Brücken ins Nirgendwo? Identität der Bewohner des Kaliningrader Gebiets im 21. Jahrhundert

  • Author
    Ilya Dementiev
Translated by Barbara Wiebking

Non sine causa di hominesque hunc
urbi condendae locum elegerunt,
saluberrimos colles, flumen
opportunum…

Titus Livius, Ab urbe condita. V. 54. 4

Über sieben Brücken
Kaliningrad (das frühere Königsberg) liegt an den Ufern des Flusses Pregel (auf Russisch Pregolja). An die Brücken dieser Stadt erinnert das berühmte mathematische Problem von Leonhard Euler, aus dem die Teildisziplin der Topologie hervorging. So gab es in der Altstadt sieben Brücken über den Pregel. Sie verbanden den nördlichen und südlichen Teil der Stadt sowie die zwei Flussinseln miteinander. Die Aufgabe lautete, über die Brücken zu gehen und dabei jede von ihnen nur einmal zu überqueren. Euler gelang es zu beweisen, dass es für dieses Problem keine Lösung gab. Später kamen neue Brücken hinzu und die alten wurden abgerissen, doch die Geschichte der Mathematik hielt sorgfältig an der kryptischen Zahl 7 fest, die für Utopie stand.

In der modernen Stadt sind nur noch drei der Brücken erhalten, über die Euler einst ergebnislos spaziert war. Zu Sowjetzeiten wurde eine große Hochstraße gebaut, die den Norden und den Süden der Stadt miteinander verbindet. Die erste Fußgängerbrücke wurde anlässlich der 750-Jahrfeier von Königsberg-Kaliningrad errichtet. Auch eine zweite Hochstraße über den Fluss war geplant, die parallel zur ersten verlaufen sollte. Die Arbeiten begannen während der Perestroika und standen danach aus verschiedenen Gründen für zwei Jahrzehnte still.

Die Ausländer, die nach Kaliningrad kamen, waren buchstäblich sprachlos. Einige waren vom Anblick des unvollendeten Hauses der Sowjets überrascht – einem entsetzlichen Gebäude in der Nähe des zerstörten Schlosses. Andere waren verärgert über den allgemeinen Eindruck dieser einst so schönen europäischen Stadt, die nun übersät war von Chruschtschowka (Standardhäusern, die auf die Amtszeit Nikita Chruschtschows zurückgingen). Doch auch die zweite Hochstraße war ein großer Schock für die Besucher. Ein Ende dieser merkwürdigen Struktur führte direkt in ein Haus, das vor Kriegsbeginn gebaut worden war. In den 1990er Jahren war das Haus als städtisches Baudenkmal anerkannt worden. Das andere Brückenende hing über dem Fluss, wobei es eine makabre Reflexion im Wasser hervorrief. Auch das Schicksal der Brücke war sonderbar. Zunächst reichte die Finanzierung nicht aus, um sie fertigzustellen, und dann wusste niemand, wie mit dem alten Haus zu verfahren war. Man konnte es nicht abreißen, es aber auch nicht so belassen, wie es war. Eulers Problem schien den Einwohnern Kaliningrads wieder einzufallen, die diesmal an die das Groteske der Märchen von E.T.A. Hoffmann erinnert wurden. Ausländer machten Fotos von der Brücke aus verschiedenen Blickwinkeln und finnische Filmemacher produzierten sogar einen Spielfilm. Hierzu hoben sie die nötigen Fahrzeuge auf die Brücken, kennzeichneten sie, und die kuriose Konstruktion fand ihren einzigartigen Platz in der Kunstgeschichte.

Die zweite Hochstraße wurde Anfang der 2010er Jahre fertiggestellt, als das alte deutsche Haus abgerissen wurde. Nun sind die Scheitelpunkte dieses Graphen durch sechs Brücken miteinander verbunden – drei deutsche, die sowjetische Hochstraße und zwei postsowjetische Brücken – eine weniger als zu Eulers Zeiten. Das Problem war endlich gelöst: Man kann nun leicht über alle von ihnen gehen und dabei jede nur einmal überqueren. Doch heute – zu Beginn des 21. Jahrhunderts – weckt die Identität der Menschen, die in der westlichsten Stadt Russlands leben, unaufhörlich das Interesse von Forscherinnen und Forschern. Die drängenden Fragen bleiben: Wie können wir die historischen Erfahrungen aller Völker des ehemaligen Ostpreußens mit denen des modernen Kaliningrader Gebiets in Einklang bringen? Können wir frei über all die Brücken gehen, die uns mit der Vergangenheit verbinden, und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft finden?

Der kategorische Imperativ der ersten Siedler
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben Erwachsene und Kinder im ehemaligen Ostpreußen zurück. Die Siedlerinnen und Siedler, die aus verschiedenen sowjetischen Regionen eintrafen, waren ebenfalls Erwachsene mit Kindern. Aus den Erinnerungen der Kinder setzt sich die historische Erfahrung zusammen, die die Identität der heutigen Bewohner Kaliningrads in vielerlei Hinsicht prägt.

Im Herbst 2012 trafen sich die Kinder der ersten Siedler in der Bibliothek des Dorfes Kubanowka (Rajon Gussew). Die meisten von ihnen waren 1938 geboren worden, einige auch früher. Sie sprachen über ihr Leben in den späten 40er und den 50er Jahren: über Arbeit und Erholung, wie sie ins Kino gingen und Mohrrüben stahlen ... Als sie zuerst ankamen, konnten sie nicht glauben, dass die Deutschen so viele Blumen hatten. Hochzeiten wurden ohne jeglichen Luxus gefeiert, Frischvermählte mit Fahrrädern eskortiert. Auch die Geschenke waren bescheiden, ein Paar Socken etwa. Die Lehrer taten sich zusammen, um vier Stühle mitzubringen; die örtliche Verkäuferin überreichte einen Kochtopf. Eine Frau namens Lena schenkte eine Vase und nahm sie nach der Hochzeit wieder mit. Zum Neujahrsfest wurde ein geschmückter Tannenbaum im Klub aufgestellt, einem alten deutschen Gebäude. Religiöse Feste wurden nicht gefeiert, doch viele, die nicht Mitglied der Kommunistischen Partei waren, fuhren einfach mit ihren Kindern ins litauische Kybartai zur Taufe.

Wenn wir darüber nachdenken, hatten diese Menschen ein hartes, ja ein sehr hartes Leben. Erst die deutsche Besatzung, Todesfälle in den Familien, zerstörte Dörfer. Sich in einem fremden Land niederzulassen war ein Weg ins Ungewisse. Die Menschen bewahrten unter ihren Kopfkissen Äxte auf; manch ein Vater nahm die Pistolen von den Leichen der deutschen Soldaten mit. Erst Jahre später hörten die Leute auf, ihre Türen zu verriegeln! Dann war da immer das Risiko einer Explosion (einmal fand meine Mutter ein hübsches kleines silbernes Flugzeug, woraufhin mein Vater sogleich die Bombenentschärfer rief). Es gab überhaupt keine Straßen. Da es zu anstrengend war, knietief im Schnee am Friedhof vorbeizumarschieren, hörten die Kinder auf, in die Schule zu gehen. Dann Arbeit, eine große Familie und karge Kost. Kybartai war der Ort, an dem Körper und Geist genährt werden konnten. Die Dorfleute tauften dort ihre Kinder und kauften gleichzeitig Würste. Diese Menschen arbeiteten jahrzehntelang ohne Unterbrechung – einige als Melkerinnen, andere als Lehrer, nur 150 km entfernt von der Küste. Dennoch unternahmen sie nie einen Ausflug, um einen Blick auf den schwedisch gefärbten Horizont zu werfen. Wie Immanuel Kant konnten sie nicht ins Ausland, doch sein ‚kategorischer Imperativ‘ schmeckte nach dem Alltagsleben der Sowchosen. Sie mussten Kinder und Tiere großziehen und auf den Feldern arbeiten. Das Prinzip war, dass es zum Reisen keine Zeit gab. Trotz der abgebrochenen Schule und des ‚Erfolgsrausches‘, der durch die Ergebnisse der Entwicklung der Sowchosen hervorgerufen wurde, lernten sie viel. Sie lernten, das Wenige, das sie hatten, zu schätzen und sich nicht um Unbedeutendes zu kümmern. Wenn notwendig – beklage die Toten, wenn nötig – singe von ihrer ungeteilten Treue.

Mit einem Lächeln an die Vergangenheit zurückzudenken war ebenfalls eine große Kunst.

Das Leben dieser einfachen russischen Leute war wie diese Vase – jemand übergab es ihnen als Geschenk und nahm es dann stets wieder mit. Doch sie leben noch, haben sich ihre Unbeschwertheit bewahrt und das Bild ihres Lebens ist einfach. So einfach, dass es einen erschaudern lässt. Von einer Hochzeit mitgebrachte Stühle. Von der Sonne ausgeblichene Vorhänge. Noch immer unverriegelte Türen und unter der staubigen Fensterbank die geerbten Blumen, die nie eine Vase brauchen werden.

Ganz verschiedene Menschen in Kaliningrad
Kaliningrad ist einer der wenigen Orte, an denen sich die Selbstwahrnehmung der Menschen von ihrer Wahrnehmung durch andere unterscheidet. Die Einheimischen sind es gewohnt, sich als russische Europäer oder europäische Russen zu bezeichnen. Schon zu Sowjetzeiten hatte die Region eine euphemistische Bezeichnung mit gefährlichen Konnotationen: die westlichste. Während der Zeit der Perestroika hieß die dort herausgegebene Literaturzeitschrift 'Der Westen Russlands' (Zapad Rossii). Es schien, dass ihre Lage selbst die Nähe dieser russischen Region zur westlichen Welt bedingte. Kaliningrad liegt weiter westlich als Moskau und Sankt Petersburg, aber auch als Warschau und Vilnius. Die Menschen in Kaliningrad betonen immer wieder, dass sie Europäer sind. Auf den ‚westlichsten‘ Straßen lassen Autofahrer in fast jedem zweiten Fall Fußgängern den Vortritt – etwas, das man in anderen Gegenden Russlands nie erleben wird. Russische Touristen sind von der Qualität der Straßen beeindruckt, wenngleich Autofahrer vor Ort die Angewohnheit haben, diese zu kritisieren.

Identität ist etwas, das sich auch auf unterbewusster Ebene finden lässt. Die ethischen Ansprüche werden durch die vertraute Stadtumgebung geformt. Eine meiner Kolleginnen tritt eine neue Stelle bei einer Firma an, deren Büro sich im Neubaubezirk der Stadt befindet, in dem es keine Vorkriegsgebäude gibt. Keine roten Ziegeldächer, kein Kopfsteinpflaster. Sie fühlt sich nicht wohl. Um sich zu Hause zu fühlen, sucht sie unbewusst nach anderen Merkmalen. Eine solche Einstellung ist vor allem charakteristisch für diejenigen, die hier geboren wurden, Siedler der zweiten oder dritten Generation.

Aber diese Ansicht ist vermutlich nur für die Einheimischen selbst typisch. Fremde (meist aus dem Westen) sehen Kaliningrad häufig als Reservat der Sowjetära. Den Einheimischen gefällt dies zwar nicht, doch es gibt durchaus Gründe dafür. Triste Wohnhäuser aus den späten Sowjetjahren, zerstörte deutsche Gebäude mitten im Stadtzentrum, Fälle von schierer Vernachlässigung des historischen Erbes – all das mutet eher wie die Idee des ‚entwickelten Sozialismus‘ an als wie eine postindustrielle Gesellschaft.

Auch die Siedlerinnen und Siedler, die in den letzten zwei Jahrzehnten nach Kaliningrad gezogen sind, haben eine eigene Einstellung der Stadt gegenüber. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge machen diese Leute ein Viertel oder gar ein Drittel der Bevölkerung aus. Es sind ganze Familien sowjetischer Militärangehöriger aus den Ostseestaaten oder Osteuropa, Russen aus Kasachstan oder Zentralasien und Flüchtlinge aus den Südkaukasus-Staaten. Ihre Wahrnehmung Kaliningrads weist nicht diese Nostalgie für die deutsche Vergangenheit auf, und ihr Geschichtsbild ist anders gefärbt.

2012 nahm ich am Treffen der Dorfbewohner teil, die sich im Schulgebäude der Siedlung Gawrilowo (Rajon Osjorsk) trafen. Bei diesem Treffen waren ganz unterschiedliche Leute anwesend. Ein Teil bestand aus russischen Siedlern aus Kirgistan und Kasachstan, die 1990 im Kaliningrader Gebiet angekommen waren. Den anderen Teil machten Armenier aus, Flüchtlinge aus dem Gebiet von Schahumjan in Aserbaidschan, die nur zwei Jahre später nach Kaliningrad gekommen waren. Ihre Kinder wuchsen dort auf, sogar Enkelkinder waren geboren worden, und das frühere Ostpreußen war zu ihrem neuen Lebensmittelpunkt geworden. Gewiss, wie mir Mamik, einer der Armenier sagte, ‚Das Heimatland hält einen besser aufrecht‘. Doch nun ist auch dieser Ort zu ihrem Zuhause geworden, an dem sie sich wohlfühlen.

In diesem Dorf in Kirgistan waren 18 ethnische Zugehörigkeiten vertreten. Genauer gesagt 18 ethnische Gruppen und ein Italiener, der nach dem Zweiten Weltkrieg dort hängengeblieben war. Während der Sowjetzeit schien es keine Konflikte zu geben, doch als die Menschen aus Kirgistan nach Kaliningrad aufbrachen, hörten sie, wie über sie gelästert wurde: ‚Endlich zieht ihr Russen weg und wir haben genug Brot zu essen.‘ Diese bitteren Erinnerungen, die Menschen unterschiedlicher Nationalitäten verbanden, helfen ihnen, die Deutschen, die nach dem Krieg aus Ostpreußen deportiert wurden, besser zu verstehen. Die gleiche Erinnerung lässt Menschen ihre Traditionen bewahren. Russische Frauen, die am Treffen teilnahmen, kamen in nationalen Trachten. Die Gesangsgruppe ‚Podrugi‘ (‚Freunde‘) trägt russische Volkslieder vor. Auch die Armenier versuchen, an ihren Bräuchen festzuhalten – sie bringen ihren Kindern, die nie das Land ihrer Väter gesehen haben, ihre Sprache bei und lehren sie, die Türen gastfreundlich offen zu halten und ihre Hochzeiten ohne Streitigkeiten zu feiern.

Dass viele Leute in die Region ziehen wollten, war schon vorher weithin bekannt, denn sie war ein ‚Niemandsland‘ in dem Sinne, dass dort alle Migranten waren. Viele zogen hierher, um bei ihren Verwandten oder Bekannten zu sein. Doch Mamik entdeckte noch einen weiteren Grund. Er hatte diesen Ort schon früher besucht. 1981 hatte er im Dorf Kalinowka einen schwarzhaarigen Mann mit Frau und zwei Kindern in der Nähe des Ortsratsgebäudes gesehen. Sie kamen aus Georgien. Da sie traurig aussahen, stellte er ihnen einige Fragen. Diese Georgier erzählten Mamik, dass sie gekommen waren, um hier zu leben und zu arbeiten, der Direktor sich aber weigere, die Immigranten aufzunehmen. Mamik erinnert sich, wie er ins Büro stürzte und den Direktor zur Rede stellte. ‚Sie sitzen hier und genießen ihr Essen und Trinken nur dank der sowjetischen Soldaten, die für dieses Dorf mit ihrem Leben bezahlt haben. Es gibt sogar ein Denkmal für den Helden der Sowjetunion, den Unteroffizier Shota Lewonowitsch Gamtsemlidze, genau in diesem Dorf. Und jetzt sitzt sein Enkel vor Ihrer Tür und kann nirgendwo hin.‘ Natürlich meinte er ‚Enkel‘ im übertragenen Sinne, da wir alle Brüder und Schwestern sind. ‚Er wurde rot und nahm die gleiche Farbe an wie dein Gewand‘, sagte Mamik lächelnd zu einem der ‚Freunde‘ am Tisch. Der Georgier wurde aufgenommen.

Wir mögen es nicht, wenn Ausländer Kaliningrad als sozialistisches Reservat, als düstere sowjetische Stadt bezeichnen. Wir, die wir hinter den Fassaden der deutschen Bastionen leben, sind es gewohnt, die Tatsache zu ignorieren, dass tatsächlich graue Chruschtschowka die vergoldeten Kirchtürme dominieren. Doch das Gebiet ist quasi das allersowjetischste von allen. Die Leute kamen hierher, nachdem sie ihre Heimat verloren hatten, weil sie hier in der UdSSR leben konnten. Armenier, Georgier und Aserbaidschaner wollten sich hier zu Hause fühlen – in Kaliningrad sind sie ebenso ‚einheimisch‘ wie die russischen Flüchtlinge aus Zentralasien oder die Veteranen der Sowjetarmee aus den baltischen Staaten. Sie waren genau wie der Rest von uns, der hier in zweiter oder dritter Generation lebt. Rechtlich gehört dieses Gebiet zu Russland, aber geistig gehört es allen Einwohnern der früheren UdSSR, allen Enkeln des Unteroffiziers Gamtsemlidze. Es ist der letzte Splitter der ‚unzerbrechlichen Union‘ (wie es in der Hymne der UdSSR hieß), der in dieser Ecke verloren ging wie ein Stück Bernstein mit einem Einschluss, wie sie oft an den Stränden der Ostsee zu finden sind. Oder vielleicht wie die Arche Noah inmitten der Wellen des Ozeans, deren Türen weit offen sind für alle irdischen Lebewesen.

Hier sprechen wir jedoch nicht von Schmuckstücken, sondern von lebenden Menschen. Mamiks Nichte hieß Կաʗոʖ, Karot. Streng genommen kommt dies vom Verb ‚vermissen‘ – man kann es also als ‚Trauer‘ oder ‚Nostalgie‘ verstehen. Dieses Gefühl ist jedoch nicht nur Traurigkeit; es ist der bohrende Schmerz des Bergbewohners, der unten im Tal leben muss. Es ist die Erinnerung an das Schöne, das in der Vergangenheit zurückgelassen wurde. Und womöglich ist es auch eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft an diesem merkwürdigen Ort, an dem es so viele gebrochene Herzen gibt, die Menschen aber noch immer genügend Lebensmut finden, um Lieder zu singen, Hochzeiten zu feiern und Gäste willkommen zu heißen.

Die Dualität des Narrativs
Die Menschen, die in Kaliningrad leben, sind zur Dualität bestimmt. Auf der sprachlichen Ebene erkennt man dies an einigen elementaren Sprachkonstruktionen wie ‚nach Russland gehen‘. Wenn Kaliningrad doch ein Teil Russlands ist, wie kann man dann von hier aus nach Russland gehen? Und doch sagen das fast alle hier.

Diese Dualität lässt sich auch an komplexeren Mikroerzählungen ablesen. Einmal berichtete mir jemand vom Kommentar eines Reiseleiters: ‚Von unserem Flugplatz aus flogen die Naziflugzeuge los, um die sowjetischen Städte zu bombardieren“. Von welchem Standpunkt aus wird diese Geschichte erzählt? Im Kaliningrader Zoo gibt es ein Denkmal, das der Befreiung dieses Ortes am Ende des Sturms der Eroberung gewidmet ist. Die Frage ist – wen haben die Soldaten der Roten Armee im Zoo befreit und von wem? Vor einigen Jahren, als der Präsident von Kroatien die Ehrendoktorwürde unserer Universität verliehen bekam, hielt der Gouverneur des Gebiets (der von Moskau hierhergezogen ist) bei der Zeremonie eine Rede, in der er stolz verkündete: ‚Zum ersten Mal seit Herzog Albrechts Zeiten begrüßt unsere Universität ein ausländisches Staatsoberhaupt‘. Seit 2005 trägt die Universität den Namen Immanuel Kants, was innerhalb der Stadtgesellschaft nach wie vor für Kontroversen sorgt.

Wahrscheinlich ist diese Dualität der Identität Kaliningrads für die Langlebigkeit der Stereotypen in den Köpfen unserer Landsleute ausschlaggebend. Vor einigen Jahren habe ich Archangelsk besucht, eine Stadt in Nordrussland, wo mich einige Leute ernsthaft fragten, 'Wo haben Sie so gut Russisch gelernt? Ihre Muttersprache ist doch Deutsch, nicht wahr?' Man muss sich also nicht wundern, wenn der Moderator des föderalen Senders ‚Cultura‘ von der Zerstörung des Kaliningrader Doms am Ende des Zweiten Weltkriegs durch die deutsche Luftwaffe berichtet. Sich vorzustellen, dass die russische Altstadt durch die alliierten Streitkräfte Großbritanniens zerstört wurde, ist schon eine Herausforderung.

Diese Sammlung von Versprechern wurde im Herbst 2012 beim Forum der russlanddeutschen Gemeinschaften in Kaliningrad durch einige weitere Beispiele ergänzt. Einer der russischen Teilnehmer sprach von der ‚heroischen Vergangenheit unseres Vaterlandes, einschließlich der Bernsteinregion.‘ Alles ist klar, zugleich aber auch nicht. Was ist mit ‚unserem Vaterland‘ gemeint? Welche historische Epoche der ‚Bernsteinregion‘? Der andere russische Teilnehmer erwähnte ‚das Jubiläum von Königsberg-Kaliningrad und des Gebietes Kaliningrad-Ostpreußen.“ Wann wird das Jubiläum dieses Ostpreußens gefeiert? (Tatsächlich feierten es die Deutschen – 1931 gab es in Königsberg eine große Feier zum 700-jährigen Bestehen Ostpreußens.)

In der ‚Garderobe‘ dieses Forums erzählte mir ein Deutscher eine Geschichte aus seinem eigenen Leben. In den 1960er Jahren verlor er seinen Pass. Also ging er zur Polizei und gab seine Personalien an – Geburtsort: Königsberg. Der erschrockene Gendarm hob sofort die Hände hoch, ‚Sind Sie Russe?‘ Nicht nur sind wir im Kaliningrader Gebiet ein bisschen deutsch. Nun sind auch alle, die aus dem ehemaligen Ostpreußen kommen, ein bisschen russisch. Das ist die heroische Vergangenheit unseres Landes, und sie bedarf der Zukunft nicht weniger, als die Zukunft der Vergangenheit bedarf.

Der Fall Arseniew
Die Rolle, die die Vergangenheit für die Identität von Menschen spielt, unterscheidet die Kaliningrader auch von anderen Russinnen und Russen. Sie finden es schwierig, ihren eigenen Platz in der komplizierten Geschichte russisch-deutscher Beziehungen zu finden. Eines der jüngsten Beispiel hierfür ist die Geschichte von Professor Nikolaus von Arseniew (1888-1977), der an der Königsberger Universität lehrte. Da er nach der Russischen Revolution in Sowjetrussland verfolgt wurde, emigrierte er in die ostpreußische Hauptstadt. Dort galt er als orthodoxer Denker und studierte Kulturgeschichte. Im Herbst 1944 floh er in den Westen und starb als amerikanischer Staatsbürger.

Sein Leben weckte in den 1990er Jahren in Kaliningrad einiges Interesse. Er schien eine Kompromissfigur zu sein – für diejenigen, die die deutsche Vergangenheit schätzten, war Arseniew ein echter Bürger Königsbergs, für die russischen Nationalisten verkörperte er einen Orthodoxen, der unter den Bolschewisten gelitten hatte. 2010 beschloss eine Initiativgruppe, eine Gedenktafel an der Wand des Kaliningrader Hauses anzubringen, in dem er einst gelebt hatte.

Nach einer zweijährigen Debatte über die Inschrift auf der Tafel wurde das Datum für die Einweihungsfeier bekanntgegeben. Niemand hatte etwas dagegen, auf diesem Gebiet eines weiteren Russen zu gedenken. Es schien nur ein weiterer Beweis für die russische Präsenz im vormals deutschen Gebiet zu sein. Doch nachdem die Medien die Entscheidung verkündet hatten, stieß ein Blogger auf einige interessante Dokumente, die von den Aktivitäten des Professors im Zweiten Weltkrieg zeugten.

Kurz vor seinem Tod hatte Arseniew seine Memoiren veröffentlicht, in denen er detailliert über sein Leben in Königsberg berichtete, seine Aktivitäten während dieser tragischen Zeit jedoch mit keinem Wort erwähnt. Wie sich herausstellte, hatte er im Herbst 1941 seinen Dienst bei der Wehrmacht als ‚Sonderführer‘ angetreten und arbeitete als Dolmetscher im Kriegsgefangenenlager bei Leningrad, wo sowjetische Soldaten untergebracht waren. Die Archivunterlagen und einige Veröffentlichungen geben Aufschluss über seine Tätigkeit als ‚Sonderführer‘ mindestens bis zum Frühjahr 1942. Es gibt keine Hinweise, dass er an Kriegsverbrechen beteiligt sein könnte, doch die Tatsache, dass Arseniew in den NS-Truppen diente, ist unbestreitbar. Er korrespondierte mit den Nazi-Funktionären und schrieb von seinem Haus in Königsberg aus Briefe, die er mit ‚Heil Hitler! Nikolaus von Arseniew‘ unterschrieb. Diese Erkenntnisse lösten eine hitzige Debatte aus, in der die Teilnehmer versuchten, die zulässigen Grenzen für den Gedenktext abzustecken. Unterstützer wiesen darauf hin, dass es in Kaliningrad am Haus von Agnes Miegel eine Gedenktafel gibt*, obwohl die Dichterin tatsächlich Mitglied der NSDAP gewesen war. Gegner machten darauf aufmerksam, dass die Kollaboration des 53-jährigen Professors mit Nazideutschland, das sein Land angegriffen hatte, einen allzu dunklen Schatten auf sein Ansehen warf. Infolgedessen wurde die Entscheidung, die Tafel zu installieren, wieder aufgehoben. So gibt es also in der russischen Stadt Kaliningrad eine Gedenktafel für die deutsche Nazidichterin, aber keine für ihren Zeitgenossen: einen russisch-orthodoxen Philosophen. Dies ist eines der vielen Paradoxa, die das Geschichtsbewusstsein der Einheimischen prägen. In ihrem Bewusstsein schaffen es ‚unsere‘ Deutschen und ‚ihre‘ Russen irgendwie zu koexistieren.

Wie die Ufer des Flusses sind auch die Vergangenheit und die Zukunft durch eine Brücke miteinander verbunden: die Gegenwart. Bert Hoppe hat einmal gesagt, dass Kaliningrad lange Zeit für die Russen eine Stadt ohne Vergangenheit und für die Deutschen eine Stadt ohne Gegenwart war. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich die Situation dramatisch verändert. Endlich wurde die Pregelbrücke ins Nirgendwo (deren Bau noch am Ende der Sowjetära begann) fertiggestellt. Doch die Brücke in die Zukunft ist nach wie vor im Nebel verborgen. Führt sie zu einem wundersamen Ort, an dem die endgültige Versöhnung aller Völker der Erde mit- und untereinander stattfindet? Oder heißt sie gar Utopie? Selbst Leonhard Euler hätte dieses Problem nicht lösen können, doch die Millionen neuer Bewohnerinnen und Bewohner dieses Gebiets müssen es jeden Tag tun.

* Inzwischen abgehängt (Anm. d. Übers.)