Der Ostseeraum als Ort der Weltgeschichte

Literarische und politische Betrachtungen zum „Schicksalsjahr“ 1904

„Glatt liegt sie da, die See, kein Leichentuch, aber doch so viele Geheimnisse deckend.“
Walter Kempowski, Hamit

Am 26. März 1904 läuft in Stettin der erste Turbinenkreuzer der Marine des Deutschen Reichs vom Stapel. Kaiser Wilhelm II. hatte extra eine Allerhöchste Kabinettsordre erlassen, mit dem Taufakt den "Regierenden Bürgermeister einer Freien Hansestadt" zu beauftragen. Dabei sollte die Ehrenwache "präsentieren und den Marsch schlagen". Die Wahl fällt auf den Repräsentierenden Bürgermeister der Freien und Hansestadt Lübeck, Senator Dr. Heinrich Klug, der das Schiff denn auch auf den Namen "Lübeck" tauft. Er erhält die Zusicherung, daß der Kreuzer mit der neuartigen Antriebstechnik der Marinestation Ostsee in Kiel zugeteilt und Lübeck als erstem Hafen nach seiner Fertigstellung einen Besuch abstatten würde.

Anwesend beim Stapellauf, und damit die Bedeutung des Ereignisses unterstreichend, ist der erst kürzlich geadelte Konteradmiral Alfred von Tirpitz, Staatssekretär und damit Leiter des Marineamtes, neben - wenn nicht noch vor - dem Kaiser die treibende Kraft beim Ausbau der Kriegsflotte. In seiner Begleitung weitere hohe Marineoffiziere, darunter Fregattenkapitän Reinhold Speer. Er wird nachher im I. Weltkrieg als Oberbefehlshaber der Seekriegsleitung mit seinem letzten Einsatzbefehl - der den sicheren Untergang der Flotte bedeutet hätte, wäre er befolgt worden - die Meuterei der Matrosen und damit Anfang November 1918 in Kiel die Revolution auslösen, die schnell auf andere Städte, darunter Berlin und München, übergreift.

Der erste Akt der Indienstnahme eines neuen Kriegsgeräts der Marine, der Stapellauf des ersten Kreuzers mit Turbinenantrieb, wird demonstrativ in Verbindung gebracht mit der Hanse, einem Zusammenschluß von Fernhändlern mit Schwerpunkt in den Städten an der Ostsee und mit dem Organisationszentrum Lübeck. Deren Bedeutung, zeitlich und räumlich, lag da schon weit zurück. Der letzte Hansetag, zu dem nur noch sechs Städte Vertreter entsandten, hatte 1669 stattgefunden.

Diese sowohl städtische wie kaufmännische Tradition der Ostseeregion wird also in Stettin beschworen, und zwar durch eine allerhöchste Verfügung des Kaisers. Nicht aber, um diese Tradition neu zu beleben, also den Eintritt Deutschlands in das Zeitalter des inzwischen weltumspannenden Handels kundzutun, sondern um damit den Anspruch auf die Stellung einer Weltmacht als Seemacht zu demonstrieren - oder zu kaschieren. Auf Veranlassung des Kaisers übernimmt der zivile Repräsentant der ältesten deutschen Reichsstadt im Norden die Zeremonie der Taufe eines Kriegsschiffs, das gebaut wird, es an technischer Ausstattung und kriegstauglicher Manövrierfähigkeit mit den Schiffen Englands, der größten und modernsten Flotte der Welt, aufnehmen zu können.

In seinem Taufspruch trägt der Lübecker Bürgermeister dem denn auch Rechnung. Er lautet: "Trotze Sturm und Wogen, trotze dem Feind! Dem friedlichen Weltverkehr auf den Meeren sei Schutz und Schirm!" Nach dem bewegten Element, dem jedes Schiff erst einmal gewachsen sein muß, Sturm und Wogen, ist es der Feind, dem die Stirn geboten, dem Trotz angesagt wird. Dann erst folgt der Weltverkehr, der da im Zeichen des Kolonialismus, und gar nach dem gescheiterten Flottenabenteuer vor China, schon nicht mehr bloß friedlich ablief. Ein frommer Wunsch also.

Heinrich Mann geht übrigens in einem Brief vom 10.April 1904 an den Freund aus Lübecker Schultagen, Ludwig Ewers, auf diese Rede ein: Einer, heißt es da, der noch in wohlgeordneten Sätzen sprechen könne, das sei der Bürgermeister Klug bei der Taufe der "Lübeck" in Stettin gewesen. Heinrich Mann dagegen plädiert für einen Stil der "kurzen Sätze", um, so wörtlich, "unsere reichen, vielfältigen, überraschenden nervösen Erlebnisse von uns zu geben". Eine der nicht so seltenen Distanzierungen dieses Autors von seiner Geburtsstadt und ihren Repräsentanten.

Das erste Boot mit Turbinenantrieb war 1897 während der großen englischen Flottenparade zu Ehren der Königin Victoria vor Portsmouth aufgetaucht. Unangemeldet flitzte das Schiffchen zwischen den riesigen Panzerkreuzern umher. Das war das gleiche Jahr 1897 gewesen, in dem Wilhelm II. Tirpitz die Marineleitung und dem späteren Reichskanzler Bernhard von Bülow das Außenamt übertrug - bezeichnend auf der Jacht des Kaisers in der Kieler Förde, seinem Lieblingsaufenthaltsort.

Die Ostsee mit ihren Rändern und Ländern war die längste Zeit eine Region des regen ökonomischen und kulturellen Austauschs gewesen. Alle Kriege, die an dieser wässrigen Nordgrenze der von Deutschen bewohnten Territorien geführt wurden, waren Handelskriege gewesen, Kriege um den Zugang zu den lukrativen Märkten im Ostseeraum. Kein einziger davon zielte von deutscher Seite auf die Eroberung und Annexion von Gebieten ab - ganz im Unterschied zu den kriegerischen Auseinandersetzungen an den Grenzen im Osten, Süden und Westen. Die Hansestädte schickten ihre Kriegsschiffe los, und wenn Kopenhagen wieder einmal zerstört war, kehrten sie in ihre Heimathäfen zurück. Es ging um Marktvorteile, nicht um Landbesitz. Darin unterscheiden sich zum Beispiel Lübeck und Venedig - geholfen hat es Venedig am Ende auch nicht.

Die Rede ist davon, was von deutscher Seite ausging. Dänemark, Schweden und bald auch Rußland haben durchaus miteinander Kriege um Macht- und Gebietszuwachs geführt, und das seit dem 16.Jahrhundert in großem Stil. Ausschlaggebend dabei war die Reformation in Skandinavien. Der Kirchenbesitz, der in Schweden Zweidrittel des gesamten bewirtschafteten Landes ausgemacht hatte, fiel nun an den König. Dänemark und Schweden wurden zu zentral regierten Nationalstaaten, gegen die die norddeutschen Städte nichts mehr ausrichteten. Schweden entwickelte sich sogar zu einer Großmacht an und auf der Ostsee, mit der größten und modernsten Flotte.

Ich übergehe die Episode mit Wallenstein als Herzog von Mecklenburg: Mit der Errichtung einer Flottenbasis für das Haus Habsburg an der Ostsee scheiterte er 1628 an Stralsund - es hätte die Ausdehnung der Seemacht des katholischen Spanien bis hierher bedeutet.

Ich gehe auch nicht auf die komplizierten Vorgänge ein, die 1848 zu Kämpfen in und um Schleswig-Holstein führten, und die das Vorspiel waren für den deutsch-dänischen Krieg von 1864 - den ersten Eroberungs- und Annexionskrieg von deutscher Seite im Norden, durch den Dänemark 40% seines Staatsgebiets verlor.

In diesem Krieg hatte die dänische Flotte die Häfen an der deutschen Ostseeküste blockiert. Deutschland, das als Nationalstaat ja erst seit 1871 existiert, verfügte über keine Kriegsflotte. Erste Anstöße dazu kamen aus Kiel, wurden 1848 von der Nationalversammlung in Frankfurt am Main aufgegriffen und fünf Jahre später von Preußen übernommen, das 1864 seine ersten, man kann getrost sagen, Schiffchen zu Mutproben gegen die überlegenen dänischen Belagerer zur See losgeschickt und schnell wieder in den sicheren Hafen von Swinemünde zurückgezogen hatte. Das erste Kriegsschiff der preußischen Marine wurde in Danzig gebaut, finanziert von den Bürgern dieser Stadt, das zweite, "Frauenlob", finanzierten die deutschen Frauenverbände.

Das Konzept, der Auftrag der Flotte war in erster Linie der Küstenschutz. Daran hält auch noch der Bismarck-Nachfolger Caprivi fest. Doch dann kommt 1888 Kaiser Wilhelm II. mit 29 Jahren an die Macht, ein Enkel der Queen Victoria, Sohn einer englischen Prinzessin. Schaut man genauer hin, meint man, dieser habe sich als einen ausgelagerten oder gar verstoßenen Angehörigen der englischen Throninhaber-Familie gesehen, der das ihm zugefallene Deutsche Reich dazu benutzt, mit diesem Potential nun die Stellung in der Welt zu erobern, die er, hätte er in England die Thronfolge angetreten, eingenommen hätte: Oberster Repräsentant einer Weltmacht zu sein, die ausschließlich Seemacht war. Das schlechte Verhältnis zu seiner Mutter, es ist, als verübelte er ihr, daß sie, ihn nicht in England zur Welt und dort gleich zur Weltmacht gebracht hatte. Also beginnt er sich sein England zu schaffen, ein Reich zur See, ja, zu Schiff: der Jacht "Hohenzollern", seiner Befehlszentrale vor Kiel in der Ostsee, und dies sein ganz persönliches, sein privates Weltmeer. Auf die "Hohenzollern" wird er seine Minister hin beordern, auf ihr wird er Seinesgleichen, und das konnten wieder nur Monarchen sein, empfangen oder besuchen.

Wilhelms II. Politik zielt auf zwei Dinge ab: Eine ebenso große Flotte zu haben wie die englische und England aus der Ostsee, seinem Meer, fernzuhalten. Was er und Tirpitz nicht verstehen wollen, ist, daß England keine gleich starke Flotte wie seine eigene auf der ganzen Welt dulden kann, denn wäre es zur See besiegbar, wäre es, da als Landmacht nahezu unbedeutend, jeder Invasion preisgegeben. Daß Deutschland eine Landmacht war, störte England nicht. Seine potentiellen Feinde waren bis dahin Frankreich und Rußland gewesen, die Konkurrenten um Einflußgebiete in Afrika bzw. Asien.

1904 ist es soweit: England reagiert auf den massiven Ausbau der deutschen Flotte mit einem radikalen Umdenken, mit einer totalen politischen Kehrtwendung. Im Februar wird der seinerseits sehr rabiate John Fisher zum Ersten Seelord berufen. Als Erstes schlägt er König Edward VII. vor, mit der englischen Flotte durch den Nord-Ostsee-Kanal in die Ostsee vorzustoßen, die deutsche Flotte zu vernichten und Schleswig-Holstein zu besetzen. Sein Flottenprogramm, der Bau der großen Dreadnought-Schiffe, läßt Tirpitz seinen Rücktritt erwägen.

Am 8. April 1904 schließt England mit Frankreich ein Abkommen, die entente cordiale, nachdem es vorher schon einen Bündnisvertrag mit Japan unterzeichnet hatte. Der sah vor, daß England Japan in einem Krieg mit Rußland beistehen würde, sollte eine dritte Macht - an keine andere als an Deutschland war gedacht - auf russischer Seite in das Kriegsgeschehen eingreifen, wonach es nach Äußerungen des Kaisers ständig aussah. Die Einkreisung Deutschlands hatte begonnen. Aus ihr wird die Kriegskoalition der Gegner des Deutschen Reichs und Österreichs 1914 hervorgehen. Zwischen Rußland und Frankreich bestand ohnehin ein Bündnis, dem England sich 1907 anschloß.

Im Juni 1904 kommt Edward VII. zur Kieler Woche, eine Geste der Verständigungsbereitschaft trotz allem. Auf der Jacht des Kaisers muß er sich während eines Banketts jedoch anhören, wie sein deutscher Neffe, denn das war Wilhelm II., verkündet, daß er eine eben so große und schöne Flotte wie England haben wolle. Zu allem Überfluß führt er auch noch dem König und seinem Troß aus Offizieren und Journalisten das gesamte Seekriegspotential der Kaiserlichen Marine vor Augen - zum Ärger von Tirpitz, dessen Motto lautete: Schiffe bauen und Maul halten.

Auf der Kieler Woche 1904 macht auch die neue Weltmacht, damals noch die Weltmacht von morgen, ihre Aufwartung bei der alten Welt und demonstriert gleich ihre Überlegenheit auf einem für den Kaiser empfindlichen Sektor: Die Amerikaner besiegen mit ihrem Schiff in jeder der ausgetragenen Regatten die kaiserliche "Meteor", auf der Wilhelm II. höchst persönlich eine klägliche Figur abgibt: Er weigert sich lange, das schnellere Schiff der Konkurrenten vorbeizulassen, ein unseemännisches Verhalten, für das selbst er das Gefühl hat, sich hinterher bei den Amerikanern entschuldigen zu müssen.

Ein Ereignis, das im Bewußtsein der Bevölkerungen im Westen überraschend wenig Spuren hinterlassen hat, obwohl es der Auslöser eines der größten Umbrüche ist, den die Weltgeschichte kennt: Der russisch-japanische Krieg, der 1904 ausbricht und dessen Folgen bis 1917 und darüber hinaus reichen. In Rußland wird 1904 der Innenminister, in Finnland der russische Gouverneur ermordet, Geschehnisse im Vorlauf der ersten, gescheiterten russischen Revolution, die im Januar 1905 in St. Petersburg in einem Blutbad endet. Im Baltikum gehen die Gutshäuser der deutschen Adelsherren in Flammen auf, der östliche Teil des Ostseeraums kommt nicht mehr zur Ruhe. Lenin wird über die Ostsee, über Schweden und Finnland nach St. Petersburg gelangen.

Gleich nach Kriegsausbruch droht der Konflikt sich auszuweiten: Die russische Ostsee-Flotte verursacht in der Nordsee einen Zwischenfall, der beinahe zu einer Kriegserklärung Englands an Rußland geführt hätte, was die Vermittlung Frankreichs im letzten Augenblick verhindern kann. Russische Schiffe hatten englische Fischdampfer beschossen. England vermutet Deutschland dahinter, die russische Flotte durch das Gerücht von japanischen Torpedobooten vor England absichtlich irregeführt zu haben.

In der Tat hatte Wilhelm II. den Zar zu dem Kriegsabenteuer ermuntert, ja, gedrängt. Bevor die gesamte russische Ostsee-Armada, bestehend aus 43 Schiffen, im September 1904 geschlossen nach Ostasien abdampft, wo sie ein halbes Jahr später in der Seeschlacht von Tsushima vollständig vernichtet werden wird, hat der deutsche Kaiser dem Zaren versichert, er werde das Vakuum ausfüllen, mit seiner Flotte die russische in der Ostsee vollwertig ersetzen.

Damit sind wir bei einem weiteren Kapitel gefährlicher Trickserei, was mit Wilhelms Obsession, England den Zugang zur Ostsee zu versperren, zusammenhängt. Das Mittel dazu ist, daß er auf allen diplomatischen Kanälen und zuletzt im direkten Gespräch mit dem dänischen König diesen wissen läßt, er erwarte von Dänemark strikte Neutralität in einem Kriegsfall, was heißt, Dänemark dürfe der englischen Flotte die Durchfahrt durch Sund und Belt nicht gestatten, und da es dazu aus eigener Kraft sicherlich nicht in der Lage sein dürfte, biete er an, mit deutschen Truppen auszuhelfen, mit anderen Worten: Dänemark zu besetzen.

Er gibt vor, im Namen Rußlands zu sprechen, die russische Flotte in der Ostsee sehe sich durch die englische bedroht - wie er überhaupt den Zaren, der mit dem dänischen Königshaus verwandt ist, zu manipulieren, russische Interessen vorzuschieben sucht, wenn es in Wahrheit um seine eigenen geht. Der Kaiser läßt die Admiralität einen Plan ausarbeiten, Truppen auf den dänischen Inseln zu landen, ein Vorhaben, das der Chef des Admiralstabs Büchsel lange Zeit mit Eifer verfolgt. Als die Sache Ende 1904 abgeblasen - dabei nur aufgeschoben und nicht aufgehoben - wird, dann nicht etwa aus Besinnung auf das Völkerrecht, sondern weil der Chef des Generalstabs Schlieffen dabei ist, seinen berüchtigten Schlieffenplan auszuarbeiten. Der sieht einen Angriff auf Frankreich durch das neutrale Belgien vor, ohne Rücksicht auf das Völkerrecht, wie es dann 1914 ja auch geschehen wird. Dazu braucht Schlieffen, wie er sagt, das gesamte Landheer, außerdem befürchtet er, deutsche Truppen auf den dänischen Inseln könnten von See her abgeschnitten und aufgerieben werden.

1904 ist ein als solches kaum wahrgenommenes Schwellenjahr, genau in der Mitte eines Zeitabschnitts von welthistorischer Bedeutung zwischen 1864 und 1944 gelegen, dem Anfang und dem Ende eskalierender deutscher Eroberungskriege, die die Ostsee-Region erheblich in Mitleidenschaft ziehen und zu den Staatsgrenzen führen, wie wir sie heute vorfinden. Fernab von magischen Zahlenspielen, und ohne zwischen den Kriegsergebnissen von 1864 und 1944 eine auf Zwangsläufigkeit beruhende Verbindung zu konstruieren, einerlei auch, ob man in Wilhelm II. nun einen Initiator oder einen Katalysator sehen will innerhalb eines Geschichtsverlaufs, der auf die Katastrophe zusteuerte: Der "Paradigmenwechsel" in der englischen Außenpolitik 1904 mit seinen weitreichenden Folgen ist die Antwort auf den Ausbau der Flotte des Deutschen Reiches. Welche Ironie der Geschichte: Die Monarchie in Deutschland empfängt ihren Todesstoß von der vom Kaiser gehätschelten Flotte in Kiel im November 1918. Und wenn wir von der Ostsee von einem Schauplatz der Weltgeschichte reden, sollten wir daran erinnern, daß der II. Weltkrieg hier begann: Mit der Beschießung der Westerplatte, einer polnischen Enklave im Danziger Hafen, durch den Kreuzer "Schleswig-Holstein" am 1. September 1939.

Vielleicht interessiert es ja noch, daß 1904 die blutige Niederschlagung des Herero-Aufstandes im afrikanischen Deutsch-Südwest stattfindet, von Historikern als erster Völkermord des neuen Jahrhundert klassifiziert. Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus stirbt 1904. Ben Gurion, Mitbegründer des Staates Israel 1948, nimmt das als Anlaß, von Herzl als einer "Sonne" zu sprechen, unter dessen Strahlen die nationale Wiedergeburt der Juden erst möglich werde - der Beginn eines jüdischen säkularen Messianismus als politische Theologie.

Verständlich, daß sich die vielen Umbrüche auf die Welt der Literatur auswirken, sich in ihr fortsetzen: Erstaunlich, wieviele Schriftsteller gerade in diesem Jahr 1904 von einer Wende sprechen, die in ihrem Leben eingetreten sei oder eintreten sollte. Der aus Lübeck stammende Erich Mühsam veröffentlicht 1904 seinen ersten Gedichtband, unter Umständen, die zu erzählen eine eigene, längere Geschichte ergeben würde. Im gleichen Jahr stürzt er in eine schwere Lebenskrise, der er sich durch die Flucht nach Italien zu entziehen sucht. Doch da wird er in München Zeuge vom Streit, ja vom Zerwürfnis Stefan Georges mit den sogenannten Kosmikern sowie von Georges Ausrufung Maximilian Kronenbergers, genannt Maximin, zum "Herrn der Wende". Für den Dichter teilte sich seit dem Tod seines Geliebten, der am 10.April 1904 mit 15 Jahren gestorben war, die Weltgeschichte unversöhnlich in ein Zeitalter davor und eins danach.

Rilke nimmt im gleichen Augenblick den entgegengesetzten Weg, er verläßt Italien, um sich nach Dänemark und weiter nach Schweden zu begeben. Er verspricht sich davon, wörtlich, eine Wende. Er beginnt seinen einzigen Roman, "Malte Laurids Brigge", eine Liebeserklärung an das untergegangene, alt-adlige Dänemark, freilich eine Liebeserklärung auf vertrackte Rilkesche Art - wie das auch auf seine Liebesbeziehung zu Lou Andreas-Salomé zutrifft, die zu der Zeit aus St. Petersburg vom russisch-japanischen Krieg berichtet. Aber Rilke weiß ohnehin, was Krieg ist, wie er ihr zu verstehen gibt, wie eben Literaten so etwas wissen: aus der Literatur anderer Literaten. In diesem Fall aus den Kriegsschilderungen des russischen Autors Garschin, der 1877 im russisch-türkischen Krieg schwer verwundet worden war.

Doch die spektakulärste Wendegeschichte spielt sich zwischen den Brüdern Thomas und Heinrich Mann ab. Ausgelöst hatte den Konflikt, der als "Bruderzwist im Hause Mann" in die Annalen eingegangen ist, der jüngere der Brüder, Thomas, mit seinem "Vernichtungsbrief" (Helmut Koopmann) vom Dezember 1903. Darin wirft er Heinrich vor, miserabel schlechte Bücher zu schreiben, er nimmt Anstoß an der in ihnen offen ausgestellten Sexualität, an dem, was er als Renaissance-Kult bezeichnet, am Kolportage-Stil und noch an manchem anderen mehr.

Über diesen Streit ist viel geschrieben worden. Uns interessiert in dem Zusammenhang hier, daß Heinrich Manns Abkehr von dem Ästhetizismus seiner Romane bis dahin und der Beginn der Werkphase des politischen Schriftstellers Heinrich Mann in das Jahr 1904 fällt. Er schreibt in diesem Jahr den Roman "Professor Unrat", das Porträt eines wilhelminischen Schultyrannen. Jedenfalls versieht er die Hauptfigur des Romans mit diesem Etikett, stattet sie mit dem entsprechenden Habit und Habitus aus. Doch bei dem als Unrat verspotteten Gymnasiallehrer Rat handelt es sich dann doch wieder um einen Fall unfreiwilliger Abhängigkeit vom anderen Geschlecht, oder anders gesagt, von sexueller Hörigkeit. Das gilt auch von der Gegenfigur des Professors, dem Schüler Lohmann. Auch dessen Schulschwierigkeiten haben nichts mit politischer Aufsässigkeit zu tun - ganz im Gegensatz zu dem Schüler Erich Mühsam, der von dem gleichen Katharineum, das auch Heinrich Mann besucht hatte, wegen "sozialistischer Umtriebe" verwiesen worden war. Lohmanns Opposition und Obstruktion beruht auf der Blasiertheit eines Patrizier-Sprößlings. Das Ganze mündet in eine Satire auf die Verführbarkeit der besseren Gesellschaftskreise Lübecks, aus denen der Autor bekanntlich selbst kam.

1904 entsteht auch Heinrich Manns erste politisch gemeinte Stellungnahme in Erzählform, die Novelle "Fulvia". Die Geschichte spielt in Italien, im Revolutionsjahr 1848. Fulvia ist inzwischen eine ältere Frau, die auf die Ereignisse in ihrer Jugend zurückblickt. Als hätte es der Autor mit seinem coming-out als politischer Autor gar nicht abwarten können, läßt er die Titelheldin ihre Töchter gleich in den ersten Sätzen belehren: Nicht die Liebe, die Freiheit sei das Wichtigste im Leben - eine Botschaft, die dem Verfasser auf Anhieb das Lob seines Bruders eintrug.

Außerdem entsteht im gleichen Jahr Heinrich Manns erster Essay, einer der programmatischsten von all denen, die auf diesen noch folgen sollten, "Flaubert und George Sand", so der Titel. Darin distanziert sich der Autor von dem Nur-Schrifststeller und Kunst-Asketen Flaubert, und damit auch von sich selbst und seiner Kunstauffassung bis dahin. Ihm gegenüber oder entgegen stellt er die Schriftstellerin und Zeitgenossin George Sand, als die Stimme des Volkes und der Revolution und nimmt für sie Partei.

Warum, fragen wir uns, ist Thomas Mann gerade zu diesem Zeitpunkt so erbost über die Art der Bücher, die Heinrich schreibt, was geht es ihn überhaupt an, ist er seines Bruders Hüter in Sachen Literatur? Aufschluß darüber gibt, was er Heinrich im Hinblick auf ihre gemeinsame Herkunft aus Lübeck vorhält: Wenn er nur zehn, acht, fünf Jahre zurückdenke, heißt es in einem Brief vom Januar 1904, was für eine "vornehme Liebhabernatur" sei er, Heinrich, da gewesen. Er selbst, Thomas, sei sich daneben "plebejisch, barbarisch und spaßmacherhaft" vorgekommen. Im Grunde, und selbst wenn er mit ihm schimpfe, sehe er ihn immer noch so, und beschwört, bemüht eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit. Wörtlich: "Es ist ein altes Lübecker Senatorensohnsvorurteil von mir, mit dem ich mich, glaub’ ich, schon manchmal komisch gemacht habe, daß im Vergleich mit uns alles Übrige minderwertig sei."

Das ist als Beschwörung, wenn nicht Unterstellung eines gemeinsamen, sagen wir ruhig, Elite-Dünkels vielleicht auch schmeichelhaft, vor allem aber ist es Ermahnung, Appell, sich auf die Herkunft aus dem Lübecker Patriziertum zu besinnen und aufzuhören, diese anstößigen Bücher zu schreiben. Denn was ist geschehen? Thomas Mann hat die Pringsheim-Tochter Katja kennengelernt, mit der sich 1904 verlobt. Die Hochzeit findet im Februar 1905 statt. Im Rückblick hat er Katjas Elternhaus, in dem er 1903 zu verkehren begonnen hatte, so beschrieben: "Die Atmosphäre des großen Familienhauses, die mir die Umstände meiner Kindheit vergegenwärtigte, bezauberte mich. Das im Geiste kaufmännischer Kultureleganz Vertraute fand ich hier ins Prunkhaft-Künstlerische und Literarische mondänisiert und vergeistigt." Die Verbindung mit Katja Pringsheim bedeutet für ihn den Wiederanschluß an ein Milieu und versprach eine gesellschaftliche Stellung, worauf er durch seine Geburt als Lübecker Senatorensohn Anspruch zu haben meint. Und da hätte man schon gern einen entsprechend standesbewußten Bruder vorzuweisen gehabt und keinen Lieferanten von "Unterhaltungslektüre", wie er die Romane Heinrichs abfällig nennt.

Ein weiteres Ereignis von großer Bedeutung und von ebenfalls rehabilitierendem Charakter fällt in das Jahr 1904: Thomas Manns erste Lesung in Lübeck. Können wir noch ermessen, was das für ihn war, nach all dem Naserümpfen der Lübecker Honoratioren über die "Buddenbrooks", die hier als Schlüsselroman gelesen und als Produkt eines Nestbeschmutzers abgetan worden waren? Es war wie die zweite Vertreibung aus seiner Geburtsstadt, nach der ersten durch den Tod des Vaters und dem Verkauf der väterlichen Firma.

In Lübeck trägt er Szenen aus seinem einzigen Theaterstück, "Fiorenza", vor. Er konfrontiert seine Vaterstadt also mit dem Florenz der Renaissance, einem Stadtstaat wie Lübeck, der unter der Herrschaft der Medici, einer Bankiersfamilie, besonders unter Lorenzo dem Prächtigen, seinen Ruhm, sein Ansehen in der Welt, den Dichtern, Malern und Bildhauern verdankte - während man in Lübeck die Künstler, und das heißt ihn, Thomas Mann, nicht zu würdigen wußte. Die Lübecker sind denn auch nicht begeistert, die Zeitung am Ort spricht von Befremden über die Lesung aus dem Stück beim Publikum.

Thomas Mann scheint das nicht gekümmert haben. Doch hören wir ihn selbst, was er bald darauf dem Bruder schreibt: "Aber nun ist es wahrhaftig dahin gekommen, daß ich von einem 'Roman meines Lebens' sprechen kann, wie ich es in Lübeck, nach der Vorlesung, bei Thische that, als ich mit aufrichtig bewegter Stimme sagte: 'Einige von Ihnen wissen, daß ich an einem bedeutenden Wendepunkt meines äußeren und menschlichen Lebens stehe. Bis Berlin hat mich das Mädchen' - seine Verlobte Katja ist gemeint - 'begleitet, das eingewilligt hat, meine Frau zu sein, und ein ganz neues Kapitel in dem Roman meines Lebens soll beginnen.'"

Ein interessantes Dokument. Wenn er nun wert darauf legt, von einem "Wendepunkt" in dem Roman seines Lebens in Verbindung mit Lübeck zu sprechen, wo er offenbar erstmals diesen Ausdruck, auf sich bezogen, benutzt hat, zudem mit aufrichtig bewegter Stimme, und das in einer Tischrunde im Anschluß an den ersten Auftritt als Schriftsteller in seiner Vaterstadt - das Ganze dem Bruder, dem kurz vorher noch gescholtenen Bruder, in einem Selbstzitat, sozusagen in einer wortwörtlichen Kopie des Originals, mitgeteilt -, dann können wir wohl davon ausgehen, daß das ein ganz außerordentlicher Augenblick für ihn gewesen sein muß: Die Verlobung als Wiederanschluß an das Milieu seiner Herkunft und die erste Lesung in der Stadt, in der er in dieses Milieu ursprünglich hineingeboren worden war – beides zu etwas ganz Besonderen verschmolzen, eben zu einem "Wendepunkt" seines Lebens - das er übrigens schon ein Jahr vorher als ein "symbolisches, ein repräsentatives Dasein, ähnlich einem Fürsten", umschrieben hatte.

So ist das Jahr 1904 auch für Thomas Mann ein "Schicksalsjahr", ein Wendejahr, eine Wende zum Guten in seinem Fall, ein Jahr des Heils, das alte Wunden heilte.