heirat des Bruders jedenfalls. Wenig später verläßt dieser mit seiner jungen Frau Reval und fährt nach Tarwast. »Mein liebes junges Paar«, schreibt Lenz nach dort. »Wie sind Sie angekommen? Wieviel Glieder und Sinne haben Sie noch übrig? (denn Ihren Leuten wird wohl Verstand und alle Sinne erfroren seyn). Wie habens Sies zu Wasser und zu Lande gehabt? Sind sie auch geirret? Und haben Sie alles zu Hause gefunden? … Und wie gefällt Ihnen, meine liebe junge Frau das einsame Tarwast?« Lenz verliert die Steifheit, ist heiter, übermütig, ironisch den Konventionen gegenüber. »Zum anderen befinden wir uns alle so«, schreibt er, »wie Sie uns verlassen haben. Papa ist Papa, und Mamma ist Mamma, und Moritz und seine Frau und alle übrigen sind gesund und vergnügt, und ich, ich sey Jakob. Zum dritten, vierten und zehnten habe ich auch die Ehre zum Geburtstag zu gratulieren und zu wünschen mmmmmm und wieder der Herr mmmmm und wieder der Heiland mmmmm und wieder dito.«

Eine ungebundene Zeit ist es in Tarwast und in Reval, der Stadt am Meer. Dann kehrt Lenz nach Dorpat zurück. Frühjahr und Sommer sind ausgefüllt mit Vorbereitungen auf einen neuen Lebensabschnitt.

Zweites Kapitel

7
Mit siebzehn Jahren verläßt Jakob Lenz seine Heimat. Nach Deutschland zum Studium der Theologie schickt der Vater ihn. Auf die Livland nächst gelegene Universität nach Königsberg.

Im Sommer 1768 fährt Lenz mit seinem um ein Jahr jüngeren Bruder Johann Christian von Dorpat aus nach Norden. Sie erreichen die Küste. Im August verabschieden sie sich im Hafen von Reval. Die Brüder besteigen eine kleine Barke, die sie zu dem auf Reede liegenden Segelschiff bringt. Jakob erlebt die offene See zum erstenmal. Den ruhenden Punkt verlassen. Bewegung, fortwährende. Luft, Wind, die Wellen, der Meeresgrund. Das Geräusch der flatternden Segel, die Schiffssprache, Kommandorufe und das Wecken, das Stundenansagen. Der Wechsel von Tag und Nacht. Noch eine zweite Schiffsreise wird Lenz in seinem Leben machen, Jahre später, von Travemünde nach Riga. Einer seiner Brüder berichtet darüber: »Das große Schauspiel von Himmel und Wasser, von Auf- und Niedergang der Sonne fesselten meinen guten Bruder die mehreste Zeit auf dem Verdeck.« Wie muß dann der erste Eindruck gewesen sein; der weite unendliche Luftkreis und alles Erwartung. Finnischer Meerbusen, die Inseln Dagö und Ösel, Rigaer Bucht, Kurische und Frische Nehrung. Schließlich das Haff, dann der Fluß Pregel.

Ankunft in Königsberg. Verlassen des Schiffes. Königsberg gehört zu Preußen, zum Herrschaftsgebiet der Hohenzollern. Auf deutschem Boden befindet sich Lenz nun. Fünfzigtausend Einwohner hat Königsberg. Gleich Leipzig, Frankfurt oder Hamburg ist es eine große und lebhafte Stadt. Umfangreiche Industrien befinden sich hier. Tuchfabriken, Mühlen, Gerbergewerke, Wollmanufakturen, Fayence- und Steingutfabriken, Brauereien und Bleichfabriken, große Werftanlagen und deutsche, englische und französische Handelshäuser.

»Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angrenzenden Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten, einen Verkehr begünstigt – eine solche Stadt wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis gewonnen werden«, meint Immanuel Kant, der hier lebt und wirkt.

Weniger die äußeren Abenteuer dieser Stadt – das Treiben in den Hafenanlagen, Speicherstraßen, Handelshäusern, auf dem Pferde- und Fischmarkt, auf dem in der Nachbarschaft der Universität im Königsgarten gelegenen großen Exerzierplatz – beeindrucken wohl Lenz. Es sind die geistigen Abenteuer, die ihn faszinieren, verändern. Menschen- und Weltkenntnis wird der Student Lenz tatsächlich in den zweieinhalb Jahren seines Aufenthaltes in Königsberg erwerben, und das nicht zuletzt durch Kant, seinen Universitätslehrer.

In die Herbst-Matrikel 1768 der Alma mater Albertina der Königsberger Universität schreiben sich Lenz und sein Bruder ein. Letzterer in die der Juristischen Fakultät, Jakob, wie vom Vater befohlen, in die der Theologischen Fakultät. »Alle studierenden Theologen«, heißt es in der Universitätsanordnung, »sind verpflichtet, halbjährlich der Fakultät ihren Namen, Wohnung, Alter, die Collegien, welche sie gehört haben und noch hören wollen u. s. f. anzuzeigen.«

»Ich werde dieses halbe Jahr, außer den Philosophischen und andern Collegiis, von theologicis das Theticum bey D. Lilienthal und ein Exergeticum über die Ep. Pauli an die Römer bei D. Reccard hören«, teilt Lenz im Oktober 1768 seinem Vater nach Dorpat mit. Daß er die theologischen Vorlesungen wirklich hört, ist kaum anzunehmen. Selbst dem strengen Vater gegenüber macht er sehr frühzeitig keinen Hehl daraus, daß ihn dieser ganze Lehrbetrieb nicht interessiert, die »Akademie wenig oder gar nichts werth« sei, wie er schreibt. Mit Ausnahme weniger Lehrer, fügt er hinzu, und bald wird es nur noch ein einziger sein, den er hört. Ein Kommilitone, der aus Königsberg gebürtige Johann Friedrich Reichardt, der spätere Komponist und königliche Kapellmeister in Berlin, bezeugt es. Lenz habe die theologischen Kollegia nicht besucht, wenn er in die Universität ging, dann nur, um die Vorlesungen Kants zu hören.

 

Kant ist zu der Zeit noch nicht jener berühmte Philosoph, dessen Schriften Hegel, Schelling und Hölderlin heimlich im Tübinger Stift lesen, die für sie – wie für Schiller und später für Kleist – eine Offenbarung werden. Die »Kritik der reinen Vernunft« wird erst zehn Jahre später geschrieben. Als Lenz nach Königsberg kommt, ist Kant vierundvierzig Jahre. Er ist Privatdozent, und seit fünfzehn Jahren läßt ihn die Universität auf eine Professur warten. Längst hat er die königliche Verordnung erfüllt, nach der kein Privatdozent zum Professor aufrücken darf, der nicht mindestens dreimal über eine gedruckte Abhandlung öffentlich disputiert hat. Kant muß als Unterbibliothekar an der Königsberger Schloßbücherei arbeiten. In zwei gemieteten Zimmern im Hause des Professors Krypke lebt er. Das eine dient ihm als Hörsaal. Fünf Vorlesungen, insgesamt sechzehn Wochenstunden, hält er im Wintersemester 1766/67. Seine Vorlesungen finden ungewöhnlich großen Zuspruch, vor allem am Anfang des Semesters kommen fast hundert Studenten. Der Raum kann sie nicht fassen, sie stehen in der Nebenstube, im Treppenhaus, auf der Vortreppe. Lenz unter ihnen. Als Immanuel Kant 1769 Professuren in Erlangen und Jena angeboten werden, fühlt sich seine Vaterstadt Königsberg endlich verpflichtet. Sie beruft ihn zum Professor. Am 21. August 1770 verteidigt er die Schrift »Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen«, in der er zum erstenmal öffentlich einige später in der »Kritik der reinen Vernunft« ausgearbeitete Grundprinzipien andeutungsweise entwickelt.

Die Studenten feiern die Ernennung Kants zum Professor für Logik und Mathematik. Jakob Michael Reinhold Lenz ist es, der ein Huldigungsgedicht »Im Namen aller studierenden Cur- und Liefländer« verfaßt. Bei dem Königlich-Preußischen Hofdrucker Daniel Christoph Kanter läßt er es auf weißem Atlas drucken. Fünfzehn Kommilitonen von Lenz unterschreiben. Ein Reichsfreiherr von Bruinink, ein Hugenberg, ein Pegau, ein Meyer, zweimal steht da »von Kleist aus Kurland«. Das Gedicht wird überreicht mit der Widmung »Als Sr. Hochedelgeborenen der Herr Professor Kant, den 21. August für die Professor-Würde diesputierte«.

Der Menschheit Lehrer, der, was er sie lehret,
Selbst übt und ehret:
Des richtig Auge nie ein Schimmer blend’te,
Der nie die Torheit kriechend Weisheit nennte,
Der oft die Maske die wir scheuen müssen.
Ihr abgerissen.
… Aber die Verächter
Des schlechten Kittels und berauchter Hütten
Samt ihren Sitten
Sahn staunend dort, sie, die den Glanz der Thronen
Verschmähet, dort die hohe Weisheit wohnen,
Die an Verstand und Herzen ungekränket,
Dort lebt und denket.
Schon vielen Augen hat er Licht gegeben,
Einfalt im Denken und Natur im Leben …
Ihr Söhne Frankreichs! Schmäht denn unser Norden,
Fragt ob Genies je hier erzeuget worden:
Wenn Kant noch lebet, werd’t ihr dies Fragen
Nicht wieder wagen.

Kant liest über Moral und Metaphysik, über Naturwissenschaft und Anthropologie. Alle Gebiete berührt er. Da sind die Anregungen, die ungeahnten Weiten des Himmels und der Erde, Gesetze der Natur und der Menschheit, in die der Lehrer führt. Und Bücher, die für Lenz zur Offenbarung werden. Jean Jacques Rousseau zum Beispiel.

Vor allem aber ist es das Mutmachen zum eigenen Denken. Herder, der wenige Jahre vor Lenz Kants Vorlesungen hört, sagt: »Mit eben dem Geist, mit dem er Leibniz, Wolff, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte und die Naturgesetze Newtons, Keplers, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Rousseaus, seinen Émile und seine Héloise, sowie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf den moralischen Wert des Menschen. Menschen-, Völker-, Naturgeschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung waren die Quellen, aus denen er seinen Vortrag und Umgang belebte; nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgültig; keine Kabale, keine Sekte, kein Vorurteil, kein Namensehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf und zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war seinem Gemüte fremd.«

»Aufklärung«, wird Kant ein Jahrzehnt später formulieren, »ist Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen …« Diese Haltung aber vermittelt er schon früh seinen Studenten, Lenz unter ihnen. Gierig wird es Lenz aufnehmen.

 

Was das für Lenz bedeutet haben mag! Väterliche Mahnung und Autorität sinken in ein Nichts. Lenz schüttelt die Kleinheit seiner Erziehung, die pietistische Dumpfheit ab, öffnet sich den neuen Ideen. Kant schärft – wie Jahre zuvor in Herder – in Lenz den kritischen und analytischen Geist. Die religiöse Weltsicht wird gesprengt, Lenz entdeckt sich und die Welt als weitgehend ratlos, in Zwänge gepreßt, voll Fatalität. Und zugleich wächst in ihm die Ahnung von der Möglichkeit des Menschen; eine sehnsüchtige Vorstellung, wie der Mensch leben könnte, überfällt ihn.

Der Student Lenz in Königsberg. Er sitzt im Lesezimmer, das zur Druckerei und zum Buchladen Daniel Christoph Kanters gehört. Alles ist da zu bekommen. Rousseau, Kant, Young, Pope, Ossian, Macpherson, Shakespeare. Lenz liest, schlingt es in sich hinein. Lenz in einem alten, engen Haus in einer der Gassen Königsbergs, in einem Haus, wo über und unter ihm Studenten aus Kur- und Livland wohnen. In einer kleinen Stube, die er gemeinsam mit dem Bruder bezogen hat. Das Notdürftigste ist darin. Tisch, Bett und Stuhl, abgenutzt und alt. Das Haus ist Tag und Nacht vom Lärm randalierender, trinkender und Karten spielender Studenten erfüllt. Lenz macht wohl keinen Hehl daraus, daß er die Zerstreuungen und Torheiten der großen Masse der Studenten fad findet. Er wird zum Außenseiter, wird verlacht und gehänselt, gewaltsam in den Kreis der ausgelassen Feiernden gezogen. Reichardt, der Kommilitone, erinnert sich: »Aber auch mitten im Lärm der Gelage blieb Lenz oft in seine poetischen Gedanken vertieft und gab durch seine Zerstreuung rüden Burschen zuweilen Veranlassung zu bösartigen Scherzen, die er mit bewundernswerter Geduld ertrug.« Und: »Eine sehr vermischte Lektüre und eigne poetische Ausarbeitungen beschäftigten ihn ganz, so oft er in seiner kleinen Kammer allein sein konnte.«

Was er im einzelnen während des Studiums geschrieben hat, wissen wir nicht genau. Den Gedichtzyklus »Die Landplagen« bringt er wohl fertig mit nach Königsberg, veröffentlicht ihn dort; im Anhang dazu weitere Gedichte. Was ihn beschäftigt, sind vermutlich erste Szenen zum Drama »Der Hofmeister«. Sein eigenes Problem ist es, das Gespenst seiner Zukunft, mit einer scharfsinnigen Sucht nach Realismus, nüchtern und ungeschminkt gesehen.

Nicht nur das Gespenst der Zukunft, wahrscheinlich die Gegenwart schon. Lenz muß als Student für einige Zeit als Hofmeister angestellt gewesen sein. Ein Zettel im Nachlaß, eine Notiz, die er, als das Drama erscheint, in die »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« einrücken läßt: Man habe ihn in »verschiedenen öffentlichen Blättern als Hofmeister« bezeichnet, dafür sei er dem Publikum »ein für allemal die Erklärung schuldig«: »Auf der Akademie in Königsberg nahm ich einen Antrag von der Art auf ein halbes Jahr an; weil meine Ueberzeugung aber oder mein Vorurteil wider diesen Stand immer lebhafter wurden, zog ich mich wieder in meine arme Freiheit zurück und bin nachher nie wieder Hofmeister gewesen …« In welchem Haus in Königsberg das war, was er dort erlebte, wissen wir nicht. Wie so vieles in seiner Studentenzeit liegt auch das im dunklen.

Andere Arbeiten, die er in Königsberg begonnen haben muß, sind Übersetzungen aus dem Englischen, zum Beispiel Popes »Essay on criticism«. Pope ist neben Haller Kants Lieblingsschriftsteller. Der Einfluß des Lehrers wird wohl die Wahl bestimmt haben. Und Shakespeares Drama »Love’s Labour’s Lost« (»Verlorene Liebesmüh«) übersetzt Lenz. Vielleicht regt ihn Georg Hamann, der Königsberger, dazu an. Der »Magus aus Norden«, der als erster in Deutschland die Lehre von der Genialität vertritt, der sich für Volkspoesie begeistert und in Shakespeare den großen Gestalter der menschlichen Leidenschaft sieht, den Dramatiker, der alle Regeln verwirft, alle Fesseln der Schulpoesie sprengt. Unter Hamanns Leitung las der Student Herder in Königsberg Shakespeare. Lenz und Hamann werden später Briefe wechseln. Ob ihre persönliche Bekanntschaft in Jakobs Königsberger Studentenzeit fällt, ist nicht nachzuweisen.

Wie auch die direkten Beziehungen zu Immanuel Kant kaum belegt sind. Das Huldigungsgedicht könnte der Anknüpfungspunkt der persönlichen Bekanntschaft gewesen sein. Daß sie existiert haben muß, wissen wir aus einem Brief von Lenzens Vater. Jakob wendet sich Kant zu, befragt ihn um Rat für seine Zukunft, seine beruflichen Pläne, bittet ihn – gegen den ausdrücklichen Willen seines Vaters – um die Vermittlung einer Anstellung in Deutschland. Immanuel Kant hat es getan, hat dem Studenten Jakob Michael Reinhold Lenz entweder ein Empfehlungsschreiben gegeben oder eine Stelle verschafft bei einem Herrn Resident Rehbinder in Danzig. Vielleicht hat er ihm auch vorher jene Hofmeisterstelle in Königsberg vermittelt. Daß Lenz dem Vater die Pläne, nach Deutschland zu gehen, selbst mitteilt, ist kaum anzunehmen. Man wird sie Pastor Lenz anderweitig hinterbracht haben. Der Vater reagiert mit aller Entschiedenheit.

8
August 1770. 1768 hat Lenz das Studium begonnen. Noch ein Jahr gibt der Vater ihm. Er drängt auf Studienabschluß. Michaelis 1771 sei der äußerste Termin.

Sein Drängen hat vor allem finanzielle Gründe. Der Vater kann das Studiengeld für die Söhne nicht länger aufbringen. Die Unterstützungen sind verbraucht. Briefnotizen des Vaters an die beiden Königsberger Studenten geben darüber Aufschluß. »Art u. Weise, wie sie zusammen geflossen. Fick 20 Rbl. – Treuer 20 Rbl. – Stryck – 10 Rbl. – Raths-Stipend. – 20. Rbl. – 3) Distributio. a) Jacob Fick – 10 Rbl. – Raths-Stip. – 10 Rbl. – S. 20 Rbl. b) Christian Fick – 10. Treuer – 20. Stryck – 10. Raths-Stip. – 10. S. 50 Rbl. II. Hiermit aber sind auch nun die vorigen Quellen verschlossen. Jacob hat Boks u. der Baronne Wolf Stipendia weg – Fick sagte 50 Rbl. habe er destinirt, 30 Rbl. hätte er vorher gegeben, nun die letzten 20. – Treuer ein vor alle mal – das Raths-Stipendium für dich geschlossen, tritt nun So … jun. an. Stryk auch aufs letzte Jahr. – Auf mich gar keine Rechnung zu machen. Denn da meine Erntezeit nichts getragen u. ich also fast in allgemeinen Schulden sitzen bleibe, so ist auf die übrigen Teile des Jahres wenig zu rechnen: U. es wird e. Wunder-Gnade Gottes seyn, wenn noch so viel zusammen soll, als bis Michaelis nöthig ist.« Von jenem Ratsstipendium ist auch in Gadebuschs Chronik die Rede. Es ist eine Unterstützung der Stadt Dorpat. »Der junge Bresinskis und des Hrn. Propstes Lenz Sohn«, heißt es da, »geneusst ein Stipendium. Ein jeder hat drey Jahre und also 60 Rubel genosen … Es wird allezeit aus den Armenkassen bezahlet.«

Vater Lenz zieht die Schlußfolgerung aus der Lage, teilt den Söhnen mit: »Porismata hieraus, daß sie 1) durchaus nicht länger als bis gegen Michaelis sich ihren Terminum Academicum setzen, denn es wird ohnehin schwehr genug seyn, sie noch so lange zu unterstützen 2) sich nicht in Schulden einfressen, sonst sich so vest fressen, da ich sie unmöglich lösen können u. da wären sie ganz verloren denn ich könnte nicht, wenn sie auch ins Carcer kämen 3) daß sie mittlerweile sehr fleissig seyn pp.«

Die Söhne aber sehen die Sache ganz anders. Sie bitten den Vater immer wieder um Geld. »Vergeben Sie unser öfteres unverschämtes Geilen nach Geld: die Noth lehrt hier beten und betteln«, schreibt Jakob Lenz im Oktober 1769 an den Vater. Und: »So sehr ich Ihnen für die gütige Besorgung eines Theils meines jährlichen Fixi verbunden bin, so sehr sehe ich mich genöthigt, Sie nochmals gehorsamst um die so viel mögliche baldige Beförderung dessen, was Ihre Gütigkeit zu unserer Kleidung bestimmt hat, zu bitten. Praenumeration ist nothwendig, wenn ein Student gut wirtschaften will und also ist ihm im Anfange des Jahrs immer Geld unentbehrlich. Noch einige Ausgaben habe Ihnen schon vorhin specificiren wollen, für die ich gleichfalls von Ihrer Gewogenheit einigen Ersatz hoffe, wenn es Ihre Umstände zulassen.« Lenz bittet unter anderem um die Rückgabe des Betrages, den er für das in Seide gebundene Widmungsexemplar der »Landplagen« für Katharina II. aufbringen muß. Auch der Bruder Christian bittet den Vater in einem Brief gleichen Datums dringend um Geld. Sie könnten ihre »vom vorigen Jahr herkommenden Schulden nicht zahlen«. Der Vater solle sie »nicht in der Verlegenheit lassen, länger ohne Geld zu leben«.

Auf den Gedanken, daß er sich selbst in Königsberg etwas dazuverdienen kann, sehen wir von jenem halbjährigen Hofmeisterdasein ab, kommt Jakob Lenz nicht. Sein Verhältnis zum Geld wird sich zeitlebens nicht ändern. Er verläßt sich auf andere, jetzt auf den Vater, dann auf Freunde und Bekannte. Er borgt, kann nicht zurückgeben. Er scheint aber das alles gar nicht wahrzunehmen, nicht darüber zu reflektieren.

Viele seiner Kommilitonen verdienen sich Geld. Auch Herder tut das. Vom Vater erhält er keinerlei finanzielle Unterstützung, lediglich vom Mohrunger Magistrat bekommt er eine kleine Summe; so verdient er sich Unterkunft und Verpflegung durch Unterricht. Am Collegium Fridericianum gibt er jüngeren Schülern Stunden und macht sich dadurch bei Vorgesetzten und Professoren beliebt. Sie fördern ihn, verhelfen ihm zu einer Stelle, nachdem er in der kurzen Zeit von nur zwei Jahren sein Theologie-Studium mit dem Prediger-Nachweis abschließt.

Auch für Jakob hätten Fleiß, gute Führung im Studium, ständiger Kollegienbesuch, Abschreibe- und Hilfsarbeiten bei den Magistern, Beaufsichtigung und Examinierung jüngerer Schüler im Livländischen Seminar die materielle Sicherheit, eine begehrte Wohnung auf dem Collegio Albertino oder freien Mittags- und Abendtisch gebracht. Eine Vielzahl von privaten und öffentlichen Gönnern gibt es in Königsberg.

Lenz bemüht sich offenbar um nichts. Er hat keine Zeit, lebt ganz seinen schriftstellerischen Arbeiten und Ideen hingegeben. Und sie bestimmen auch seine Zukunftspläne. Nach dem Westen, in die Länder der Freiheit drängt es ihn, nach Deutschland, nach Frankreich.

Das wird der tiefere Grund seiner Bitte an Kant gewesen sein. Danzig – das ist zwar nicht weit entfernt, aber von da aus weiter, weiter …

Es wird sich finden. Nur nicht nach dem öden Livland, unter die väterliche Autorität zurück.

Für den Vater aber ist die Verfügungsgewalt über den Sohn eine Selbstverständlichkeit. »Nachricht, so ich gehöret, daß Prof. Cant ihn nach Rehbinder in Danzig recommendiret«, notiert er. »Vorläufige Bestrafung, daß er nicht mit mir solche Sachen communicire, böses Gewissen: … daß du nicht eben … in deinem Vaterlande Gott und deinen Nächsten, ihnen zu Ehre und Freude nützl. seyn wilst – Zeigt wenig patriotismus an.«

Er fordert seinen Sohn Jakob Michael Reinhold zur sofortigen Rückkehr in die Heimat auf: »Ergo plane dissuadeo ut amicus, at si non vis, befehle ich dir als Vater, daß du dies Project fahren lassest u. mit deinem Bruder hereinkommst.«

Und dann eine Flut von Vorhaltungen, Ratschlägen. Was wolle er denn bei dem Herrn Resident Rehbinder in Danzig machen? »Erst Hofmeister … dann Secretair. Ein schlechter wol nicht, damit er dich abdanken könne. – Nein e. gut., folgl. e. ewiger Secretair, so wie dein Mutterbruder Neoknapp, e. ewiger freier Unterthan s. Hauses, der nie s. eignes anfangen, nie heiraten, nie selbst e. Wirtschaft führen kann, immer die Füsse unter e. fremden Tisch stecken muß.« Dieser Resident in Danzig, hält der Vater dem Sohn vor, würde ihm nie zu einer Pfarrstelle in der Stadt verhelfen. »Nun wo dann hin? Aufs Land, aufs Dorf. 1) kannst du das hier auch u. viel besser haben: denn wir haben hier 10mal bessere Land-Pastorate, als die dortigen Dorf-Pfarren sind, wo die armen Prediger fast den Hungertod fressen … da du dort fremd u. unbekannt bist: hier aber (da dein Vat. überall und du auch schon zieml. weit und breit bekannt bist) dir das ganze Land offen steht.«

Der Sohn solle nicht glauben, daß der Vater ihm aus Eigennutz riete, nein, nein, »so affenliebisch bin ich nicht«, es sei um Jakobs »wahren Vorteil« willen.

Er hat ja recht, der Vater, wie alle Väter recht haben, die nur das Beste für ihre Kinder wollen. Schrecklicher Erziehungsgrundsatz, ihm entspringt die Anpassung. Oder, wie bei Jakob Lenz, das Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn, lebenstief, demütigend und grausam für Jakob, weil er das andere darstellt, die Alternative, den Ausbruch – der Vater aber das Normale, Gängige, Durchschnittliche. Seinen begabten und sensiblen Sohn Jakob liebt Pastor Lenz vielleicht besonders, um so verheerender wirkt seine Gewalt, mit der er seine Lebensnorm dem Sohn aufzwingt.

Er beschafft Jakob eine Hofmeisterstelle in Livland. Der Beginn einer Karriere, so war es bei ihm, so wird es beim Sohn sein. Die Bedingungen sind günstig, er teilt sie Jakob nach Königsberg mit: »D. H. Obrister Bok bey mir, hat e. Schwester in Lettland, nomen nescio hat noch klein. Kind., fordert nur den ersten Unterricht im Bstabieren, Lesen, Schreiben, Rechnen u. sonderl. im französischen, offerirt selbst nicht das Salarium: du solst es fixiren. Ich meine im ersten Jahre, da die Kind. klein 150 rthl. Alb. (weil dort im lettischen Alberts-Tahler) so nach Rubeln doch zum allerwenigstens 180 Rbl. ausmachen, und dabei 20 Rthl. zu freyem Thee und Zucker. – Im andern Jahre wenn du bleiben wilst und kanst, aber 200 rthl. Alb. welches zum allerwenigstens 240 Rbl. ausmacht, u. abermal 20 rthl. Thée und Zucker … Wer weiß, wo dieser Gönner auch wegen s. grossen Bekanntschaft mit den Größten des Hofes u. Einfluß bey d. Majestät selbst dir hier noch beförderl. seyn könte? Antworte bald. – Das Salarium däucht mir convenable. Man darf den Bogen nicht zu hoch spannen …«

9
Jakob Lenz verläßt daraufhin im Frühjahr 1771, ein halbes Jahr vor dem vom Vater festgesetzten Termin, die Universität und die Stadt Königsberg in Richtung Westen. Sein Weggang gleicht einer Flucht.

Er flieht, muß fliehen, sonst wäre er, ehe er beginnt, als Dichter verloren. Hundertfünfzig Rubel oder zweihundert, zwanzig extra für Tee und Zucker oder nicht – die Kleinlichkeit des Lebens, das ist nicht sein Problem. Die Vorstellung, irgendwo in Livland Hofmeister zu werden, muß Grauen in Lenz erweckt haben. Nur das nicht.

Zwei Jahre vor ihm ist ein anderer ebenso plötzlich und alle Brücken hinter sich abbrechend aus Livland geflohen: Johann Gottfried Herder. Sein Ziel ist Frankreich. Auf dem Seewege reist er von Riga über Helsingör und die Niederlande nach Paris.

Das Motiv seines Aufbruchs ist die Furcht, »an einen toten Punkt angeheftet« zu werden, der »Studierstuhl in einer dumpfen Kammer, der Sitz an einem einförmigen, gemieteten Tisch, eine Kanzel, ein Katheder« kann das sein. »Wie klein und eingeschränkt wird da Leben, Ehre, Achtung, Wunsch, Furcht, Haß, Abneigung, Liebe, Freundschaft, Lust zu lernen. Beschäftigung, Neigung – wie enge und eingeschränkt endlich der ganze Geist.« Herders Flucht aus Livland erwächst aus der Ahnung, auf der vorgeschriebenen Bahn ein »Tintenfaß von gelehrter Schriftstellerei«, eine »träge, lache Seele« zu werden, die »sich nicht erkennet … Ich gefiel mir nicht«, schreibt er auf dem Schiff, »als Gesellschafter … Ich gefiel mir nicht als Schullehrer … Ich gefiel mir nicht als Bürger, da meine häusliche Lebensart Einschränkungen, wenig wesentliche Nutzbarkeiten und eine faule, oft ekle Ruhe hatte … Alles also war mir zuwider. Mut und Kräfte gnug hatte ich nicht, alle diese Mißsituationen zu zerstören und mich ganz in eine andere Laufbahn hineinzuzwingen. Ich mußte also reisen, und da ich an der Möglichkeit hiezu verzweifelte, so schleunig, übertäubend und fast abenteuerlich reisen, als ich konnte.«

Ebenso ergeht es wohl Lenz. Aber während der vierundzwanzigjährige Herder bereits Prediger an zwei Rigaer Hauptkirchen ist und eine feste Anstellung an der Thurmschule hat, der russische Hof ihm, um ihn in Riga zu halten, das Rektorat des Livländischen Lyzeums und das Pastorat der St.-Jakob-Kirche anbietet, ist der zwanzigjährige Lenz noch nichts. Nicht einmal sein Studium hat er abgeschlossen. Die Verlockung der Reise läßt ihn alles vergessen. Von einem Tag zum anderen entscheidet er sich vielleicht. Überstürzt, hastig. Innerlich aber ist er lange vorbereitet, dieser Aufbruch. Es ist die Sehnsucht, alles zu sehen, zu erfassen, was in den Ländern vor sich geht, aus denen die Ideen kommen, die Lenz in den Büchern faszinieren. Und warum nicht Kants Ermutigungen, sich seines Verstandes zu bedienen, auf das eigene Leben beziehen?

Die Umstände der Reise sind dabei nur Zufall, Nebensache. Zwei Kommilitonen von Lenz, junge Adlige, die Barone von Kleist, entfernte Verwandte jenes von Lenz so verehrten Dichters Ewald von Kleist vermutlich, wollen sich im französischen Straßburg in einem deutschen Regiment als Offiziere ausbilden lassen. Lenz muß davon gehört haben. Er bietet sich als Reisebegleiter an. Ohne ein Gehalt zu fordern oder irgend etwas, was einem Vertrage ähnelte. Freie Kost und Logis, selbstverständlich wohl, sind das einzige, was er jemals von ihnen erhalten wird.

Mit welchen Vorstellungen er losfährt, mit welchen Plänen für seine Zukunft, nie wird Lenz sich dazu äußern.

Herder aber hat es getan auf seiner langen Schiffsreise von Riga nach Frankreich. »Livland haben die Fremden«, schreibt er, »bisher nur auf ihre kaufmännische Art, zum Reichwerden, genossen«, ihm, Herder, aber sei es »zu einem höhern Zwecke gegeben, es zu bilden!« Nach Livland werde er zurückkehren als ein »zweiter Zwinglius«, als ein »Calvin« dieser Provinz. »… habe ich dazu Anlage, Gelegenheit, Talente?« befragt er sich, »was muß ich tun, um es zu werden? was muß ich zerstören? … Unnütze Kritiken und tote Untersuchungen aufgeben … das Zutrauen der Regierung, des Gouvernements und Hofes gewinnen, Frankreich, England und Italien und Deutschland in diesem Betracht durchreisen … alles praktisch zu denken und zu unternehmen mich angewöhnen, Welt, Adel und Menschen zu überreden, auf meine Seite zu bringen wissen … ich habe alle Groß- Gut- und Edeldenkende, gegen ein paar Pedanten, auf meiner Seite: ich habe freie Hand.« Herder ist sich der Gnade der russischen Kaiserin Katharina gewiß. »Alles muß sich heutzutage an die Politik anschmiegen, auch für mich ist’s nötig, mit meinen Planen.«

Jugendlicher Überschwang. Zukunftspläne. Sie werden Schicht um Schicht von der Realität selbst des aufgeklärtesten Absolutismus abgetragen, und die große Hoffnung der Französischen Revolution bleibt Hoffnung im Reiche des Geistes. Quälend die Tatenlosigkeit. »… jedes Datum ist Handlung; alles übrige ist Schatten, ist Räsonnement«, schreibt der vierundzwanzigjährige Herder, als er aus Livland flieht. Später, im kleinen deutschen Fürstenstaat Weimar-Eisenach, wird er von der »verworrenen Schattenfabel« seines äußeren Lebens sprechen, sich in einer »gespenstvollen Einöde« finden, »eingeklemmt in das einsame Wirrwar und geistige Sisyphus-Handwerk«. Nie wieder ist von Hoffnungen auf die Zarin Katharina, nie wieder ist von einer Rückkehr nach Livland die Rede.

Und wäre Herder zurückgekehrt, so wäre Lenzens Vater sein Vorgesetzter gewesen. Zum Generalsuperintendenten ganz Livlands wird Pastor Lenz im Juni 1779 ernannt. Welch ein Spielraum für Herders Ideen, denkt man noch hinzu, daß Lenzens Vater schon in den Dorpater Jahren, als der junge Herder in Riga zu veröffentlichen beginnt, ihn mit seinem Haß verfolgt. Probst Lenz gehört zur Partei von Klotz, die Herder heftig angreift. Einen »socinianischen Christen«, eine der »Bestien der Freygeisterei« sieht er in Herder. »Sie thun Herdern unrecht«, wird Jakob dem Vater schreiben, »er ist kein socinianischer Christ. Lesen Sie doch bitte seine Urkunde …«

Pastor Lenz wird seinem Sohn nie verzeihen, daß er sich Herder anschließt, wie er auch dem Sohn nie verzeiht, daß er gegen seinen Willen und Befehl Livland verläßt. Es ist ihm, dem autoritären, an Machtausübung gewohnten Mann, in seinem bisherigen Leben nicht vorgekommen, daß jemand das Recht eines selbständigen Weges für sich in Anspruch nimmt. Und das tut sein eigener Sohn, der geliebte, der redebegabte, auf den er als Theologe so viel Hoffnung setzt.

Jakob Lenz flieht.

Ohne diesen Ausbruch wäre er nie der Dichter Lenz geworden. Er mußte sich vom Vater lösen.

»Die Kleinheit deiner Erziehung, die Sklaverei deines Geburtslandes, der Bagatellenkram deines Jahrhunderts … hat dich eingeschränkt, dich so herabgesetzt, daß du dich nicht erkennest«, schreibt Herder 1769 und fragt sich, wie vielleicht ebenso der Student Jakob Michael Reinhold Lenz, der da aus Königsberg in Richtung Westen flüchtet: »Wann werde ich so weit sein, um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören und nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne und glaube.«

10
Lenzens Reise geht quer durch Deutschland. Ostpreußen zunächst, Westpreußen, Pommern. Von Königsberg aus nach Elbing. Sie berühren sicher Danzig, denn sie reisen an der Küste entlang. In Köslin und Kolberg ist Lenz nachweislich mit den Baronen von Kleist gewesen. In einem späteren Brief bedankt er sich für die freundliche Aufnahme dort. Köslin ist die Geburtsstadt seines Vaters. Die Großeltern leben vielleicht noch. In dem Brief spricht er nur von Vaterbrüdern und deren Kindern.

Die Barone von Kleist drängen zur Weiterfahrt. Stargard. Die Landschaft ist immer noch gewohnt, nördlichslawisch. Bis an die Oder. Der Oderübergang bei Küstrin wäre denkbar. Dort schon die Befestigungen und Kasematten. Überall Garnisonen, Soldaten, Offiziere. Die preußischen Uniformen nehmen zu, dunkelblau, hellblau und grün, mit roten, weißen und orangefarbenen Aufschlägen. Dann durchfahren sie die Mark Brandenburg. Die Erwartung Berlin. Die Postkalesche bringt sie bis zum Tor der Stadt. Am Tor Fragen nach Namen, Beruf, woher, wohin, beabsichtigte Unterkunft in Berlin, Länge des Aufenthaltes. Dasselbe dann noch einmal im Gasthof, im Quartier. Die Polizei vergleicht es, prüft so den Wahrheitsgehalt der Aussagen.

In Berlin müssen sie sich eine Zeit aufgehalten haben. Tiergarten, die Straßenzüge Berlins, Unter den Linden. Promenieren, Besehen des Neuen, Ungewohnten. Paraden, Aufzüge. Die anders gekleideten Menschen, ihre Art, sich zu geben, zu leben. Und die vielen »lüderlichen Weiber«. Die Interessen der Barone und Lenzens werden unterschiedlich gewesen sein.

Lenz drängt es vor allem ins Theater. Er ist nicht verwöhnt. In Dorpat wird erst Jahre nach seinem Weggang in einer leerstehenden Kupfermühle in der Vorstadt das erste feste Theater gegründet. Als Kind wird er in seiner Heimatstadt wohl Possenreißer und Gaukler auf dem Jahrmarkt, auch Marionettentheater und die eine oder andere Vorstellung einer wandernden Theatertruppe gesehen haben, die auf dem Weg nach dem russischen Sankt Petersburg, kommt ihr Schiff in Libau an, in Mitau und Dorpat haltmacht. Oder er erlebt eine Schauspielertruppe, die von Reval aus einen Umweg in Kauf nimmt. In Königsberg dann freilich ist es anders, die bekannte Schauspielertruppe, das Kochische Theater, gastiert dort. Da die Briefe aus dieser Zeit an den Vater gerichtet sind, schweigt Jakob selbstverständlich über solche Art verbotener Erlebnisse. Auch über seine Theaterbesuche in Berlin auf der Durchreise von Livland nach Frankreich gibt es aus anderen Gründen keine Zeugnisse. Ganz sicher wird Lenz ein Stück oder mehrere gesehen haben. Und er will natürlich die literarischen Größen kennenlernen. Dazu bleibt ihm Zeit während des Aufenthaltes in Berlin. Karl Wilhelm Ramler sucht er auf, den Aufklärer, Freund Lessings und des so früh verstorbenen Ewald von Kleist, Ramler, der mit Lessing Sammlungen älterer Poesie herausgab und dessen pathoserfüllte Oden nach Horaz weit verbreitet sind. Ob Lenz ihn nicht antrifft, ob er abgewiesen wird? Es ist üblich, daß die Gelehrten einen jeden empfangen. Wahrscheinlich bezieht sich Ramlers Ablehnung nur auf das von Lenz angebotene Manuskript seiner Übersetzung aus dem Englischen. Er wäre schon bei ihm gewesen, wird Lenz einem anderen Schriftsteller sagen, der ihn an seinen Kollegen, eben an Ramler verweisen will. Es ist der große Christoph Friedrich Nicolai, zu dem Lenz nun geht und zu dem er auch vorgelassen wird. Nicolai, dessen Verlag und Buchhandlung, dessen Haus das geistige Zentrum in Berlin in jenen Jahren ist. Seit 1765 gibt der Autor die »Allgemeine Deutsche Bibliothek«, die wichtigste Zeitschrift der deutschen Aufklärung heraus. Er ist sich seiner Bedeutung bewußt, seines Einflusses, dieser Literaturpapst. Die Begegnung zwischen Nicolai und dem jungen Lenz muß sehr unglücklich verlaufen sein. Für Lenz. Noch nicht im repräsentativen Haus in der Brüderstraße 13 findet sie statt, wohin dann so viele Dichter und Gelehrte kommen – das Haus kauft Nicolai erst 1787. Lenz, der Theologie-Student ohne Abschluß, schüchtern und linkisch und doch selbstbewußt; Sätze über Nicolais Dorpater Mitarbeiter Konrad Gadebusch, eine Empfehlung von Kant vielleicht stammelnd – vor dem Literaturpapst. Er bietet – zweiter Versuch – seine Übersetzung nun Nicolai zum Druck an. Auf dessen Einwurf, er solle zu Ramler gehen, antwortet Lenz, dort sei er gewesen und abgewiesen worden. Laune, Zufall, Arroganz – bei diesen Worten fällt Nicolai (später, 1795, berichtet er es selbst, möglicherweise schon gefärbt, da ist er giftig gegen alle) ein Offizier ein, der nie zahlte und daher von einem Gastwirte zum anderen gewiesen wurde, und er bricht in ein schallendes Gelächter aus. Damit ist die Audienz beendet. Lenz ist natürlich tief verletzt. Das sind seine ersten Begegnungen mit den Leuten der Literatur im preußischen Berlin.

Dann wieder Aufbruch, Passieren eines anderen Stadttores; in Richtung Südwesten nach Leipzig. Mit der Postkutsche dauert die Reise von Berlin nach Leipzig zwei Tage, etwas mehr, etwas weniger, je nachdem, ob sie, die Barone Kleist und ihr Begleiter Lenz, mit der ordinären oder der Extra-Post reisen. Die preußischen Postkaleschen sind gegenüber den russischen spartanisch, lange Fuhrwagen mit zwei Sitzen ohne Riemen und Federn. Die Grobheit der preußischen Postillone, das Warten auf den Stationen, bis Post- und Schirrmeister ihren Korn getrunken haben, neue Pferde angespannt sind. Lenz vielleicht auf dem hinteren Sitz, Mantelsack oder Felleisen unter sich, um die harten Stöße zu mildern; ein schlechter Platz da hinten, aber immerhin kann er die Füße bequem ausstrecken.

Leipzig. Das Klein-Paris. Hier bleibt wohl nicht so viel Zeit wie in Berlin. Keine Zeugnisse über Jakob Lenzens Aufenthalt dort. Im Brief eines Freundes später eine einzige Äußerung, der Name eines Mannes, der Lenz von Leipzig her kennt.

Leipzig, die Stadt der Handelsleute, der Verleger und Buchhändler. Ob er Zeit hat, sie aufzusuchen, in die Universität zu gehen: Oeser, Platner, Gellert oder sonstwem seine Aufwartung zu machen? Vielleicht besuchen die Barone, die Empfehlungen haben, Klubs, Soupers und Bälle, die die reichen Kaufleute in Leipzig so zahlreich veranstalten. Vielleicht auch ist Leipzig nur eine Poststation wie andere für sie. Durchreise.

Sachsen bleibt hinter ihnen, sie nähern sich dem Thüringischen. Die liebliche Saale, die weite Ebene, in der die Stadt Naumburg liegt. Weiter. Eine fast gebirgige Gegend um Eisenach. Manchmal wohl steigen sie aus der Postkutsche aus, laufen einige Meilen zu Fuß, wenn die Kutsche an Hängen oder langen Steigungen im Schrittempo fährt.

Schließlich und endlich Frankfurt am Main. Von hier führen zwei Wege nach dem zu Frankreich gehörenden Straßburg, der eine über Darmstadt, Heidelberg und Karlsruhe, der andere durch die Pfalz. Sie müssen sich für einen entscheiden. Nach weiteren Tagen sind sie am Rhein. Kehl am rechten Ufer des Rheins, Straßburg direkt gegenüber, ist die letzte deutsche Poststation. Wieviel Grenzen von deutschen Kleinstaaten haben sie durchfahren. Ewiger Wechsel, das Land ist zerstückelt. Nun zum letztenmal der deutsche Visitator, er durchsucht Felleisen, Mantelsäcke und Koffer. Sie können passieren.

Auszug aus: Sigrid Damm, Vögel, die verkünden Land. Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4418. © Insel Verlag Frankfurt am Main 1989

Mit freundlicher Genehmigung der Suhrkamp Verlag AG 2023