Von einem Ort zum anderen

Translated by Hannes Langendörfer
Also available in Swedish: Från en ort till en annan
 
Man lebt nicht immer dort, wo man zu leben meint. Was ist ein »Ort«? Unmittelbar kommt mir in den Sinn: was ist Dichtung? – wie entsteht sie? Dichtung beginnt, sobald man seinen Ort findet. Den inneren Aufenthaltsort (»le lieu imaginaire«). Eine Bühne. Die jedoch anders als gewöhnliche Theaterbühnen kein neutraler Raum ist, in dem man von außen / von oben Figuren plaziert – sondern ein Raum, der selbst der Anfang von allem ist, ein gebärender Raum, ein Ort, der aus seiner Atmosphäre, seiner poetischen Besonderheit Schicksale und Gestalten absondert. Ist »der Ort« erst einmal gefunden, ist alles gefunden und gewonnen – der Ort, an dem das wirkliche Geschehen sich rücksichtslos abspielen darf, ohne sich verstellen, sich maskieren zu müssen. Der Ort, der eins ist mit dem Geschehen.

Das Verhältnis zwischen dem Ort der Dichtung und der wirklich erlebten, real existierenden Stadt oder Gegend ist – gelinde gesagt – kompliziert. Will einfach heißen: unergründlich. Wie die Verbindung zwischen dem »wirklich« Gesehenen und dem Erlebten; die Verbindung zwischen dem Autobiographischen und den Gestalten der Dichtung geht durch Untiefen des Unwissbaren. Der Weg führt vom Wirklichkeitseindruck zum Gedicht – wohl wahr. Aber wie? (auf welch unterirdischen Wegen, durch welche Zonen von Ich-Auflösung und Persönlichkeitswandel, durch welche unbekannten Instanzen des Ichs? – durch welches »Ich« überhaupt?) – ja, das ist es eben: WIE?

Ausgangspunkt war eine geräumige, dunkle großbürgerliche Wohnung, zehn Zimmer, Wohnung und Arztpraxis in einem, es hätte Doktor Freuds Wohnung sein können – die Kindheitswohnung meiner Mutter. Sie lag allerdings nicht in Wien, sondern in der Hafenstadt Göteborg an der Westsee, der großbürgerlichsten und proletarischsten aller schwedischen Städte, unsrer einzigen Kommunistenstadt.

Das Leben begann in dieser Wohnung. Und der Stille in ihr – und den Geräuschen von außen, übernatürlich und unwirklich verstärkt in der Stille, die mein, des einsamen Kindes Element war.

Draußen stoben feurige Funkenwolken von den Straßenbahnen auf, schrieen die Schienen, läuteten die Kirchenglocken, hupten die Autos, stampften die Steinstampfer aufs Straßenpflaster und schlugen ebenfalls Funken. Krachten die Dampframmen tief in die Erdeingeweide. Wackelten, stürzten Häuserwände beim Abriss, hallten Hammerschläge von den Baustellen. Schallten Stimmen von den Lastkähnen in den Kanälen. Tröteten die Nebelhörner, tuteten die Schlepper, schmetterten die Niethämmer von den Werften im Hafen her. Und überall in dieser auf hohen, nackten, elefantengrauen Granithügeln an der Meeresmündung erbauten Stadt – an der Westsee, dem richtigen Meer, das bis nach Amerika reichte – donnerten Sprengladungen in den Felsen, die man zu steilen, tiefen Schächten aufbrach, für neue Häuser, Straßen, Tunnels. Göteborg an der Westsee, dem Meer, das in die Welt hinausreichte und hier auf den merkwürdigen Namen Kattegat hört: grünäugig, tückisch, tödlich – funkelnd, aufwieglerisch.

Eine ungestüme, offene Stadt, die so gar nicht dem übrigen Schweden glich, dem erstarrten, traumversunkenen, in sich gekehrten Taigaland. Von Göteborg fuhren die Amerikadampfer: hier war alles Aufbruch, Bewegung, Veränderung. Viermal am Tag zerrissen die Fabrikpfeifen gellend das Geräuschgewebe der Stadt. Überall kreischten, stürzten, jauchzten die blitzweißen Sturmmöwen, zwischen den Häusern, überm Hafen, hinunter in die Kanäle. Und all die Dramen, all das brodelnde weinende lachende menschliche Leben, das sich im Innern der knarrenden, knarzenden, bei Frostwetter knackenden Balkenwände der hölzernen Arbeiterkasernen drängte. In solch einem Holzhaus mit Wasserpumpe und Abtritt im Hof wohnten meine Großeltern väterlicherseits (denn meine Kindheit kannte auch einen Klassengegensatz, der den Erwachsenen problematisch schien, mir aber nur eine Bereicherung war – ich liebte die knarrenden, sprechenden Holzhäuser mit ihren übelriechenden Höfen voller Kinder, Gelächter, Flüche und Grobheiten,Suffköpfe, Drohungen und Gefahr).

In diesen riesigen Holzhausvierteln spielten sich ständig dramatische Ereignisse ab. Stets gab es zum Beispiel irgendwo eine Feuersbrunst – von dem bürgerlichen Balkon aus sahen wir den mächtigen Feuerschein, den die Holzstadtwildnis oben auf den Hügeln an den Nachthimmel warf (und das wohlerzogene, behütete Kind flehte innerlich, die große Feuersbrunst, die große Katastrophe möge eintreten, es möge – bitte, bitte bitte auch bei uns einmal brennen!).

Seit meinem achten Lebensjahr durfte ich – es war ein sehr liberales Erziehungsmilieu – ohne besondere zeitliche Beschränkung allein durch die Stadt laufen: eine Freiheit, die ich nach Schulschluss für lange Streifzüge von Stadtteil zu Stadtteil, von Straßenbahnlinie zu Straßenbahnlinie nutzte: die Stadt öffnete sich wie ein riesiges Theater, mit Marktplätzen, Seemannskneipen, Orgeldrehern mit Äffchen, Zigeunern, die Luftballons verkauften, Parks mit ihren absonderlichen Alten, die in Zeitungspapier gewickelte Esspakete verzehrten – eine Stadt, die eine Welt war! (Und das richtige Theater der Stadt, eine Institution, die für mich eine unschätzbare Rolle spielen sollte, war ebenso: weit offen – der leuchtende, funktionalistische Glaskasten, dessen Drehbühne ihre magischen Farblandschaften kreisen ließ, Peer Gynt, der die ganze Welt, das ganze Ich durchwandern wollte.)

Doch der Kern von all dem war: Stille. Die bodenlose Stille in der dunklen Wohnung. Und die Arkandisziplin um diese Stille – eine Stille, die von dem Behandlungszimmer meines Großvaters, des Nervenarztes, ausging. Mein Großvater an seinem Mahagonischreibtisch hinter der grünen Kupferlampe, sein Blick, dessen Bedeutung ich nie zu ergründen vermochte, ob sehr mild oder sehr streng? – vor allem eins: sonderbar.

»Still! Großvater gibt Hypnose!«

Und da schwieg man still. Die Stille wurde bodenlos. Was geschah eigentlich dort weit hinten am anderen Ende der Wohnung, jenseits des langen Flurs? Dort passierten all die Unbekannten, jene, die im Wartezimmer saßen, mit ihren sonderbaren Gesichtern, ihrem sonderbaren Verhalten – eine sozial disparate Klientel: Damen der Gesellschaft mit Phobien, schlaflose Lokomotivführer, Schärenfischer mit lähmenden Migränen. Doch alle passierten sie jene geheime, lebensgefährliche Zone, über die etwas zu erfahren mir immer verwehrt blieb: das stille Behandlungszimmer bat um Schlaf.

Wenn ich meinem Leben nun eine Art Zusammenhang geben will – den es möglicherweise gar nicht hat – eine Art künstlerischen Zusammenhang, einen Ariadnefaden, einen Weg, so würde ich sagen, diese Kindheitswelt war die Einweihung, die Initiation; das Spektrum der Möglichkeiten klang an. Darauf folgte die Verwirklichung – keine Wahl,sondern etwas in mir wählte (das unbekannte Ich). Und das setzte eine brutale Entwöhnung voraus: alles, was nicht Teil dieser Wahl war, sollte mir genommen werden.

Mit neun Jahren widerfuhr mir so die grauenvolle Operation, das endgültige Durchtrennen der Nabelschnur. Ich wurde aus meiner Stadt verbannt, meiner Stadt, die mir die Welt war. (Und es war eine Verbannung für immer – nie mehr fand ich dies Göteborg in der Sinnenwelt wieder. Zusammen mit meinen Eltern – die sich mitnichten verbannt fühlten; die ordentliche Gymnasiallehrer geworden und also sogar befördert worden waren – landete ich im Exil weit draußen auf einer rauhen grauen leeren Ebene, von der Welt abgeschnitten, in einer gottverlassenen Gegend. (Wirkliche Verbannung, völliges Ausgestoßensein erlebte ich abends weinend in meinem Bett.) Es war das östliche Schonen, im Südosten Schwedens. Osten, eine widrige, menschenfeindliche Himmelsrichtung. Feinkörnige, eisige Schneewirbel zogen durch die schnurgeraden, trostlosen Straßen (Kaserne, Heerlager) in einer flachen, trivialen, in jeder Hinsicht widerwärtigen Kleinstadt. Grau, grob, beengt, beklemmend. Ich wuchs auf und haßte sie und ihre militärischen Umgangsrituale beinah bis zur Psychose.

Aber Haß ist manchmal ein besserer künstlerischer Ratgeber als euphorische Sympathie. Die dunkle Muse, die bezwingende Stimme des Schatten-Ichs.

Und ein neues Meer betrachtete mich mit fahlen Augen. Unbekannte, mystische Augen. Die grüne Westsee, in der man fast von alleine schwamm, war ein für immer abgeschlossenes Kapitel.

Stattdessen diese See aus schwerem, graukaltem Wasser über bleichen Sandbetten.

Stattdessen dieser graue Schimmer von Licht und Schlamm – dieser seltsam kalte Modergeschmack. Das Baltische Meer. Das uralte Sagenmeer.

Von Osten, von einer kargen Küste, einem kalten Meer stieg die neue Welt in mir auf. Mein erster wirklicher innerer »Ort«, eine Landschaft, die ohne Unterschied gleichermaßen Wirklichkeit war wie Heimstatt des Imaginären, plötzlich geboren aus diesem Grau, das ich mit ganzem Bewußtsein verabscheute. Im fahl schimmernden Licht der Ostsee trat das Magische der Landschaft, der Sandküsten, der flachen Kalkheide-Insel, auf der ich inzwischen oft wohne, hervor.

Zum ersten Mal sprach die magische Landschaft im ersten fürchterlichen Winter der Verbannung. Plötzlich, in all dem Haß, all den Tränen, sah ich die Flußmündung hin zur Ostsee vor mir – die widerstreitenden Richtungen der schwarzen Wasserwirbel, wo Wasser auf Wasser trifft, der Sog seewärts und landwärts. Die hohe, dunkle Winternacht, riesige Sterne. Eisränder unter den Bäumen. Im Wasser kämpft ein weißes Pferd. Wie alle Sagenwesen gehört das Bäcka-Pferd zu einer Welt, für die es keine Erlösung gibt. Die Strömung zerrt es hinaus aufs Meer. (Lange Zeit arbeitete ich an etwas, das ein Reimepos werden sollte, es wurde rein gar nichts draus: was mich nicht dran hindert, dass ich immer noch, so wie damals mit neun, den Bäcka-Hengst vor mir sehe, wie er gegen den Sog der nächtlichen Meeresströmung ankämpft, wie er sich an den Schollen verletzt – noch immer ruft er dort draußen, unerlöst.)

Die kahle, eisige, wilde Küstenlandschaft arbeitete in mir und spuckte ihr Sekret, ihre Schicksale aus.

Und eines Tages stand er direkt vor mir – diese Person.

Ich bin elf Jahre alt, mit meinem Vater auf Skiern unterwegs draußen an der Ostseeküste. Hohe, verschneite Sanddünen, niedrige, krumme Kiefern – hinter den Dünen donnert das bleischwarze Meer, Kältenebel schimmern über den Winterwogen. Meeresgischt und Schnee fegen über die Dünen. Die Hütte unter den im Sturm knarrenden Trockenstangen ist halb eingefallen. Ein magerer Kettenhund kläfft wütend. Die Hühner im Schuppen gackern hysterisch. Ein Mann kommt heraus. Er ist schmutzig und zottig. Seine Augen sind durchsichtig wie Eis. Aus welchem Land, welcher Zeit kommt er? Ja, auch dies ist unser Land, Schweden. Und: wir verstehen nicht, was er sagt. Es ist kein Schwedisch, hat auch keine Ähnlichkeit mit Dänisch – es ähnelt einer Art Ursprache, einem Universalidiom uralter, rauher Laute.

(Was insofern nicht wunder nimmt, als man in Schweden, dem Land der tausend, zehntausend Dialekte, damals – Anfang der vierziger Jahre – als nur mit der Schul- und Obrigkeitssprache, »Hochschwedisch« Aufgewachsener durchaus noch in Situationen geraten konnte, die nach einem Dolmetscher verlangten.)

Doch für mich ist der Sinn vollkommen klar und deutlich, eine Warnung: der unbegreifliche Mensch.

Dahinter tost die Ostsee, das unbegreifliche, mythische Bernsteinmeer – Meer vergangener Völker und Sagenwelten. Es ist nicht mehr Europa. Es ist etwas anders.

Die Stimme der Ostsee klingt seither in meinem Leben immer deutlicher – sie führt in die Ferne, führt heim, wie es in einem Kirchenlied heißt.

Allt om böcker 1/1982