German

Eine Reise ins Baltikum, nach Rußland, Finnland und Schweden

Reval, den 18. Mai

Ziehe durch Polen und iß mit den Juden und schlaf unter dem Grunzen der Schweine, und du wirst fühlen, wie wohltätig, welche gesellige Wiedergeburt es ist, wenn du in Kurland in ein reinliches freundliches Zimmer trittst, von einem artigen nettgekleideten Mädchen bewillkommt und mit einer guten Mahlzeit bewirtet wirst. Das war unser Fall, als wir in Medemkrug an der Grenze Mittag hielten und den Abend in Mitau bei Herrn Morelli im Hotel von Petersburg einzogen. In Mitau sahe ich von meinen alten Bekannten durchaus niemand, weil ich den Abend ankam und den Morgen abzog. Welche angenehme Veränderung von dem letzten polnischen Juden bei Kaydan zu dem wirklich stattlichen Wirtshause Mellopkrug! Du wirst glauben, ich sei in Agrigent ein Sybarit geworden. Das nun wohl nicht. Ein gutes Kartoffelgericht ist mir noch immer eben so lieb als eine Wildpastete; und wenn sie auch Potemkin durch Kuriere aus Paris bringen ließe. Aber ich kann nicht leugnen, daß mir ein reinliches Zimmer, eine gewaschene Schüssel und eine geputzte Gabel angenehm sind. Die Extreme sind hier wie überall übel wirkend. Unreinlichkeit macht Ekel, und Überfeinerung Ängstlichkeit, und bringt nicht selten nach Tische das Übelbefinden zur Zugabe. 

Mit wahrem Vergnügen sahe ich wieder einmal in der Sandferne die hohen Türme von Riga, deren Name schon wohlklingend ist. Der Reichtum hat sich hier durch die Wohltat des Stroms seinen Sitz auf der Armut des Bodens geschaffen: so weise weiß Natur die Versagung des einen Geschenks durch ein anderes großes zu ersetzen; wenn man auch nicht mit dem guten Pfarrer in Hamburg zum Beweise der Vorsehung annimmt, daß sie wohltätig die großen Flüsse bei den großen Städten vorbei führe. Tief im Mai war hier die Schiffbrücke noch nicht gelegt, und es war noch schauerlich kalt. Erst in Dorpat kamen einige warme Tage, die den Frühling ankündigten. Meine Freunde am Ufer der Düna empfingen mich mit offenen Armen und freundlich glänzenden Augen, und zärtelten mich aus einem Hause ins andere. Da wurde denn das neue Leben an das alte geknüpft und die Erinnerung lebendig gemacht und dadurch der Geist des Moments erhöht. Es ist hier eine schöne Mischung von deutscher Frugalität und nordischer traulicher Hospitalität. Glanz und Überfeinerung blenden noch nicht die Augen; aber voller Wohlstand, Freundlichkeit und Wohlwollen sprechen zum Herzen. An jeder Ecke sieht man Geschäftigkeit und Segen. 

Die hiesige Muße ist unstreitig eine der besten und geschmackvollsten Gesellschaften, die auf das Bedürfnis Aller von der gebildeten Klasse eingerichtet ist. Du mußt mir wohl erlauben, daß ich es gut finde, daß man hier zur Geistesnahrung auch etwas Speise und Trank für den Körper hat. Man kommt hierher, um sich an Leib und Seele zu erholen. Es kommt mir eben nicht behaglich vor, wenn ich nach der Lesung eines guten Buchs oder nach einem gewürzten Gespräch erst anderwärts ein Abendbrot suchen soll. Ich habe es beliebter Kürze wegen fast immer in der Gewohnheit, wo ich nicht essen kann, bezahlt oder unbezahlt, da gehe ich nicht eher hin als wenn es Pflicht ist; und das ist denn seltener. Man hat der Zeit so wenig; und ich suche lieber Zeithalter als Zeitvertreib. Warum soll ich mir die schönsten Stunden noch mehr zersplittern lassen? Der Himmel wird mich hoffentlich nie so sehr verlassen, daß ich geflissentlich meine Aussicht nach der Mahlzeit nehmen müßte; dafür sorgt mein guter Mut und der nächste Kartoffelbauer: aber ein Butterbrot ist nach meiner Meinung gar kein schlimmer Schluß der Gesellschaft. Wenn ich das zu finden nicht hoffen darf, schiebe ich lieber meinen Lucian oder Plautus in die Tasche, streiche in dem Walde herum und kehre für vier Groschen bei dem alten Schmidt in Nimptschen ein. 

Das Theater in Riga ist bekannt und hält wohl eine Vergleichung mit den bessern in Deutschland aus. Madam Taube, die ehemalige Demoiselle Brückl, und Madam Oehme, die ehemalige Demoiselle Koch, gelten für die vorzüglichsten Schauspielerinnen, und sind es auch wohl; es fehlt aber beiden noch viel an der höheren Richtigkeit und Bestimmtheit in ihrer Kunst. Arnold ist noch immer der Lieblingssänger des Publikums; und wenn er nur alle Mal erst die schulmeisterliche Ängstlichkeit der ersten Szene überwunden hat, so ist sein Vortrag nicht ohne Leben und Anmut. 

Das Publikum war eben nicht sehr zufrieden mit dem satrapischen Aufzuge des Generalgouverneurs Buxhövden, wo einige Kosaken mit der Pike jedes Mal in großer Eile, Übereilung möchte man sagen, nicht sehr freundlich und oft tätlich in den engen Straßen Platz machen mußten. Solche Erscheinungen hatte man bei Browne und Repnin nicht gehabt; deswegen fielen sie auf, ob sie gleich sonst in Rußland nicht ungewöhnlich sind. Die Rede des Tages war noch der Prozeß gegen den Generalsuperintendenten Sonntag, einen Mann, der sich durch seinen Feuereifer für das Wahre und Gute immer ausgezeichnet und dadurch nur ein sehr problematisches Wohlwollen der Vornehmen gewonnen hat. Man kann wohl nicht leicht etwas schwächeres und unzusammenhängenderes lesen, als die Anklagepunkte des Generals gegen ihn; und seine Verteidigung dagegen war leicht und bündig, und geschah mit Mut und Offenheit. Der Monarch und das Ministerium hat ihm alle Gerechtigkeit widerfahren lassen, die er erwarten durfte; und es gelang dem Parteigeiste mit seinem Anhange nicht, die unschuldige unerschrockene Unbefangenheit in der guten Sache zu unterdrücken. Hier und da wunderte man sich sogar laut in die Seele des Monarchen, wie der Graf Buxhövden nach einem so problematischen Ausgange eines so schlimmen Prozesses in der Residenz noch einen solchen Posten verwalte, der das uneingeschränkte Zutrauen eines reinen unbescholtenen Charakters erfordere. Die allgemeine Meinung wird durch keine Ukase bestimmt. 

Eine neue kleine Merkwürdigkeit in Riga war mir bei Marty noch die Arbeit eines Tischlers aus Lemsal, dessen Namen ich vergessen habe. Er kommt zwar Röntgen wohl noch nicht bei; ich habe aber doch weder in Sachsen noch in Berlin etwas gesehen, das seine Sachen an Festigkeit und Nettigkeit überträfe. Der Mann verdient allerdings Aufmunterung und Belohnung; auch werden seine Schüler schon gesucht, und einer von ihnen arbeitet in Dorpat in den akademischen Bauen, wo man außerordentlich mit ihm zufrieden ist. Eine seiner feinsten Unternehmungen ist eine in Holz, mit farbigen Hölzern eingelegte, ausgeführte Zeichnung der drei Schweizer, die den ersten Bund beschwören. Die Figuren sind, für die Art der Arbeit, sehr richtig, ohne große Härte und Schroffheit, und geben der besten neuen Mosaik nichts nach. Sie haben das Verdienst, daß sie mit großer Genauigkeit in beträchtlicher Tiefe eingelegt sind, und daß ihre Oberfläche ohne Schaden verschiedene Mal fein abgehobelt und also ihr Glanz erneuert werden kann. 

 

Auf einem meiner Spaziergänge von der neu gelegten Brücke nach dem kaiserlichen Garten und von dort nach der Petersburger Vorstadt überraschte mich eine Kriegsmusik, die den Charakter des furchtbarsten Sturms hatte, ohne alle übrige Beimischung irgend einer Leidenschaft. Wenn es denn einmal auch despotische Musik geben soll, so ist mir die reine Energie ohne dumpfe Schwärmerei doch noch immer die liebste. Mir ward dabei die Wirkung zweier Musikstücke sehr verschiedener Art wieder so lebendig, daß ich sie nicht aus der Seele treiben konnte, der Märsche von Marengo und der Konsulargarde; und unwillkührlich setzte ich mich zu Hause an ein Fenster, das den Nachhall aufnahm und zog in meinem Taschenbuche die Parallele.    So hat Tyrtäus sich der Sparter Kraft bemeistert, 

  Und, wenn sie rund der Feind umdrang, 
  Durch seinen göttlichen Gesang 
  Das Heldenvolk zu Schlacht und Sieg begeistert. 
  Der Lanzenwald ging furchtbar seinen Gang 
  Durch das Gefühl der Männerwürde; 
  Und Waffen waren keine Bürde, 
  Weil man sie kühn und ohne Zwang 
  Für seiner Enkel Freiheit schwang. 
  Ihm hat der Franke nach gesungen, 
  Und führt mit Ernst und hohem festen Sinn 
  Sein Heldenvolk zum Kampfplatz hin: 
  So hat sein Geist der Krieger Geist durchdrungen. 
  Doch fruchtlos war, was man zuletzt erwarb: 
  Die Freiheit siegte hier und starb. 
  Dort wälzet nun in vollem Taumel sich, 
  Von des Kozytus Dunst umgossen, 
  Ein Tongewirre fürchterlich, 
  Und stürmt und bäumt, gleich ungezähmten Rossen. 
  Die Ordnung ist darin verloren, 
  Und wild bacchantisch kocht das Blut, 
  Und statt des Zornes bricht die Wut 
  Wie Erinnyen aus des Orkus Toren, 
  Und stürzt sich wie des Waldstroms Flut. 
  Das ist das Rauschen stolzer Bassen, 
  Die auf dem Grabe der Vernunft 
  Des Aberglaubens Wiederkunft 
  Durch die Trabanten ihrer Zunft 
  Im Strahlentanz der Dolche feiern lassen. 
  Die Schwärmerei durchglüht den Zug; 
  Und mächtig spricht in jeder trunknen Note 
  Des neuen Sultans schlauer Bote, 
  Und hebet mit allmächtigem Betrug 
  Die Fittiche zu immer kühnerem Flug. 
  Die Kechenäer stehen da, 
  Erstaunt ob allem was sie waren, 
  Begreifen kaum wie es geschah, 
  Und tanzen schnell mit ihren neuen Scharen. 
  Urania, Volgivaga; 
  Marengo und die Konsularen. 

Von Riga aus geht es einige Stationen durch gar traurigen Sand, wo man Muße genug hat, wenn das Gehirn heiß genug dazu ist, unterdessen eine Reise mit Mahumed zu machen. Damit ich doch auch zur Kritik der Geographie und Statistik das meinige beitrage, will ich dir hier bemerken, daß mein Führer, das Reisebuch von Gotha, auf dieser kleinen Distanz in der Benennung der Posten einige ziemlich entstellende Fehler hat, die mir, als einem alten Wanderer in hiesiger Gegend, sogleich in die Augen sprangen. Eine Station heißt nicht Lenzendorf, sondern Lenzenhof; eine andere nicht Tepliry, sondern Teilitz; eine dritte nicht Kuikar, sondern Kuikatz. Dergleichen Quisquilien finden sich im Buche noch hier und da, die zwar von keiner Bedeutung, aber doch nicht angenehm sind. 

Von Lenzenhof machte ich einen kleinen Abstecher nach Lindenhof, rechts durch die Nachbarschaft von Wenden. Schon der Name zeigt, daß die Gegend nicht unangenehm sein könne; und wirklich sind an der Aa hinauf einige Partien von Tälern und Bergen, die von den Sandhöhen bei Riga sehr lieblich abstechen. Von Lindenhof ging es wieder links ein auf die Straße, nach Wolmar und weiter nach Dorpat. Von Wolmar bis Gulbin ist wieder viel Sand und Wald; aber von Teilitz aus über Kuikatz ist eine angenehme Abwechselung durch ziemlich fruchtbare gut bebaute Gegenden. 

Es verblüfft etwas, wenn man einen schönen Ruhepunkt vor der Nase sieht und so zu sagen schon einen Fuß dahin setzt, und durch einen Ruck eben vor dem Ziele hart genug abgesetzt und aufgehalten wird. Der Wagen jagte echt russisch reißend auf der ganz glatten Chaussee hin, als im Sturz die eiserne Achse brach, die große hohe Maschine umflog und meine ganze Poetik in einem Bogen von vielen Klaftern rechts hinab in den Graben schleuderte. Die Pferde machten vernünftig Stillstand, und wohlbehalten arbeitete ich mich mit meinem jungen Freunde aus dem Gepäcke heraus, und setzte mich mit einer nur kleinen Kontusion auf die Füße. Der Bediente aber, der kurz vorher die Geißel, trotz einem homerischen Fuhrmann, unbarmherzig geschwungen hatte, wehklagte laut mit den Fingern an den Rippen, an welche das Bockeisen ziemlich unsanft geschlagen hatte, und mußte in Dorpat der heilenden Hand des Herrn Kauzmann übergeben werden. 

In Dorpat gewann ich wieder meine alte völlige Freiheit, weil ich hier meinen jungen Reisegefährten glücklich in den Schoß seiner Familie ablieferte. Man ist mit einem solchen Auftrage doch nie so ganz leicht und ruhig, da man bei Übernehmung desselben sich natürlich verbindlich macht, das junge Menschenkind wohlbehalten an Leib und Seele zu überbringen. Du weißt, welche Bedenklichkeiten meine Freunde zu Hause hatten, als ich mich entschloß so zu gehen; aber man hatte die Sorge übertrieben. Es ging pädagogisch alles sehr gut. Der Vater hatte das Söhnchen zu ungleich behandelt und verzärtelt; der nachherige Lehrer hatte bei der besten Meinung die Sache zweckwidrig und unpsychologisch genommen. Ich brauchte eben kein Seelenbändiger zu sein, um mit Ernst, Mut und Bestimmtheit das Gleis zu halten. 

Nun wirst du etwas hören wollen von dem Athenäum an der Embach? Rom ward nicht in einem Tage; aber mich deucht, es geht gut: und mehrere wackere brave Männer arbeiten ehrlich aus allen Kräften, dem wiedergeborenen Institut Ansehen und Festigkeit zu verschaffen. Die Kollision mit dem Adel, — denn wo sucht der Adel nicht das Unwesen seiner Privilegien einzuimpfen? — ist nun im Wesentlichen gehoben: das übrige wird durch Zeit und Bedürfnis der Umstände gemacht werden. Für die Solidität hat der Monarch gesorgt; so daß eine russische Universität nie ganz schlecht sein kann, wenn sie nicht ganz verwahrlost wird. Der Bau wird unter Krausens Aufsicht lebhaft und gewissenhaft betrieben; und die wissenschaftlichen Vorträge haben einen guten Anfang genommen, und versprechen Gedeihen. 

Eine Haupteinwendung, die man gegen die russischen Universitäten macht, ist gewöhnlich, daß es noch an Schulen fehle, daß man erst für diese sorgen müsse und ohne festen Grund nicht weiter bauen könne. Das klingt allerdings gegründet genug, und mag es anderwärts auch sein: aber in Rußland ist die Einwendung nicht gültig. Dort müssen die kleinen Schulen erst durch die großen gemacht werden, wenn Hoffnung einer allgemeinen bessern Bildung entstehen soll. Die unerläßliche Bedingung einer festern schönen Kultur ist die Personalfreiheit Aller; und das Palladium des Adels ist die Bauernsklaverei. Die niedern Schulen werden nie eingerichtet werden und fortkommen, so lange der kleinere Bürger und Landmann nicht selbst das Bedürfnis fühlt und das Wohltätige derselben erkennt, und das seinige dazu beitragen kann. Der Adel wird dazu nie etwas tun, ohne zugleich seine eigenen Absichten zu nehmen, wodurch das allgemeine Gute wieder zerstört wird. Das liegt in der Sache. Es wäre Unsinn zu glauben, daß unter den Edelleuten durchaus keine seien, die es redlich meinen: aber der Geist des Korps ist in Widerspruch mit allem Besseren und hebt alles Emporkommen der Vernunft und Gerechtigkeit auf. Gerechtigkeit und Adel, nehmlich wie wir ihn in der Geschichte haben, sind immer im Gegensatz; und kein Edelmann ist gerecht und vernünftig als solcher; sondern nur in so fern er aufhört es zu sein. An höhere Kultur in dieser Rücksicht ist in Rußland noch in Jahrhunderten nicht zu denken, so wenig als in Deutschland. Sogar die Franzosen konnten sie noch nicht vertragen. Die Professoren scheinen nicht mit Unrecht unter dem Adelskuratorium Adelsnepotismus in der Verwaltung der akademischen Güter und der Wahl der Stellen befürchtet zu haben. Man braucht aber nicht Edelmann zu sein, um von Familiensucht besessen zu werden. Nicht ungegründet ist also auch die Furcht, daß nun in eben diesem Falle auch Professornepotismus entstehe, wenn die Oberaufsicht nicht strenge Aufmerksamkeit hat. Die Gymnasien und Kreisschulen, die unter der Aufsicht der Akademien stehen, werden allerdings trotz den gelegten Schwierigkeiten nach und nach guten Fuß gewinnen. Das Gehässige der neuen akademischen Inspektion wird aufhören, wenn man die Sache liberal behandelt, da alles in guter Ordnung ist. Wer sollte sonst die Aufsicht haben? Daß man vielleicht hier und da die Sache nachlässig und illiberal behandelt, hebt das Gute nicht auf, das wirklich in der Anordnung liegt. Die größte Schwierigkeit liegt vielleicht darin, daß die Professoren die Inspektionsreisen nicht, ohne ihrem eigentlichen Amte zu schaden, bestreiten können, und daß doch wohl manche nicht den pädagogischen Takt haben, der zu einem solchen Geschäft nötig ist. Während der Ferien braucht der Dozent Ruhe, um sich zur künftigen Arbeit vorzubereiten. Vielleicht wäre es zweckmäßig, wenn der Monarch auf jeder Universität zu diesem Behufe einen eigenen Mann anstellte, dessen Fähigkeit und Tätigkeit erprobt wären, und der als Scholarch die nähere Aufsicht des Schulwesens nach bestimmten Regeln unter sich hätte, der Gesamtheit der Professoren meldete, welche dann für sich und ihn der Oberschulkommission gehörig Rapport machte. Ein solcher Mann dürfte nur verpflichtet werden, bloß eine kurze Zeit des Jahres über irgend einen Gegenstand der physischen, moralischen oder scientifischen Erziehung eine Vorlesung zu halten. 

Die Parochialschulen wird selbst der Monarch jetzt noch nicht durchsetzen können, was auch Parrot und andere wohlmeinende Enthusiasten ihm darüber vorbeweisen. Er selbst ist nicht im Stande, den ganzen Fond zu bestreiten; der Adel gibt nichts; der Bauer kann nichts geben und fühlt noch lange nicht das allgemeine Bedürfnis einer bessern Bildung. Alles was der Kaiser bis jetzt zu dessen Vorteil hat tun wollen, blieb kraftlos oder wirkt wenig. 

Sklaverei läßt gar keinen Begriff öffentlicher Gerechtigkeit zu; und es ist doch die Sklaverei, was der ganze Adel so fest hält; nehmlich die Sache, denn das verhaßte Wort sucht man zu vermeiden. Das sogenannte neue Bauerngericht ist ein Mittel, wodurch der Edelmann nur eben so viel Ordnung unter seinen Leibeigenen hält, als er zu seinen Zwecken braucht. Wo ich die Beisitzer wähle und nach Gefallen ein- und absetze, beherrsche ich auch das Gericht. Das Resultat ist, daß manche Gemeinen schon laut gewünscht haben, man möchte sie doch lieber bei dem Alten lassen. Auf einer Akademie, wo rund herum solche Unsätze, denn Grundsätze kann man es nicht nennen, geübt werden, ist es freilich schwer, unbefangen Geschichte und Naturrecht zu lehren. Jedes Gute wird da Gift. Wo man das Höchste nicht haben kann, muß man sich an das Erreichbare und Örtlichmögliche halten. Wo ist es nicht der nehmliche Fall? Man hat mit Spekulationen aller Art noch so lange und so viel zu schaffen, daß es noch lange dauern wird, ehe man zur Aufstellung praktischer Vernunft im Staatsrecht kommen wird. 

Das akademische Gebäude auf der Anhöhe vor der Stadt, auf dem Grunde der alten Domkirche, wird eine stattliche Erscheinung machen, und als Kirche, Bibliothek und Museum seinem Zweck entsprechen. So viel Gutes sieht man schon, daß rund umher mehrere wüste Stellen zu Gärten bearbeitet und mit Häusern bebauet werden. Ob das andere Haus gegen über als Anatomikum und Sternwarte seine Absicht erreichen wird, mögen Kenner beurteilen. Die Bibliothek ist schon ziemlich zahlreich, und muß bald ansehnlich werden, wenn man die beträchtliche jährliche Summe von fünf tausend Rubeln mit Wahl anwendet. Morgenstern lebt darin, wie in einer Lieblingsschöpfung; und der Himmel gebe ihm viel schönen Genuß für seine Bemühungen. Auch das Museum gewinnt wenigstens schon einige Bedeutung, wo Germann mit vieler Tätigkeit Seltenheiten zusammenbringt und ordnet. Freilich ist es nicht mit den Schätzen in Moskau zu vergleichen. 

Die Botanik ist die Lieblingsbeschäftigung mehrerer wohlhabender Edelleute in der umliegenden Gegend. Unter andern verwendet der reiche Herr von Lipphardt auf Rathshof jährlich eine beträchtliche Summe darauf; und der Graf Münnich auf Lunia soll wirklich weit mehr als bloßer Dilettant darin sein. Der Geist der Universität und ihre Anlage ist gut; und von ihrem Kurator Klinger hat sie alle tätige Unterstützung zu erwarten: also ist wohl zu hoffen, daß sie, trotz den Schwierigkeiten, für das Reich und die Wissenschaften bald etwas wesentliches leisten werde. 

Von Dorpat aus nahm ich hohen Mutes meinen sicilianischen Seehundstornister wieder selbst auf eigene Schultern und pilgerte rüstig an der Embach hinauf, links ab nach Oberpalen, wo ich schon zu Hause einen Besuch versprochen hatte. Lieber breche ich mein Bein als mein Wort; also ging ich nach Oberpalen, und das ward mir sehr leicht. Die Frühlingssonne schien genialisch warm, ohne schon zu beschweren; und ich tanzte ganz lustig einige Lieblingsstellen aus dem Virgil ab. Man fühlt sich nie mehr in seiner Kraft, als wenn man geht; und so möchte ich einmal ganz abtreten. Es muß kein herrlicheres Ende sein, als der Tod in dem Gefühl seiner Kraft. 

Im roten Kruge sah es ziemlich traurig aus; aber man erbot sich doch sehr freundlich, mir zu Mittage ein Ochsenauge zu machen; weiter könne man nichts schaffen. Da ich in der esthnischen Küchennomenklatur nicht sehr gelehrt bin, wußte ich durchaus nicht, welche Art von Gericht das sein würde. Indessen, es wird doch wohl etwas eßbares kommen, dachte ich, und bestellte, ohne weiter zu fragen, frisch darauf los das Ochsenauge. Es erschien, was man auf deutsch so eine Art von Eierkuchen nennen möchte, woran ich weit mehr Geschmack fand, als an dem hochberühmten esthnischen Bierkäse, den ich nie sehe ohne an Käsebier zu denken, wie es auch wohl richtiger heißen sollte. Noch brachte man mir einen Teller voll Krebse; und nun war ich froher als an dem Tische des Erzbischofs von Agrigent. Unbekümmert um den Weg wie ein Spaziergänger, wandelte ich nun raschen Schrittes immer auf der Straße fort, bis mich der Abend überraschte, und ich an dem Pfahle sahe, daß ich sieben und funfzig Werste gemacht hatte. Da war nun rechts und links und vorwärts und rückwärts kein Haus wirtlichen Ansehens, und ich hörte etwas verblüfft von einem russischen Fuhrmanne, daß ich viel zu weit rechts über Kurristan herausgegangen sei, und sechs Werste zurück über Kawa müsse, um nach Oberpalen zu kommen. Kurristan klang mir ganz persisch, und Kawa allerliebst italiänisch. Was war zu tun? Ich hatte doch für sieben und funfzig Werste Müdigkeit in den Knochen, und der Abend war da. Ich machte also stracks mit dem Fuhrmann die Übereinkunft, daß er mich durch das Irrsal über Kurristan nach Kawa führen sollte. Das tat er, und gab mir für einen blauen Zettel eine gewaltige Schwere Kupfer zurück. Kawa in Italien ist ein gar lieblicher Ort zwischen Neapel und Salerno, auf dem herrlichsten Wege in ganz Hesperien. Wenn du in Neapel bist, und nicht wenigstens einmal über Pompeji und Kawa nach Salerno gehst, müsse dir keine Muse mehr hold werden. Hier in Esthland ist Kawa eine traurige verwaiste Gegend, so unfreundlich sie nur bei den Antihesperiden sein kann. Meine Füße taten mir von der ersten, etwas zu starken Anstrengung etwas wehe, so daß ich den andern Morgen das freundliche Anerbieten eines gelehrten Esthen, mich hinüber nach Oberpalen zu bringen, mit Vergnügen annahm. Der Mann sprach russisch, deutsch und schwedisch, außer seiner eigenen Zunge, war in Paris gewesen, und hatte sich eine Menge Qualitäten als Bedienter erworben, die er als mein Fuhrmann weiter nicht gebrauchen konnte. Er brachte ein leichtes Fuhrwerk, nach Landessitte ohne alles Eisen, hoch mit Heu bepackt, um mir einen leidlichern Sitz zu bereiten. Ich versuchte es rechts und links; es wollte nicht gemächlich werden. Das beste war, daß ich die Pitsche nahm und mich selbst in Funktion setzte. Mein Tornister war unten gehörig an der Leiter fest geschnallt, und so rollten wir mit einem kleinen Klepper in den Wald hinein. Mein Führer unterhielt mich, so gut es ihm seine Pfeife erlaubte, von seinen Reisen und seinen Erfahrungen in seinen mannigfaltigen Qualitäten. Aber was riecht denn, Freund? sagte ich und beschaute das Vehikelchen von allen Seiten. Er guckte mit, fand nichts, rauchte fort und sprach weiter. Aber der Geruch ward stärker, und nun brach die hell lodernde Flamme aus dem Heu hervor, auf dem wir saßen. Hilf, Himmel, hilf! schrie mein Vetturino aus Kawa. Hat Er mit seiner verdammten Pfeife den Brand angezündet, kann Er ihn auch löschen, sagte ich, und griff nach meinem Tornister. Aber dieser war nun zum Unglück unten fest geschnallt, die Flamme schlug hoch, und ich konnte in der Eile kein Messer finden. Ich riß mit ganzer Gewalt und riß die Riemen entzwei, und war nur froh, daß ich meine Hemden und meinen Aristophanes gerettet hatte. Dem Zollinspektor in Fondi hatte ich den Reisesack für mehrere Goldstücke nicht geben wollen; jetzt wäre es doch ärgerlich gewesen, wenn er hier in Esthland verbrannt wäre. Hilf, Himmel, hilf! schrie der Vetturino immer fort, und sahe sein Fuhrwerk jammernd in Feuer stehen. »Aber sieht Er denn zum Henker hier nicht, daß Flußwasser im Graben ist?« Nun ergriff er seine Ledermütze und schöpfte und goß Dutzende von Wasserfuhren, und ich schlug mit Stock und Hut so wacker zu, daß der Brand bald gedämpft war. Wäre es im freien Felde gewesen, wo kein Wasser war, so wäre die Telege ohne Rettung verbrannt. 

In Oberpalen war ich bei einer freundlichen Familie, in einem freundlichen Hause in einer sehr freundlichen Gegend patriarchalisch willkommen, und genoß einige Tage die Wohltat des reinen Landlebens und einer feinen gebildeten Gesellschaft, unter welcher auch der alte liberale ehrwürdige Hupel sich befand, ein Mann voll heiteren Frohsinns, mit dem Gepräge echter Humanität. Man kutschierte mich dann nach Weißenstein, einem Namen ohne Ort, wo einst die Ahnherren der heutigen Erbherren unter dem Mantel einer Religion, die ausgezeichnet Bruderliebe lehret, Elend und Skalverei über ein freies Volk brachten. Der Ort konnte auch wohl ehemals nur im Sommer durch die Sumpfgegend, und nur gegen Halbbarbaren, wie die Esthen und einige Jahrhunderte nachher noch die Russen waren, als Festung gelten. Jetzt tut die Regierung manches, wieder eine Stadt zu schaffen: das ist aber in den dortigen Verhältnissen nicht so leicht. Einige Regierungshäuser, einige Krämer und Handwerker sind alles, was man unter den Überresten der heiligen Unterdrückung sieht. 

Nun schlug ich den Weg nach Reval ein, da ich doch einmal so ziemlich auf der Hälfte war und die große Straße zu weit rechts lag. Hier hörte nun aber auch alle humanere Kultur auf, und in den Wirtshäusern fand man gewöhnlich nichts als die leeren Wände. Außer der Hauptstraße reist selten jemand, der nicht seinen Speisekorb und Flaschenkeller bei sich führte, so daß die ärmlichen Krüger ohne wahrscheinlichen großen Verlust nicht einmal etwas anschaffen können. Man reist also freilich unbegreiflich wohlfeil, aber auch unbegreiflich schlecht. Die Bauerhäuser sind wahre Troglodytenhöhlen. In den Wirtshäusern hat man zwar meistens eine so genannte deutsche Stube, welche zur Auszeichnung düstere geflickte Fenster hat: aber sonst ist auch nicht die geringste Bequemlichkeit; und was man mitbringt, kann man bei sauerem Bier verzehren. Ein Liefländer verzehrt gewöhnlich in einem solchen Hause nichts; er ist mit allem gehörig versorgt und gibt nur ein kleines Geschenk von einigen Kopeken für den Aufenthalt; und auch dieses nicht alle Mal. Ich konnte zum Abend durchaus nichts finden, als ein Stück altes hartes ungekochtes Pökelfleisch, das mir denn nach dem herrlichen Tische, den ich seit dem Zuge in Polen bisher wieder gehabt hatte, nicht sonderlich behagen wollte: und gegen das hiesige Bier war das in Polen mit Pflaumen und Branntwein angemachte noch Nektar. Doch hatte ich mein eigenes Zimmer und eine Pferdedecke zur Erwärmung; denn die Nächte waren noch empfindlich kalt. In der andern Abteilung schlief der Fleischer Elring aus Reval und ein Schneider, der Exküster aus Karkus. Der Schneider Exküster hatte durch seine Bekanntschaft und Industrie den andern Morgen für zehn Kopeken hundert Krebse herbei geschafft, die natürlich auf meine Rechnung kamen, und womit ich sodann großmütig das Triumvirat, den Metzger, den Küster und mich selbst bewirten konnte. So wohlfeil kann man den Kredit der Großmut wohl nirgends kaufen; und die Krebse gehörten wirklich zu den besten, die ich in meinem Leben gegessen habe. Die Qualität des gestrigen Abendbrots mochte auch wohl dem heutigen Frühstück nichts schaden. Der Fleischer blieb zurück bei seiner gehörnten Gesellschaft, und der Herr Exküster schlenderte mit mir fort, und erzählte mir aus seinem reichen Vorrat in einigen Stunden sogleich einige Dutzend Skandale der Gegend. Besonders beschwerte er sich über den Pastor Seeburg, den Grafen Dunden und den Herrn von Siewers, die ich, nach dem Ton seiner Anklage zu urteilen, bei mir sogleich rechtfertigte. Der Kerl soff Branntwein wie drei Kosaken, radbrechte Latein wie ein abgesetzter Küster, räsonierte wie ein Unwissender und Dummkopf, und ging jetzt als Gärtner eine Anlage zu einem englischen Park zu machen. Besonders drollig war seine Verteidigung wegen seiner Absetzung; denn es ging aus der ganzen Erzählung hervor, daß der Kerl gelegenheitlich Unterschleif mit den jungen Esthinnen getrieben; ein Privilegium, das der Adel mit keinem Küster teilen will. 

In Woit, wo ich die zweite Nacht schlief, war der große weitläufige Gasthof wieder eben so wüste und leer; und ich würde wieder eben so übel gefahren sein, wenn ich nicht von ungefähr einen Bekannten meiner alten Bekannten, einen Herrn von Stakelberg, dort angetroffen hätte, der sich ritterlich meiner annahm. Sodann kutschierte ich, weil ich mir in einer Steingegend den Fuß vertreten hatte, etwas lahm mit einem Fuhrmanne in Reval ein, und wandelte oder vielmehr hinkte zu Herrn Stolzenwald. Ein gutes Zimmer und eine gute Mahlzeit taten mir recht wohl. Mein Aufzug mit dem Tornister mochte doch wohl den Leuten etwas problematisch vorgekommen sein; man ließ mich nachher liegen, ohne sich einen Deut weiter um mich zu bekümmern. Das Vorzimmer war eine Billardstube, wo beständig großer Lärm von allerlei Publikum war. Du mußt wissen, ich habe seit mehr als zehen Jahren eine Koutusion am linken Fuße, wodurch die Bänder eine Art von Schwäche bekommen haben, die mir jeden Fehltritt empfindlich macht. Die beste Stärkung ist nun Gehen; und ich pflege zuweilen wörtlich wahr zu sagen, ich muß nur einige hundert Meilen zu Fuß gehen, weil ich lahm bin. Das Stauchen ist indes eine verteufelte Sache. Mein Fuß war sehr geschwollen, und schmerzte fürchterlich. Ich hatte mir einige Mal ein warmes Bad bestellt; niemand erschien wieder. Ich rief, ich lärmte, ich polterte, ich schrie sogar; niemand hörte. So ging, oder vielmehr so lag es von früh sieben Uhr bis Abends gegen fünfe; da ermannte ich mich an meinem Rohrstocke, hinkte mit großer Anstrengung heraus und hielt in meinem Ärger eine etwas starke Epanorthose der Humanität. »Bin ich denn unter die Irokesen geraten, daß ein ehrlicher kranker Kerl in einem öffentlichen Hause nicht die gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens für seinen Zustand haben kann? Soll ich zehen, soll ich zwanzig Dukaten Sicherheit wegen der Zehrung stellen? Das will ich: aber man schaffe mir doch wenigstens fremde Bedienung, wenn keine im Hause ist. Es ist ja unverantwortlich; es ist ja unmenschlich.« Ich drückte mich im Ingrimm wohl noch härter aus. Die Gesellschaft mochte doch aus meiner Wortfügung und der Art sie zu sagen, schließen, daß ich nicht so ganz ein Burlak sein könnte. Man half mir mit dem Nötigen, und ich hatte nun gar nicht mehr Ursache zu klagen. Herr Stolzenwald hatte gar keine Schuld. Er beschäftigte sich in seinem Garten; und seine Leute hielten mich wahrscheinlich gar nicht für einen Menschen, mit dem man sich viel beschäftigen müsse. So geht es oft in Gasthäusern. Die folgenden Tage erhielt mein Name einige Komplimente aus der Stadt, und meine Person dadurch einen beträchtlichen Zuwachs von Höflichkeit zu Hause. [...]

Sippola, den 28. Juli

Ich wette hier mein bestes Stück Lachs aus der Woxa und einen ganzen Korb voll Mamurami, du weißt nicht, in welchem Winkel der Erde Sippola liegt; und weder Büsching noch Schlözer noch Gaspari können dir helfen. Höre also, Sippola ist ein gar feines Dörfchen in dem nordischen Paradiese der Lappen Russisch Finnland, etwas aus dem Wege nordwärts, zwischen Wilmanstrand und Friedrichsham. Die Länge und die Breite habe ich nicht gemessen: ich kann dir also nur davon sagen, daß herrliche Beeren da wachsen, daß das Korn noch hohe Wellen schlägt und daß man sich ein noch ziemlich idyllisches Haberrohr schneiden kann; welches mehr ist, als du vielleicht in der Nachbarschaft der Lappen vermutest. 

Von den Theatern habe ich in Petersburg nur noch das italiänische gesehen, welches auch wohl das beste ist. Es war ein Sänger dabei, wie ich ihn wohl noch nie gehört habe. Indes er soll jährlich vierzehn tausend Rubel erhalten; dafür läßt sich auch etwas Klarheit und Stärke und Wendung in der Stimme erwarten. Die Deutschen habe ich nicht gesehen, weil alle meine Freunde einstimmig erklärten, daß sie nicht viel Gescheites nicht sehr gescheit gäben. Miré verlor eben wegen seiner Unordnung das Direktorium: nun hofft man von dem neuen Unternehmer, als einem Manne von Kenntnissen und Geschmack, etwas Besseres. Die Russen sahe ich nicht, weil ich bald hier bald da war und immer die Zeit versah. Es tut mir jetzt ein wenig leid; denn sie sollen treffliche Mimiker sein, und einige Nationalstücke mit viel Geist und Leben aufführen. 

Herr Pinnow versah mich zum Abschied freundschaftlich mit einigen guten Mitteln gegen schlechtes Wasser, und eine Gesellschaft begleitete mich in einigen Wagen bis Pergola, wo ich mit einer eigenen sehr gemischten Empfindung das letzte Abendmahl mit meinen dortigen Freunden hielt. Ich denke immer mit dem unbekannten Etwas, das man Herz nennt, längst abgeschlossen zu haben; und alle Augenblicke spielt mir der Kobold noch einen Streich. Das kleine herrliche Feuerwerk, das einige Offiziere zufällig ihrem General dort zum Geburtstage gaben, half mir über die trübe Stimmung der letzten Stunden hinweg. Wer weiß, ob ich je die guten Leute hier wieder sehe, die mich so brüderlich aufgenommen haben. Die Wagen rollten spät nach Petersburg zurück; ich packte die Proviantxenien der nordischen Hospitalität in meinen Reisesack, und quartierte mich noch an der Hand der letzten Begleiter bei einem wildfremden Finnen ein. Meine Seele war voll Bewegung, die Stube war im Juli geheizt und voll Rauch; alle Augenblicke glaubte ich ein Dutzend Tarakanen zu hören und schlief — so gut nicht wie gewöhnlich. Es war überdies jetzt noch die Zeit, wo es in dieser nördlichen Höhe ewig nicht Nacht werden will; und es kommt mir vor, als habe ich etwas von der Idiosynkrasie, daß ich nur die Nacht recht gut schlafen kann. Die Nächte sind aber dort in dieser Zeit so tagähnlich, daß wir in Petersburg um zwölf Uhr die Mitternacht im Garten ohne Licht einander ohne Schwierigkeit die Hamburger Zeitungen vorgelesen haben. Trans Suionas, sagt Tacitus, aliud mare pigrum ac prope immotum, quo cingi cludique terrarum orbem hinc fidas, quod extremus cadentis jam solis fulgor in ortus edurat, adeo clarus ut sidera hebetet. So sehr verdunkelt er sie, daß ich Myops gar keine Sterne gesehen habe. Die Abendröte fließt mit der Morgenröte zusammen. Die ersten Nächte kam mir das recht angenehm vor; aber mein Auge ward des immerdauernden Lichts bald müde, und vermißte die schöne Abwechselung der vaterländischen Sommernächte. 

Den andern Morgen wandelte ich nun gutes Mutes, links bei der alten Schanze vorbei, immer die Straße fort nach Wiburg zu. Die drei Tage von Petersburg nach Wiburg, zwanzig Meilen, wurden mir sehr schwer; denn es war unerträglich heiß. Der Schweiß troff mir vom Schedel, mehr als irgend jemals, als ich mehrere Stunden mit dem Bataillon unter dem Gewehr stand und nach der Trommel mit Händen und Füßen arbeitete. Das Newawasser wollte mir in Petersburg durchaus nicht behagen, ich mochte versuchen so viel ich wollte. Es ist rein und hell wie Krystall, aber über alle Begriffe weich; und ich bin immer an hartes Wasser gewöhnt gewesen. Die feineren Biere sind zu stark, und die übrigen fast alle mit schlechten Kräutern angemacht, vorzüglich mit wildem Rosmarin. Das Physikat sollte billig auf diesen Artikel der medizinischen Polizei mehr Aufmerksamkeit wenden. Meine Zuflucht waren also die verschiedenen Arten von Quas, oder Wein zu Wasser, wo ich Quas oder Kißlestschie nicht haben konnte. Nun hatte ich mich auf das finnländische Wasser gefreut: denn ich wußte, Finnland sei gebirgig, und glaubte deswegen von vorn schließen zu können, wo Berge wären, müßte vieles und gutes Wasser sein. Da hatte ich mich nun aber sehr geirrt. Denn obgleich ganz Finnland fast nur eine große fortlaufende Granitschicht ist, so ist doch das Wasser höchst selten. Ich habe die zwanzig Meilen von Petersburg bis Wiburg nur einen einzigen kleinen guten Bach, und nur einige Werste vor der Stadt selbst einige sehr schöne reiche Quellen gefunden. Die letzten waren für mich eine wahre Nektarschwelgerei. Die übrigen Flüsse kommen alle aus Sümpfen, und haben rotes, faules, ekelerregendes Wasser. Der Granit ist vielleicht zu hart, um Regenwasser einzunehmen und es geläutert in Quellen weiter zu fördern. Es läuft alles sogleich in die Moorgegenden herab, wo es noch mehr verdirbt und fast ganz unbrauchbar wird. Ich habe zuweilen stundenlang geschwitzt und gearbeitet und lechzend gedurstet. Zuweilen mußte ich mich doch entschließen, ein Verbesserungsmittel bei dem blutroten Wasser anzubringen, und sodann mit zugehaltener Nase zu trinken, eben so wie ehemals auf den englischen Transportschiffen. Ich lief einmal wohl eine halbe Stunde in einer Bergschlucht lechzend herum, in der Voraussetzung, der Lokalität nach müsse hier durchaus Wasser sein: denn ein alter Wanderer kann, wie Moses und Alexander, so etwas sogleich aus der Lage sagen, ohne deswegen eben förmlich Ansprüche auf Prophetenwesen zu machen. Endlich fand ich auch wirklich ein Quellchen unter einem hohlen Baumstamme, und war froher, als ob mir der Vesuv alle seine frommen Tränen und Epernay alle seine Repphühneraugen gegeben hätte. 

In Wiburg zog ich, nachdem ich meine Polizeisachen abgemacht hatte, in dem italienischen Gasthause ein. Niemand war zu Hause, als ein kleines Mädchen von ungefähr sechs Jahren, die mich erst furchtsam, dann ängstlich, dann schluchzend ansah, und endlich laut zu weinen anfing. Es ist niemand zu Hause, sagte sie; mein Vater ist in Petersburg, meine Mutter ist ausgegangen; Sie sollen nicht hier bleiben, Sie dürfen nicht hier bleiben. Weiß der Himmel, was ich für einen verdammten Gesichtswurf haben muß; es ist mir oft so begegnet, und je freundlicher ich hier das Mädchen anzusehen glaubte, desto heftiger weinte sie. Ich legte ruhig meinen Tornister ins Billardzimmer, gab dem Träger sein Trinkgeld, und wartete was kommen würde. Da kam denn auf das Weinen der Kleinen ein großes Mädchen, eine Art von Aufwärterin, die mir auf mein Anbringen ganz freundlich sogleich ein ziemlich gutes Zimmer anwies, welches mir nach einem dreitägigen Fußzuge durch die Wüste Berseba, ohne alle Bequemlichkeit, bei schlechtem Wasser und schlechtem Brote, sehr gemütlich war. Von Pergola aus ist Krasno Selo, ein anderes als bei Petersburg auf der andern Seite, der einzige Ort, den man noch mit Ehren ein Dorf nennen kann: die andern sind meistens nur einzelne zerstreute Hütten. In Krasno Selo, wo ich gegen Abend eintraf, war alles in Lärm und Aufruhr, nicht etwa wegen Revolution, sondern weil sich eben ein Bär in der Nähe hatte sehen lassen; und alles griff zu Flinte und Spieß und Stange, um den zottigen Gast zu bewillkommen. Zwei Soldaten fangen mich auf, mit ihnen noch einige Werste bis Nowa Derebna zu gehen. (Neudorf.) Hier war dann neben einer Kabacke auch ein Traiteur; das klang gar fein, und ich fand wirklich auch ein Zimmer, das für Finnland hell und freundlich genug war. In Esthland auf dem Lande wäre es ein Louvre gewesen. Nachdem ich die Soldaten mit Eierkuchen bewirtet und in die Kabacke abgefertiget hatte, legte ich mich ruhig schlafen, unter einen Schafpelz, der dort auf einer Matratze lag, wie ich glaubte zu meinem Behuf. Zuschließen konnte ich nicht; denn man ist hier sehr patriarchalisch und hat kein Schloß vor den Türen. Ich mochte schon einige Stunden geschlafen haben, da zupfte mich ein Kerl für einen Finnen freundlich genug an dem Arme. Was willst du, Freund? fragte ich russisch. Ich will hier schlafen; war die Antwort. Aber ich schlafe schon. Aber es ist mein Bett, sagte der Kerl. Was war zu tun? Wir mußten wohl freundschaftlich teilen. Ich überließ ihm die Matratze, nahm den Schafpelz und quartierte mich in einem andern Winkel fest auf dem Boden, nachdem ich mir gegen die feindlichen Tarakanen gehörig die Ohren verbunden hatte. Die Tarakanen sind nehmlich die nordischen Taranteln, eine Art von Insekt, vor dem man sich gewaltig fürchtet; nehmlich die feine Welt, der gemeine Mann achtet es nicht sehr. Eine größere Spezies davon nennt man Prussaky, Preußen; und ist der festen Meinung, diese seien erst im siebenjährigen Kriege mit der Armee von dort gekommen. Die Erzählungen davon sind abenteuerlich und unterhaltend genug. Den andern Morgen hatte ich bei der Bezahlung nur Silber, und meine alte Wirtin wollte den Rubel nur zu achtzehn Kopeken Agio annehmen: und da ich so gutwillig war, gab sie mir endlich gar nur zehen, mit der Versicherung, sie habe kein Kupfer mehr, und der Rubel gebe hier überhaupt nur funfzehn Kopeken. Das freute mich, wenn auch die Frau log, wie ich gar nicht zweifle. Der Kaiser Paul wollte es mit Strenge und Ukasen zwingen, und das Papier ward immer schlechter. Der Kaiser Alexander läßt die Sache gehen und führt Wirtschaftlichkeit ein; und das Papier verliert nun schon nicht mehr alsProzent. In Moskau und der dortigen Gegend sieht man fast lauter Silber und wenig Papier; aber das Papier steht dort eben so wie in Petersburg. Mich wundert die Ausprägung des Kupfers in Rußland; denn es ist so wohlfeil ausgemünzt, daß man überall viel Mühe hat zu verhindern, daß es die Kupferschmiede nicht wieder verarbeiten. Es könnte mit weit mehr Vorteil verkauft werden, als es geprägt wird. Den Grund dieses Verfahrens kann ich nicht begreifen. Anderwärts ist man mit der Kupfermünze aufmerksamer und weiß den Gewinn besser zu berechnen. Vielleicht ist es in den russischen Münzstädten tiefer im Reiche so wohlfeil, daß man es aus Billigkeit nicht anders schlagen will. 

Ich war den andern Morgen in Wiburg noch nicht aufgestanden, als mich schon Herr Tappe, Professor am neu errichteten Gymnasium, aufsuchte, und in seine Behausung führte. Da ich mir vorgenommen hatte, einige Tage in Wiburg zu bleiben und meine Füße, die ich mir in der Hitze wund gelaufen hatte, etwas ruhen zu lassen, nahm ich sein Anerbieten mit Vergnügen an, und pilgerte bei einem Bruder in Apollo ein. Wiburg, das ehemals meistens nur von Holz war, ist seit dem letzten Brande fast ohne Ausnahme von Stein wieder aufgebaut worden, und hat eine ganz artige Lokalität. Es liegt von allen Seiten ziemlich angenehm, ist klein und nett und empfahl sich bei mir sogleich durch sein gutes Brunnenwasser. Der Eingang zur See durch die Scheeren bis in die Stadt muß nicht ohne Schwierigkeit sein; aber desto sicherer ist sodann der Hafen. Der Handel hat sehr abgenommen, seitdem die Krone das Holzfällen und Brettschneiden einschränkt. Diese Maßregel scheint aber auch ziemlich nötig zu sein; denn ich habe auf meinem ganzen Wege nur sehr wenig Baumstämme gesehen. Das jetzige Holz ist alles klein und schwach. Worüber man sich aber bei der Einschränkung am meisten, und vielleicht nicht ganz ohne Grund, beklagt, ist, daß man überall noch den vollen Mühlenzins bezahlen muß; ob man gleich an den meisten Orten gar keine Bretter schneiden darf. Einen eigenen Handelszweig, den ich überall für gute Finanzerei, aber schlechte Staatsökonomie halte, fast eben so wie den Tabak, ist der Zichorienkoffee. Der hiesige Preußische Konsul, Herr Hartmann, wenn ich nicht irre, hat den Anbau dieser Pflanze seit einiger Zeit mit aller Anstrengung betrieben und das Produkt für sich mit großem Vorteil in Umsatz gebracht. Ich weiß nicht, ob der Boden nicht weit besser Korn und Kartoffeln gäbe, zumal da der Brotmangel hier nicht selten und tragbare Erde eben nicht sehr im Überfluß ist. Was möchten wohl die Koryphäen der schönen griechischen Galanterie aus der goldenen Zeit, Aspasia, Alcibiades und Artistipp dazu sagen, wenn man sie mit dem schwarzbraunen Tranke bewirtete? Mich deucht schier, wenn sie es nicht für eine verdorbene Suppe vom Eurotas hielten, sie würden glauben, Charon habe eine Probe vom Kozyt herauf geschickt. 

Der reichste Gelehrte von Profession auf dem festen Europa ist jetzt wohl der Dichter und Redner Nikolai, der sich von Petersburg hierher gezogen hat, um die Jahre der Ruhe so philosophisch als möglich zu genießen. Monrepos, ein Gut ganz nahe vor dem Tore der Stadt, das er besitzt und bewohnt, ist vielleicht das lieblichste Plätzchen, das man im ganzen Norden einige Grade auf und ab finden kann. Die Natur scheint es zum Feenaufenthalt irgend eines freundlichen Agathodämons gemacht zu haben; und es hat seit einigen Jahren unter dem jetzigen Besitzer an Verschönerungen aller Art unendlich gewonnen. Der Eigentümer lebt darauf mit nordischer Liberalität, und genießt die Achtung der ganzen Gegend: und es ist kein kleines Vergnügen, einen Mann, wie er ist, über die literärischen und politischen Erscheinungen des Nordens sprechen zu hören. 

Von hier aus machte ich eine kleine Ausflucht, den Wasserfall bei Imatra zu sehen, wo sich die Woxa über eine halbe Werste lang, hier und da furchtbar steil, durch ein enges Granitbett herabreißt. Die Erscheinung ist einzig in ihrer Art und machte ein betäubendes Geräusch, mehr als ich bei Schafhausen und Terni gefunden habe, obgleich das Wasser jetzt noch sehr niedrig stand. Die Woxa hat hier an Masse ungefähr so viel, als die Elbe bei Außig, ob sie gleich etwas breiter ist. Die Saima, aus welcher sie und mehrere Abteilungen des Kymen kommen, ist ein Mittelding von See und Fluß, mit vielen Gruppen malerischer Inseln besäet, die besonders bei Wilmanstrand eine Aussicht machen, die einer Schweizergegend gar nichts nachgibt. Ihr Ursprung soll noch nicht gehörig bekannt sein; ganz oben wohnen Lappen, und sie soll aus den ganz nördlichen Gegenden von Norwegen herunter kommen. Ihr Wasser ist außerordentlich klar und rein, aber ganz weich, wie das Newawasser: kein Wunder, da es durch den Ladoga die Newa mit bilden hilft. Unten am Einfluß in den Ladoga sind noch einige Wasserfälle, aber nicht von der Bedeutung wie hier bei Imatra. Ich blieb mit meinem Gefährten, Herrn Purgold bei dem Gymnasium in Wiburg, einem wackern talentvollen jungen Manne, nicht weit vom Falle am Ufer des Flusses die Nacht, und ging den andern Tag über Wilmanstrand zurück. 

Alle Städte hier im Russischen Finnland sind Festungen, und das Land gewinnt dadurch überall ein ziemlich kriegerisches Ansehen; wohl mehr als gut ist. Die Finnen sind verhältnismäßig zu ihren Stammbrüdern, den Esthen jenseit des Meerbusens, eine offene, feine, wackere Nation, deren Charakter aber freilich nicht ausgezeichnete Energie ist. Das Land hat durchaus seit der russischen Besitznehmung eher verloren, als gewonnen; ein Phänomen, das sich leicht erklären läßt. Dessen ungeachtet herrscht, in Vergleichung mit den Esthen und Letten, hier noch ein Grad von Kultur und persönlichem Wohlstand, den man auf dem Lande an der Düna und der Embach vergebens sucht. Der Landmann wird wahrscheinlich dort durch alle wohltätig scheinende und wirklich so gemeinte Verordnungen der Regierung wenig gewinnen; so wie er hier in Gefahr ist, täglich immer mehr zu verlieren. Von der Eigenmacht und der Bedrückung der kaiserlichen Beamten und der größeren Machthaber erzählt man auch hier überall empörende Beispiele, mit allen nötigen Belegen und Beweisen. Katharina die zweite hatte die finnischen Bauern stets in Verdacht, daß sie heimlich schwedisch gesinnt wären. Das ist nun wohl kein Wunder, da sie der willkürlichen Bedrückung so sehr Preis gegeben werden. In Schweden herrscht Humanität, und es geht gut; hier will man mit der Peitsche treiben, und es geht schlecht. So wurde einem Bauer vor einiger Zeit ohne Schonung durchaus kein Aufschub der Fronarbeit gegeben, ob er gleich — nur seinen Vater begraben wollte. Ärger kann man wohl kaum die Menschlichkeit mit Füßen treten. So wenig vermag selbst ein Fürst, der ein Genius des Wohlwollens ist. 

Hier in Sippola stehe ich auf einer Felsenspitze und überschaue unter mir im Tale vier kleine Seen, deren Ufer mit kleinen Dörfern und Wiesen und wogenden Fruchtfeldern umzogen sind. 

Finnland ist eine ungeheuere Granitschicht, zwischen welcher sich hier und da schöne fruchtbare bebaute Niederungen hinziehen. Das soll so fort gehen bis an den bothnischen Meerbusen: nur sind die Schweden aus politischen und psychologischen Gründen ordentlicher und fleißiger. Das Land hier herum ist das Land der Beeren, deren es eine Menge, bekannte und unbekanntere hat. Unter die letzten gehören die oben erwähnten Mamurami, eine Art kleiner rötlicher Beeren, die wegen ihrer aromatischen Natur berühmt sind, für die nordischen Ananas gelten und von den Schmeckern der Residenz häufig in Anspruch genommen werden. Sie wachsen nur erst wieder in Sibirien, und die Russen nennen sie vorzugsweise Knäschniky, Fürstenbeeren. Du begreifst also wohl, daß sie etwas mehr, als gewöhnliche Brombeeren sind, zu denen sie übrigens gehören. Mein Wirt, der Hofrat Dähn, Schulinspektor des Friedrichshamer Kreises, ein freundlicher sehr unterrichteter Mann, tut alles Mögliche seinen Gast zufrieden zu stellen; und ob ich es bin, das mag dir meine Genüglichkeit sagen. 

Morgen pilgere ich über Friedrichsham nach dem neuen Kymengorod, und so weiter über Aberfors nach Abo und Upsala, um doch wenigstens den Saal zu sehen, wo Linné lehrte. 

Unserm Werner in Freiberg bringe ich ein Stück roten Quarz aus Finnland mit, der hier für eine Seltenheit gilt: ob er es wirklich ist, mögen Kenner bestimmen. Der Generalgouverneur Meyendorf, dessen Gemahlin man in unserm Vaterlande während ihres dortigen Besuchs nach Verdienst zu schätzen nicht unterlassen hat, schickt es durch mich als ein Zeichen der Achtung und Erkenntlichkeit, und ist gesonnen der hiesigen Seltenheiten noch mehr zu senden. 

Jetzt studiere ich zu meiner Durchreise schwedisch wie ein Schwede. Zu Ende des Oktobers längstens bin ich wieder im guten Vaterlande, das bei allem, was man wohl anders wünscht, doch noch ein sehr freundliches Stückchen Erde ist. Gruß und Kuß und Freundschaft. [...]

Stockholm, den 16. August

Von Abo aus hat man noch einige Stationen bis an das Wasser des Bothnischen Meerbusens, über den man sich setzen lassen muß, wenn man nicht über Wasa und Torneo oben herum reisen will. Acerbi gibt die Seereise im Winter, auf dem Eise von Grißleham bis herüber ans finnländische Ufer, nur auf neun Meilen an: da kann ich denn seinen Weg nicht begreifen. Ich will dir hier die Wasserreise hersetzen, wie ich sie gemacht habe, und wie sie gewöhnlich alle russische Kuriere machen, die nicht des Wetters wegen über Torneo gehen müssen. 

Von Helsing an dem finnländischen Ufer, zu Wasser über Turwessi nach Wartsala, 2 Meilen schwedisch. Desgleichen über Wattn Skiftet nach Brando 2½ M. S. Desgleichen über Lappwesi nach Kumlingen 2½ M. S. Desgleichen über Delet, nach Wargata 3¼ M. S. Desgleichen nach Bomarsund 1 M. S. Zu Lande nach Skarpans 1 M. S. Zu Lande nach Haroldsby, Emkarby, Frebenby 3 M. S. Halb zu Lande halb zu Wasser nach Eckeroe 1¼ M. S. Über Alandsholm zu Wasser nach Grißleham 7 M. S. Nun zähle einmal zusammen, wie viele Meilen heraus kommen. Ich könnte dir wohl die ganze etwas unbekannte Tour von Petersburg nach Stockholm geben; aber es ist entsetzlich langweilig, dergleichen Zeug der Länge nach aus dem Tagebuche zu schreiben. Du hast genug an dem Pröbchen durch die Inseln. Von Stockholm aus ist der Weg in mehreren Reisebüchern angegeben. 

Die Fahrt über den Meerbusen ist gar nicht unangenehm, wenn man ein guter Elementer, nehmlich an das Element gewöhnt ist. Ich nahm mir Zeit und habe zwei Nächte ganz ruhig bei den Ichthyophagen geschlafen. Mich deucht, ich muß auf der Überfahrt zum wenigsten zweihundert Inseln gesehn haben, größere und kleine, fruchtbare und unfruchtbare, bewohnte und öde. Man windet sich oft durch ein sonderbares Netz von Inseln hin, die niemand als Möwen zu Besitzern haben. Als ich von Lappwessi ausfuhr, war es schon ziemlich spät; die Sonne ging bald golden unter, und der Mond silbern auf. Meine Gondoliere waren zwei alte wackere schwedische Matrosen, die Weltteile gesehen hatten, und ihren beiden jungen Kameraden von ihren Fahrten erzählten. Die Wirkung der späten Abendröte und des fast vollen Mondes auf der spiegelglatten stillen Wasserfläche zwischen unzähligen Granitinselchen, die nur hier und da einiges Gestrüppe hatten, war außerordentlich magisch. Es war so hell, daß wir auf einer von den Inseln, wo wir zur Pause anhielten, Erdbeeren suchen konnten, die jetzt hier noch herrlich dufteten. In Kumlingen blieb ich; und es war auf der kleinen Insel so freundlich, als es nur in einem Dörfchen am Zuger See sein kann. Überall hat man ein gutes reinliches Bett, überall ohne Erinnerung sogleich frisch überzogen; eine Wohltat, die man in unserm Vaterlande nicht einmal in allen Städten findet. Von Kumlingen nach Wargata war eine große Wasserfläche von ¼ M. S. Das Wetter war nebelig und kalt, der Sturm blies stark, die See ging hoch. Ich hatte diesmal drei Kerle und einen jungen weiblichen Matrosen, wie das vorher schon oft der Fall gewesen war. Die Fahrt mochte dem Mädchen zu heftig werden: das Wasser schlug reichlich in das Boot, und die Heldin ward seekrank durch alle Instanzen. Mir tat das fast wohl; denn nun konnte ich doch auch sagen, daß meinetwegen ein Mädchen krank geworden sei, welches mir nun nicht leicht zum zweiten Male begegnen wird. Vor mehrern Jahren hat mir zwar eine unserer schönen Landsmänninnen etwas ähnliches versichern wollen; ich fand aber nachher Ursache, es nicht zu glauben. 

Auf einer andern Station der nehmlichen Fahrt ward sogar ein Matrose seekrank. Dabei setzte ich mich denn ganz ernsthaft in meine Behaglichkeit und freuete mich, daß mir das Element nichts anhaben konnte; es müßte mich denn ganz verschlingen, wie es wirklich einige Mal drohte. Die Überfahrt ist nicht ganz ohne Gefahr, in lauter offenen Booten, wo die Windstöße wohl zuweilen Unglück anrichten können. Zwischen Bomarsund und Haroldsby steht das alte bekannte Schloß Kastelholm als eine stattliche Ruine; und rund umher sind die Inseln äußerst fruchtbar an schönem Getreide. Vorzüglich wächst in Eckeroe Gerste und Korn in seltener Güte. Von Eckeroe nach Grißleham ist die größte Station, sieben Meilen. Der Wind war äußerst widrig und sehr stark, und die Leute machten Schwierigkeit auszulaufen. Ich hatte sechs Matrosen; und noch zwei  Gehülfen um nur aus dem Hafen zu kommen. Mitten auf der See begegnete mir ein Postschiff: die Leute legten mit vieler Mühe in einer kleinen Bucht auf einer kleinen Insel an, und wechselten. Die Post ging nach Eckeroe mit meinem Boote, und das Postschiff nahm mich ein nach Grißleham. Drei Thaler waren als das Fährgeld im Posthause zu Eckeroe angesetzt; und ich mußte durchaus achthalb T. bezahlen. Das müßte sein, meinten alle ohne Ausnahme, und bekümmerten sich nicht einen Pfifferling um das Postbuch in Eckeroe. Ich zahlte; denn wie hätte ich anders den Prozeß hier im Sturm auf der kahlen Felseninsel im bothnischen Meerbusen endigen sollen? Die Skandinavier hatten mich ohne Protest in den Händen. Ob das rechtlich ist, mögen sie mit dem Postbuche in Eckeroe ausmachen. Ich fand die Bezahlung freilich nicht zu hoch, und hätte dafür nicht halb so weit gefahren: aber es soll nur niemand etwas wider Ordonnanz tun. 

Als ich nun so einsam auf meinem Tornister da saß, und von Hallifax bis Syrakus manche Reise noch einmal reiste, und manche Stunde noch einmal lebte, blieb ich, wie wohl schon einige Mal geschehen war, bei Schiller und der Katastrophe seines Todes stehen, der mich allerdings in Petersburg ungewöhnlich überrascht hatte. Ich zog mein Taschenbuch, dachte weder an widrige Winde noch an die Skandinavier und unvermerkt lagen die Zeilen auf dem Pergamentblatt, die ich dir hier als eine freundliche Nekropompe eines Mannes gebe, der uns beiden oft großen Genuß verschafft hat. Daß die Verse hier unter dem Getöse der Wogen geschrieben wurden, ist vielleicht, nächst ihrer Wahrheit, das einzige, was ihnen einigen Wert geben kann.   

  Wir erzählten traulich und durchliefen 
  Noch einmal das Leben Jahr für Jahr, 
  Da erschien ein Freund, und seine tiefen, 
  Hohlen, ernsten Trauertöne riefen 
  Uns die Botschaft, die gekommen war.   

  Schiller ist gestorben! Alle schwiegen 
  Drei Minuten feiernd, bis empor 
  In des Schmerzes schweren Atemzügen 
  Unserm Liebling Totenopfer stiegen, 
  Und die Pressung ihr Gewicht verlor.   

  Schiller ist gestorben! scholls in allen 
  Zirkeln an der Newa auf und ab, 
  Von dem Marmor in den Kaiserhallen. 
  Freund, so schöne Blumenkränze fallen 
  Selten nur auf eines Dichters Grab.   

  Aber selten heiligen die Musen 
  Einen Geist auch so sich zum Altar, 
  Wohnen himmlisch so in einem Busen, 
  Wie vom Griechen bis zu dem Tongusen 
  Unser Liebling stets ihr Liebling war.   

  Von dem Rheine bis zum Oby haben 
  Tausende sich oft durch ihn erfreut. 
  Reicher sich gelebt durch seine Gaben, 
  Die er, ihren Seelendurst zu laben, 
  Unerschöpflich um sich ausgestreut.   

  Mächtig klang dem Delier die Laute, 
  Wenn er ihre Saiten Schillers Hand, 
  Ihre Lieder seiner Brust vertraute; 
  Und die dichte stille Menge schaute 
  Dann durch ihn sich in das Geisterland. 

  Seine Zauber öffneten die Pforte, 
   Daß der Blick in neue Welten ging; 
   Blumen schuf er, wo die Flur verdorrte, 
   Und der Sturm beflügelte die Worte, 
   Die er flammend von dem Gott empfing.   

  Groß und mit der Tugend hohem Mute, 
   Die den Männerwert in Lumpen ehrt, 
   Sprach er kühn und offen für das Gute, 
   Unbekümmert ob der Tor verblute, 
   Der vom Mark der stillen Einfalt zehrt.   

  Wem nicht er des Himmels Götterfunken 
  Aus des Wesens letzter Tiefe schlägt, 
  Wenn er göttlich singt und feuertrunken, 
  Bleibet, in des Stumpfsinns Nacht versunken, 
  Zu den Seelenlosen hingelegt.   

  Liebenswürdig war der Mann als Dichter; 
  Und der Dichter es noch mehr als Mann. 
  Glücklich wer wie er so viel Gesichter, 
  So viel Herzen, auch als strenger Richter, 
  Auf den guten Weg erheitern kann.   

  Schiller wird mit seinem Posa leben; 
  Leben, wenn der Undank ihn vergißt. 
  Niemand kann ätherischer uns heben, 
  Niemand besser zu genießen geben, 
  Was der Silberblick des Lebens ist.

Der Wind hatte sich während meiner Nekropompe etwas gelegt und gewendet, und ich kam noch zeitig genug in Grißleham an. 

Wenn man den ganzen Tag recht tüchtig auf den Wogen herum geworfen ist, und dann eine gute Suppe, schöne frische Schollen, frisches Knackabroe, und zum Dessert ausgesuchte Erdbeeren findet, so kann man wohl mit der Landung zufrieden sein: und ich war es. 

Hier sagte mir der Postmeister, ich müßte dem Bauer durchaus nur sechs Schillinge für das Pferd die Meile geben: aber durchaus bestand man auf zwölfen. Wie ich das zusammen reimen soll, weiß ich nicht. Ich finde zwölf Schillinge freilich noch billig genug, und ich habe nachher erfahren, daß es die jetzige Taxe ist: aber wie konnte der Postmeister das andere sagen? Er ließ sich übrigens, verhältnismäßig seine Mahlzeit selbst teuer genug bezahlen. 

Nun fuhr ich rechts ab, über Ahlby und Broe nach Upsala. Dieses ist zwar nur eine Nebenstraße; aber sie ist auch durchaus gut. Auf den Inseln des bothnischen Meerbusens hatte ich in allem drei Kirchen gesehen; hier standen die Kirchen ziemlich dicht; und die Kultur des Bodens war musterhaft gut, vorzüglich bei Ahlby. In Petersburg hat man einige Eichenpflanzungen, die wohl älter sein müssen, als von Peter dem Ersten, wie man vorgibt. Man sagte mir dort, ich würde in Russisch Finnland wenigstens eine Menge Eichengestrüppe finden: aber trotz aller Aufmerksamkeit hatte ich bis jetzt weiter kein Eichenblatt gesehen. Birken und Erlen waren das gewöhnlichste Laubholz: nicht weit über Abo oben sahe ich zuerst wieder Haselstauden. Desto erfreulicher war mir hier die Erscheinung der Eichen, die von Grißleham an sich ,  sogleich in Menge und ziemlicher Vollkommenheit zeigten. 

In Edingen, einer Station zwischen Grißleham und Upsala, machte man Anstalt mich geradezu nach Upsala zu bringen; und forderte dafür nicht weniger als sechs Reichsthaler. Die Posttaxe machte noch nicht einen ganzen. Ich berief mich auf das Postbuch, wo ich auch schon meinen Namen eingeschrieben hatte; und wollte durchaus nicht mehr zahlen als die Posttaxe, zwölf Schillinge die Meile. Die Leute stritten hoch und sprachen viel von einem russischen Kurier, der entsetzlich langsam gefahren sei, den Weg sogar über Gothenburg genommen und gewaltig viel bezahlt habe; und schienen ihn halb und halb für einen Spion zu halten. Ich konnte nicht alles so recht fassen, da ich kein sonderlicher Schwede bin, und die Bauern vermutlich nicht den besten Dialekt sehr schnell sprachen. Ich nahm meinen Tornister, den ich schon an die Karriole geschnallt hatte, hastig auf den Rücken, und erklärte, ich würde nicht mehr zahlen als die Posttaxe. Endlich wollten sie dafür fahren; ich war aber schon im Gange und sagte: ich würde mich nun gar nicht aufsetzen. Sie kratzten sich am Kopfe, und ich ging fort. 

Einige Stunden war ich schon gegangen, als ich erst überrechnete, daß ich zu Fuße nicht nach Upsala kommen würde, wohin ich doch gern wollte. Ich trat also in ein Haus nicht weit von der Straße, das ich für das Posthaus hielt, und bat um Pferde und erzählte meine Geschichte. Das war aber keine Post, sondern ein Familienlandhaus. Das Hauspersonale waren vier Damen, von denen zwei etwas französisch sprachen: denn ich nahm meine Zuflucht zum Französischen, da es mit dem Schwedischen nicht recht fort wollte. Man versprach, mir Pferde zu schaffen, ob es gleich kein Posthaus war. Die Damen bewirteten mich mit Knackabroe, herrlichem Eingemachten von Beeren und gutem Bier; ein Artikel, der mir seit Friedrichsham nicht vorgekommen war. Aber die Pferde kamen sehr spät, und ich traf erst um Mitternacht bei Mondschein in Upsala ein. 

Upsala hat einen großen Namen, und ist eine kleine Stadt; wohl nicht größer als unser Lutzen, wo der Wohltäter Upsalas starb. Busser von Linköping hat, wie ich höre, ein großes Buch über die kleine Stadt geschrieben. Die Kathedralkirche ist so groß, daß man wohl die Bevölkerung einer halben schwedischen Provinz hinein bringen kann. Linnés Monument ist darin ganz demütig versteckt: es steht so in einem Winkel, daß ich es nicht gesehen habe, ob ich gleich zwei Mal fast nur deswegen hingegangen bin. Ich habe dafür eine Menge Grabmäler großer und kleiner Männer dort gefunden, um die ich mich so viel nicht bekümmerte, sie mochten hinter dem Altar oder in den Seitenhallen stehen. Das merkwürdigste war für mich das Monument des Grafen Stenbock, der das Kriegsrecht etwas zu strenge über Altona ausübte und dafür dann eine beträchtliche Zeit seine Mechanik in Kopenhagen trieb. Es war, als ob ich meinen Freund Stenbock von Warschau vor mir sähe, so auffallend war die Ähnlichkeit. Ich liebe Familiengesichter; sie sind immer besser und bedeutender als die Wappen. 

Den andern Mittag ging ich hinaus zu Thunberg, der auf seinem Landhause eine halbe Stunde von der Stadt wohnt; und er hatte die Güte, mir den folgenden Morgen selbst den neuen botanischen Garten zu zeigen. Die Herren von Palermo sagten mir, als ich dort war, sie hätten das Modell zu ihrem botanischen Hörsaal von dem linneischen in Upsala genommen. Da haben sie nun aber große Veränderungen gemacht, wenn das wahr ist. Weder der neue noch der alte linneische Hörsaal sieht dem palermitanischen sehr ähnlich. Das neue botanische Gebäude hier besteht aus einer Fronte mit Säulen nach dem Garten, und zwei auswärts greifenden Flügeln. In der Fronte oder im Fond, nachdem man sich stellt, ist der Hörsaal; und in den Flügeln sind das Museum und die warmen Zimmer für die Pflanzen. Auch der Professor hat eine ganz gute Wohnung darin. Die Säulen sind aus Sandstein von Gothenburg. Granit wäre wohl besser gewesen. Den Grund der Mauern hat man mit Granitquadern sehr schön angefangen, ihn aber nur mit unbehauenen Granitstücken fortgeführt, welches der Solidität und der Schönheit schadet. 

In dem Museum sind vorzüglich die Sachen, die Thunberg von seinen Reisen mitgebracht und der Akademie geschenkt hat, und die nun nicht, wie Linnés Sammlung, ins Ausland gehen werden. Für einen Privatmann war es ein außerordentlicher Reichtum; und es sind viele Seltenheiten dabei. Besonders merkwürdig waren mir drei große Gazellen aus Afrika, ein Kasuar, ein kleiner Büffel aus Afrika, und eine kleine sehr seltene Art von Löffelgans. Der Garten ist ziemlich groß und in guter Ordnung. Als etwas ungewöhnliches wurde mir noch ein Zuckerahorn gewiesen, der sehr selten so hoch nordwärts fortkommen soll. 

Du kannst wohl glauben, daß ich auch die Bibliothek besuchte, wo für mich die sogenannte silberne Handschrift des Ulphilas das einzige war, wonach ich mich umsah. Ich habe sie in den Händen gehabt und, ohne etwas davon zu verstehen, einige Minuten säuberlich darin geblättert. Schon dieser Umstand beweist Dir, daß sie nicht so sehr abgegriffen und zerrissen sein kann, als der verstorbene Küttner erzählt, weil man sie ohne Schwierigkeit und ohne Erinnerung einem gewöhnlichen Fremden in die Hände gab. Es haben nur wenige Blätter so gelitten, daß man sie für unleserlich erklären müßte. Ich verstehe freilich gar nichts von dem Idiom. Daneben liegt die Ausgabe des Eduard Lyn: vielleicht kommt nun auch die schöne Ausgabe unsers Landsmannes hin. Die Geschichte des Buchs und woher der Name silberne Handschrift kommt, ist Dir bekannt: hier wäre es zu weitläufig mehr davon zu sagen. Die übrigen Merkwürdigkeiten der Bibliothek übergehe ich, bis auf die Toilette, welche die Stadt Augsburg, glaube ich, der jungen Christine geschenkt hat. Die Künstler sollten sie wohl sehen, welche zuweilen die mittelmäßigsten Produkte unserer Zeit ausposaunen. Herr Samuel Torner, der Kustos der Bibliothek, war ein gefälliger unterrichteter Mann; und nachdem wir ziemlich lange zusammen französisch und hier und da auch etwas englisch gesprochen hatten, machte ich erst die Entdeckung, daß er auch deutsch verstand, da er mir zum Andenken ganz richtig einen Vers aus Haller aufschrieb. 

In meinem Zimmer hier in Upsala hingen die Köpfe von Björnstahl, Stenbock und Linné, von Bernigeroth recht brav gemacht; und die Helden aus dem Siegwart, kläglichen Andenkens, gar jämmerlich anzuschauen: Von Bumburg del. Schleich engraved. 

Die Merkwürdigkeiten von Upsala sind, wenn man kein Stockgelehrter ist, in einigen Stunden überschaut. Da ich aber zur Ehre der schwedischen Akropolis Minervens einige Tage da bleiben wollte, setzte ich mich ganz gemächlich Siegwarts Mariane unter dem Spiegel gegen über, und las des Aristophanes Ekklesiazusen und seine Lysistrata, die ich mir nach den Wolken und den Rittern und den Fröschen zum Antinarkotikum erkieset hatte. Auch der Schönsprecher Seneka half mir hier und da ein Stündchen angenehm zubringen, meistens auf seine eigenen Kosten. Alle Augenblicke trat mir Tacitus vor das Gedächtnis, und ich zog unwillkürlich die Parallele zwischen ihm und Burrhus, wo denn der ehrliche Schulbeutel wie ein Tertianer vor einem vollendeten Manne zurücktrat. Er scheint aber auch gewissenhaft in seinen Busen gegriffen zu haben, indem er seine Apologie auf eine ganz naive Weise macht. Non sum sapiens, sagt er, et ut malevolentiam tuam pascam, nec ero. Exigo itaque a me, non ut optimis par sim, sed ut malis melior. Hoc mihi satis est, quotidie aliquid ex meis vitiis demere et errores meos objurgare. Das ist nun freilich wenig genug für einen Stoiker zur Zeit der Schande und allgemeinen Verdorbenheit; aber es ist doch offenherzig: und wir sind nun selbst Schuld daran, daß wir den Schulmeister so apotheosiert und den wackern Burrhus so ziemlich über ihm vergessen haben. 

Noch einen Spaziergang machte ich hinaus nach Altupsala, das ungefähr eine Stunde von der neuen Stadt liegt. Dort soll bekanntlich die Residenz der alten heidnischen Könige gewesen sein; und man zeigt noch zwei Hügel als Grabmäler. Das ist wahrscheinlich genug; sie sehen ganz den übrigen sogenannten Hünengräbern ähnlich. Die jetzige Kirche daselbst soll nicht allein die älteste in ganz Schweden, sondern auch noch aus dem tiefsten Heidentume sein. Die frommen Faseler lassen sie sogleich bald nach der Sündflut entstehen, und würden sie noch gern auch hinter die Flut hinaus rücken, wenn es nur die Bibel einigermaßen erlauben wollte. Strabo soll wenigstens schon davon sprechen. Das weiß ich nun nicht. Tacitus sagt aber von den alten Deutschen, zu denen man doch wohl die Bewohner der dortigen Ufer auch zählen muß: Caeterum nec cohibere parietibus deos, nec in ullam humani oris speciem assimilari ex magnitudine coelestium putant; wie die Parsen auch dachten. Das magst Du nun nach Deiner Weisheit untersuchen. Übrigens merkst Du wohl, daß ich in Upsala war. Ich glaube, ich habe seit zehen Jahren kaum so viel Latein geschrieben. 

In einer Gesellschaft warf ich von ungefähr die Frage auf, woher wohl der Name Upsala käme; denn ich reite gern auf dem Steckenpferde der Etymologie. Solltest Du wohl glauben, daß die anwesenden Herren von Upsala ihre Unwissenheit gestanden? Eine solche Schande ließen deutsche Gelehrte nimmermehr über ihr Athenäum kommen; eher faselten sie eine ganze Atlantis von Aberwitz ab. Ich fragte weiter, wie heißt denn der hier vorbei ziehende kleine Fluß? Antwort, die Sale. Also ist ja wohl ziemlich natürlich Upsala Upon the Sala. Wir schlugen etwas gelehrtes nach, und ich hatte das Vergnügen zu sehen, daß schon Nordbeck meine Vermutung als die wahrscheinlichste aufgestellt hatte. Wenn ich nur fleißiger wäre und mehr Applikation zum Dienst hätte, sagen die alten preußischen Hauptleute, könnte ich wohl noch ordentlich die kritische Wurfschaufel führen lernen. 

Der Weg von Upsala hierher ist äußerst angenehm und eine wahre Spazierfahrt; zuweilen an dem Mälar herab, zuweilen über kleine Anhöhen durch die schönsten Gruppierungen. Die Dörfer sind in Schweden klein; oft stehen nur einige Häuser zusammen, oft nur ein einziges; nachdem es der Boden leidet. Das gibt bei eben keiner starken Bevölkerung der Gegend doch ein freundliches, lachendes Ansehen. Das nehmliche ist einigermaßen der Fall in Liefland; nur sind dort die Häuser Troglodytenhöhlen, und die Einwohner Bilder des Jammers. Von der Nettigkeit einer schwedischen Bauernwirtschaft hat man selbst in Deutschland keine Begriffe. 

Und nun hier Stockholm? Stockholm wird nicht mit Unrecht das Paradies des Nordens genannt, wenn man die schöne Gruppierung der Gegend nimmt. Man kann es vielleicht kaum eine Stadt nennen; denn man merkt fast nirgends, daß man eingeschlossen ist: und überall hat man die Aussicht ins Freie. Stockholm ist einer der lieblichsten Plätze, die ich gesehen habe: und wenn der Mälar die Sonne des Arno hätte, würde hier mehr Elysium sein, als in Florenz. In Beschreibungen bin ich nicht stark und nicht glücklich; will also auch keine versuchen. Du magst die ganz gute Abbildung davon in Küttners Reise nachsehen. Acerbi steht mit Vergnügen auf der Brücke vor dem Schlosse. Dort ist es allerdings schön. Aber ich suche gern die Höhen: und da ist mir kein Punkt reizender vorgekommen, als jenseit des Sees oben ein Garten neben der Katharinenkirche, der zugleich ein Gasthaus ist und Mosebak oder Mosesberg heißt. Von hier übersieht man am besten die ganze große Szene, aufwärts und abwärts am Mälar, mit dem ganzen wogenden Getümmel zu Wasser und zu Lande. Der Aubergist des Gartens hat das Eigene, daß er mehrere Sorten Bier von Beeren braut, die hier für etwas köstliches gelten und für gewisse Gaumen es auch sein mögen. Ich ließ mir eine Flasche Himbeerbier geben; konnte es aber kaum trinken, so stark war es: und ich erinnere mich nicht, jemals ein so starkes Getränk dieser Art versucht zu haben. Ich trinke nur gegen den Durst, und überlasse den Schmeckern die Würdigung dieser Art von Industrie. Das Wörtchen Mosebak hat übrigens ein gleiches Schicksal mit dem Namen der ersten Station von hier nach Norköping: nur daß die Zweideutigkeit hier nicht ganz so unartig und katullisch ist, als dort auf der Post. 

Sergel ist wieder ganz wohl, so gut man es nehmlich von einem Mann in seinen Jahren erwarten kann. Ich ging nicht zu ihm, weil ich nicht glauben konnte, daß ihm die Störung von einem wildfremden Menschen Vergnügen machen würde: ob man mich gleich nachher versichert hat, ich würde ihn sehr freundlich gefunden haben. Seine Statue von Gustav dem Dritten ist fertig, und wird jetzt von einem Franzosen vergoldet und poliert. Der Franzose selbst war äußerst poliert; wenn Sergel nur dafür sorgt, daß es die Statue nicht zu viel werde. Das Werk macht seinem Meister Ehre, und wird unten am Wasser auf dem großen Platze hinter dem Schlosse, der schönen Pyramide gegen über, sich sehr gut machen; wo auch schon das Piedestal gesetzt ist. Ich bin sonst gar nicht Liebhaber von Mischung des Antiken und Modernen; sie wirkt in Berlin auf dem Wilhelmsplatze sehr unangenehm: aber hier ist die Abweichung so sanft und noch so sehr im Geist der Antike, daß sie sehr gefällig erscheint und das Werk doch noch ernst bleibt. Das schwedische Kostüm ist dem Künstler schon willkommener, als das deutsche. 

Die schönsten Häuser in Stockholm, nächst dem Schlosse, sind wohl das Opernhaus und gegen über das Haus der Prinzessin. Die Statue Gustav Adolphs auf dem Platze dazwischen tut durch die unten eingelegten kolossalischen Medaillons seiner Minister und Generale keine schöne Wirkung. Der Huf von dem Pferde des Königs scheint fast die Stirne des Ministers einschlagen zu wollen, ein Anblick, der eben so grell und widerlich ist, als die Sklaven unter dem ehemaligen Ludwig in Paris und auf der Spreebrücke in Berlin. Sind denn die Menschen so weggeworfen, daß sie keine Größe denken können, ohne Herabwürdigung ihrer Natur? Ich kann mir keine mit ihr denken. In dem Palast der Prinzessin sind an den Treppen vier Säulen von Granit, die eine feine glänzende Politur haben, und vielleicht das schönste sind, was man nicht allein in Schweden, sondern wohl überhaupt in dieser Art hat. Ich spreche nur von der Politur. Hier und da an den Brücken und an den Toren sieht man denn doch auch einen Anfang, daß man in Granit arbeiten will und kann. In Petersburg versteht man es besser. Das neue akademische Gebäude in Abo und diese Säulen hier in Stockholm sind das beste, was ich an Granitarbeit in Schweden gesehen habe; sind aber mit den herkulischen Unternehmungen dieser Art in Petersburg nicht zu vergleichen. 

Im Opernhause führte man mich durch die ganze unglückliche Maskerade, vom Anfange bis zu Ende, wo der vorige König das Leben verlor. Der Raum ist ziemlich klein; und wenn Ankarstroem nicht die Unbesonnenheit gehabt hätte, eben diese Pistolen zu gebrauchen, wäre er in der Menge der Mitwisser und Mithelfer wohl schwerlich entdeckt worden. Es drängt sich ein eigenes Gefühl auf in diesem Hause, so wie in dem Michailowschen Schlosse an der Newa, wo zwei Männer, von denen ihr Zeitalter sehr ungleich urteilte, sich selbst die Szene ihrer letzten Katastrophe bauten. Mir war das kleine Zimmer sehr merkwürdig, wo Gustav die letzten Momente seines Lebens mit fester Besonnenheit zur Erhaltung eines politischen Gebäudes anwendete, von dem es noch sehr ungewiß ist, ob es zum Besten des Reichs und seines eigenen Hauses aufgeführt wurde. Ein guter König kann nie zu viel Gewalt haben; und ein schlechter hat bei der größten Einschränkung immer noch zu viel. Wer trifft nun die Mittelstraße? Freilich ist es immer das sicherste, in öffentlichen Verhältnissen mehr auf das Schlimme im Menschen zu rechnen. Denn fast immer lehrt die Geschichte, daß in diesem Falle unter der Maske allgemeiner Philanthropie und in dem Namen der Gesetzlichkeit alles Böse geschieht, wozu die Macht da ist. Pleonexie scheint die einzige Erbsünde der Menschen zu sein. Nur wo der Eigennutz gar keinen Vorteil sieht, nimmt er sich nicht die Mühe ungerecht zu sein, und macht sich dann kein kleines Verdienst aus dem schönen Kleide der Mäßigung, das er trägt. 

Der Weg hinaus in den Park, rechts am Wasser hin in das Bad und links auf der andern Seite wieder herein, ist ein so romantischer Gang, als man ihn sich kaum in Hesperien denken kann. Es sind dort eine große Anzahl Landhäuser, unter denen sich die Sitze des spanischen, des englischen und des russischen Gesandten auszeichnen. Aber was mir mehr zusprach, als alle Einrichtungen des Luxus, sind die großen schönen Eichen, die hier einen wirklich heiligen Hain bilden: wenigstens erweckt er dieses Gefühl, wenn man von den Hyperboreern herunter kommt. Zur Dokumentierung seines echten Geschmacks hat der spanische Gesandte einen schönen Teil davon niederschlagen lassen, um etwas eben nicht sehr schönes auf die Stelle zu bauen. Kannst Du denken, daß ich einen Ball im Parke ausschlug, wo ich die Hoffnung hatte, die ganze schöne schwedische Welt, so viel nehmlich der August haben kann, beisammen zu sehen? Dafür lief ich erst draußen in den Felsenstücken herum, und setzte mich dann zu Hause zu meinem ungezogenen Attiker Aristophanes. Was gehen mich die Bälle an? Ich tanze und spiele nicht; und bin schon vorher überzeugt, daß die Schweden artig und brav und ihre Frauen schön und liebenswürdig sind. Wenn ich länger hier bliebe, wollte ich auch ihre Bälle besuchen. 

Eine neue nicht unwichtige Erscheinung ist hier die Bearbeitung des Porphyrs oben vom Elfdahl an der norwegischen Grenze. Der Stein ist von vorzüglicher Schönheit und die Politur vortrefflich. Eine Gesellschaft hat, wie ich höre, die Unternehmung auf Aktien gemacht, welches in so fern wohl nicht sehr gut ist, da man wahrscheinlich auf Gewinn sehen und dem Institut durch teuere Preise schaden muß. Man kann aus fremden Gegenden Bestellungen machen und seine eigenen Zeichnungen einschicken, die nach bestimmten Preisen recht gut ausgeführt werden. So viel ich weiß, ist der Porphyr in Europa höchst selten; und wenn der Schatz gehörig benutzt wird, kann er für Schweden noch eine wahre Wohltat werden. Die Formen haben freilich noch nicht ganz die Zierlichkeit und Leichtigkeit, die man erst durch lange Übung in der Arbeit gewinnt: aber es ist auf alle Fälle ein Artikel, der sich bei dem bekannten Kunstsinn der Schweden zu einer hohen Vollkommenheit bringen läßt, und die Aufmerksamkeit des ganzen nördlichen Europa verdient. Der Oberaufseher der Unternehmung ist der Münzdirektor Hjelm, ein Mann, der in dem Kredit gründlicher Kenntnisse und eines feinen Geschmacks steht. 

Nun kommt eine kleine, für mich etwas demütigende Geschichte. Ich bin mehrere Mal in Weimar gewesen, und meine Freunde wollten mich wiederholt zu der schönen Dichterin Imhof führen. Aber wenn ich spazieren wandle, ist mein Aufzug selten so, daß ich mit einigem Anstand in die Schlösser der Fürsten treten kann, wo sie damals wohnte: ich hatte sie also nie gesehen. — Hier am Mälarsee war ich billig weniger besorglich wegen der Förmlichkeiten des Aufzugs: und da ich hörte, daß sie in Marienburg wohne, nahm ich ein Boot und ließ mich hinaus rudern. Man wies mich in ein stattliches Haus; ich gab meine Karte ab und wartete eine Minute. Es erschien eine junge artige Dame, und sagte mir nicht unfreundlich, ganz naiv und unbefangen und ohne alle Vorrede: Ich habe Ihren Namen in meinem Leben nicht gehört. Das war mir nun freilich eben nicht angenehm. Habe ich die Ehre, fragte ich, mit der Frau von Hellwig zu sprechen? Meine Schwester ist krank, sagte die Dame schnell, und sie können sie nicht sehen. Das tut mir leid, sagte ich. Wenn sie in acht Tagen wieder kommen wollen, sagte sie, kann es vielleicht geschehen. Das kann ich nicht, war meine Antwort. Sie zuckte die Schulter und ich unwillkürlich ein klein wenig auch, und ging. Siehst du, das ist nun so immer mein Schicksal, wenn ich mich einmal zwinge artig zu sein. Ich dachte ungefähr so, da du nun hier bist, mußt du denn doch die Frau sehen, die uns die lieblichen Schwestern von Lesbos gegeben hat: das glaubte ich der deutschen Muse und meinem eigenen Geschmacke schuldig zu sein. Nun nun; man tut seine Pflicht am Mälar und an der Arethuse, geht dann ganz ruhig weiter und — tröstet sich. Ich habe Ihren Namen in meinem Leben nicht gehört, war der wörtliche Bescheid, der mir noch im Geiste einige Minuten im Boote nachtönte. Wenn aber meine Eitelkeit gar zu sehr dadurch gekränkt worden wäre, würde ich Dirs hier nicht erzählen, da es außer meinem dienstbaren Mephistophiles aus Stockholm niemand hörte: und dieser verstand nicht deutsch. Eben hatte ich die Sache mit ihrer Nutzanwendung gehörig durchmoralisiert, so hielten meine Bootsweiber, denn diese machen hier meistens die Gondelführer, rechts am Zollhause und meldeten, daß sie nichts akzisbares hätten: eine Ordonnanz, die mir sehr überflüssig scheint, da man nach Stockholm von hundert Ecken Konterband bringen kann, und ihn gewiß nicht auf dem Mälar einführen wird. Also hat man denn doch auch hier auf die nehmliche Weise die Art christlich israelitische Beschneidung. 

Von ihrem Könige sprechen die Stockholmer Schweden nicht viel; und über den letzten Reichstag wird hier und da etwas gebrummt. Es mag freilich nicht ganz erbaulich dort hergegangen sein, wie man hört. Sie haben dabei das Solamen miserorum miserum, daß es anderwärts wohl noch kaum so vernünftig hergeht. Man beklagt sich doch etwas, daß der König zu wenig freundlich und leutselig sei, und vorzüglich gegen die Hauptstadt eine sichtbare Abneigung zeige. Wenn das wahr ist, so versteht der König freilich nicht ganz seinen Vorteil; denn ich dächte, die Stockholmer wären ein ganz gutmütiges Völkchen und durch Popularität leicht zu gewinnen. Man muß freilich die Sache auch etwas psychologisch würdigen. Der König war, als die Katastrophe mit seinem Vater eintrat, in den Jahren, wo die Ereignisse mehr auf die Nerven und die Empfindungen, als auf den Verstand wirken. Die Fertigkeit der Stimmung in beiden über nahe liegende große Begebenheiten bleibt, ohne daß der Verstand eine festere Herrschaft darin gewinnen könnte, zumal wenn ein rastloser Tätigkeitstrieb in engere Grenzen eingeschlossen ist. 

Drotningholm hat mir besser gefallen als Haga, nicht weil es größer und prächtiger ist, sondern weil ich die Lage am See schöner und gesunder finde. Die Gärten sind sehr weitläufig, aber ohne schöne freiere Anordnung. Es sind sogar viel teuere Spielereien da, die ins Kleinliche gehen. Jetzt werden sie sehr vernachlässigt. Haga hat zwar eine liebliche einsiedlerische Lage, muß aber der Gesundheit nicht sehr vorteilhaft sein: denn ich habe in dem Wasser umher eine Menge Sumpfpflanzen gesehen; und der Grund der Gebäude erhebt sich nur sehr wenig über die Wasserfläche. Man zeigt natürlich allen Fremden noch mit vieler Heimlichkeit das Fenster, wo die Verschworenen einige Zeit vor der Redoutenkatastrophe mehrere Tage lauerten, um ihren Vorsatz auszuführen. 

Das schwedische Militär hat mir vor allen übrigen wohl gefallen. Die Leute sind gut gekleidet und gut genährt, haben Wendung und Anstand und zeigen große Geschicklichkeit Es tut mir leid, daß ich etwas zu spät gekommen bin, um noch einige Übungen in Schonen zu sehen. Die Kleidung der Offiziere ist vorzüglich sehr ernsthaft und ästhetisch, nicht wie der neue russische und preußische Schnitt, der mir immer nur aussieht, wie die personifizierte Armut und dem Offizier höchstens die Gestalt eines Solotänzers gibt: die diätetischen Einwendungen gar nicht zu erwähnen. Das vernachlässigte heilige Bein ist nach dem Ausspruche der Ärzte nur zu oft die Ursache zu allen Erkältungsübeln, Koliken, Fiebern, Gichten und wie die ganze Kohorte heißen mag. Mir ist es eine sonderbare Erscheinung, einen alten wackern Stabsoffizier zu sehen, der seine etwas stattliche Korpulenz vorzüglich des mittleren Hinterteils mit der neuen Ordonnanz kaum decken konnte. Die Stutzerei bringt freilich dabei noch ihre Übertreibung an. Dem gemeinen Soldaten hat man zum Glück nicht so viel zugemutet, und er ist verhältnismäßig etwas zweckmäßiger gekleidet. Gegen die jetzigen russischen Beinkleider habe ich einzuwenden, daß sie nicht über den Stiefel gehen und den Fuß nicht vor dem Einfallen des groben Sandes und der kleinen Steine schützen; eine Hauptsache bei dem Marsche. Daran scheint der Kaiser bei Abschaffung der Potemkinschen Ordonnanz nicht gedacht zu haben: dort war der Fuß gehörig gesichert. 

Mit Acerbis Reise sind die Schweden sehr übel zufrieden; leugnen aber doch nicht, daß viele Wahrheiten darin stehen, und daß das Buch mit Geist und Leben geschrieben ist. Mehrere Irrtümer habe ich sogar auf meinem kurzen Durchzuge zu entdecken Gelegenheit gehabt, die ihm noch nicht alle gerügt worden sind. Es ist indessen nicht zu leugnen, er hat in so kurzer Zeit viel bemerkt; und man muß sich wundern, daß sein Buch, da es in so kurzer Zeit so viel enthält, nicht noch mehr Unrichtigkeiten hat. 

Daß die Schweden nichts von deutscher Literatur wissen, ist eine ziemlich laute Klage. Es fragt sich, ob wir die ihrige besser kennen. Von szientifischen Dingen sind sie gewiß unterrichtet, sobald etwas wichtiges in irgend einem Fache bei irgend einer Nation erscheint; in vielen gehen sie voraus. Wer kann ihnen aber zumuten, alle unsere Dichter und Romanschreiber näher zu kennen, deren vorzügliches Interesse doch nur für die Nation selbst, und oft für diese nur sehr ephemerisch ist. Ich habe aber weit von Finnland oben herunter auch auf dem Lande viele Übersetzungen aus dem Deutschen gesehen, worunter besonders Lafontaines Romane waren. Man hat mir eine Anekdote von dem Regierungssekretär Leopold erzählt, welche auch hieher gehört. Er war im Schauspiel, als eben eine Übersetzung von Kotzebues Menschenhaß und Reue gegeben wurde. Der Mann ist seiner Nation selbst als guter Dichter und strenger Kritiker bekannt und er lärmte und fluchte bei der Vorstellung über Kotzebue mit vieler Heftigkeit und weinte abwechselnd bei dieser und jener Stelle die hellen Tränen. Aber mein Gott, sagte man ihm, was sie für ein Widerspruch sind, so bitter zu schelten, und so gerührt zu sein. Aber ich bin kein Widerspruch, sagte er; der Tadel gilt dem Ganzen, und die Rührung ist von dem Einzelnen. Vieles Einzelne ist vortrefflich, und das Ganze ist nicht gut. 

Einige aufgefundene Landsleute hielten mich noch einige Tage länger hier. In Reyer, dem Sächsischen Chargé d'affaires fand ich einen alten Universitätsbekannten; und es war natürlich, daß wir das Andenken der an der Pleiße zusammen verlebten Stunden am Mälar feierten. [...]

Hinter dem kleinen Dorf Pillkoppen [war] die Grenze. Es war Litauen, aber für uns Memelland. Wir pflegen in Deutschland verlorene Kriege nicht wahrzunehmen. Dafür gibt unsere Nationalhymne ein gutes Beispiel: >Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt.< So sangen wir es in der Schule, und wer das nicht mitsang und Bedenken äußerte, war schon immer ein Landesverräter und vaterlandsloser Geselle. Die Wander­dünen, vom Wind geblasen, kümmerten sich nicht um die Grenzen. Ob sie sich auch heute nicht darum kümmern, ob der Wind noch immer die Schwerarbeit leistet, den Sand zu Gebirgen zu türmen und Täler wieder freizule­gen, in denen einst Dörfer gestanden hatten mit Häusern, Kirchen und Friedhöfen? Vielleicht sind heute dort Bun­ker und Raketenstellungen, gegen die der Wind nicht an­kommt. Sicher wäre er auf die Dauer dieser neuen deut­schen Tüchtigkeit unterlegen, und es würden heute dort Hotelkolosse, Bungalows, Schnellstraßen und Yachthä­fen sein. Ob die Libisbucht noch ihren Namen hat, der Grabscher Haken, die Bullwicksche Bucht? Laß mich noch einmal die Namen nennen auf dieser hundert Kilo­meter langen Landbrücke zwischen Ostsee und Haff, die Namen der Orte, Flecken und Forsthäuser: Cranz, Sar­kau, Rossitten, Pillkoppen, Nidden, Purvin, Preil, Perwelk, Schwarzort und überm Wasser Memel.

>Frei ledig zieh ich durch die Welt, hab Sorgen nie gekannt<, sangen wir, um übergangslos die Probleme zu diskutieren, die uns bedrückten. Dabei ist das Wort Pro­blem schon viel zu abstrakt. Wir sprachen über unsere Kameradschaft untereinander, über die Solidarität mit den Arbeitern, über den bedrohlichen, heraufziehenden Faschismus, über die Stellung der Juden. Frei ledig san­gen wir und schleppten Rucksack, Brotbeutel, Gitarre und Zelt mit uns, ein ganzes Schneckenhaus, ohne all das war eine Reise bei unserem mageren Verdienst oder Taschengeld gar nicht denkbar.

Auf einem Nehrungsdampfer machte ich einmal die Bekanntschaft eines Globetrotters. Ein nicht mehr junger Mann, der mir von Afrika und Asien erzählte, still und unauffällig dastand in bürgerlicher Kleidung mit einem kleinen Koffer in der Hand und viel exaktem Wissen. Was für einen Aufwand an Gewicht hatte ich betrieben für meine kleine Reise.

Was für die Juden Jerusalem, die Araber Mekka, die Germanen der Brocken oder vielleicht Bayreuth war, war für uns Nidden, das heilige Dorf zwischen Sandbergen, See und Haff - es kehrt noch heute wieder in meinen Träumen. Vielleicht kam man gerade bei Sonnenunter­gang rechtzeitig an, wenn gegen den flammend farbigen Himmel die Fischerflotte auf Fang fuhr, ein Schiff hinter dem anderen, die sanft gebogene Linie der Bucht nachfin­dend und jedes Segel klar und scharf gegen die Bucht sichtbar, gegen den Horizont. Wir, die wir wie Heine über Sonnenuntergänge spotteten, waren von der Liebe zu dieser Landschaft überwältigt, dem einheitlichen Rhythmus, den der Wind bestimmte. Dieser Rhythmus und die klaren Farben waren es auch, die Thomas Mann und die Maler des Expressionismus auf die Nehrung brachten. Sie saßen in Rossitten, in Pillkoppen, unter der »Schwarzen Düne«, die das Dorf zu verschütten gedroht hatte und dann in mühevoller Arbeit mit den harten Grasbüscheln bepflanzt worden war, sie saßen auf der hohen Düne bei Nidden, die steil ins Haff hinunterfiel und im Fischerhafen malten sie die plumpen Kähne mit den so schönen primitiven Holzwimpeln auf der Mast­spitze. Ich habe einmal solch einen Wimpel gekauft, auf dem der Fischer all seinen Besitz dokumentiert, Häuser, Schuppen, Frauen und Kinder neben- und übereinander in einfacher Laubsägearbeit und dann bunt bemalt. Jedes Boot hatte seine eigene Flagge.

Doch nun zu den Expressionisten. Wir hätten sie nie bemerkt, wenn es nicht Hermann Blode gegeben hätte. Von der Dorfstraße aus war Hermann Blode ein Gast­haus wie alle anderen. Am Eingang der Dorfladen, dann kam der Gastraum, ziemlich dunkel, eine Schenke wie jede andere. Daß der Besitzer immer schon eine Liebe zur Kunst gehabt hatte, bewies ein großes Jägerbild, echt Öl, wie wir sagten. Dann aber kam man auf die Terrasse, die auf Pfählen schon im Haff stand, jeder Tisch mit einer kleinen Petroleumlampe mit buntem Schirm. Dort saß man am Abend und hatte das Haff vor sich und konnte herrliche Gerichte bestellen - wenn man Geld hatte. Bei uns reichte es immer nur zu einer Tasse Kaffee. Aber die Wände waren voll mit Bildern von Pechstein, Schmidt-Rottluff, Nolde und anderen Malern. Es war die köstlich­ste Ausstellung, die ich je gesehen habe. Es stimmte alles auch noch, als zu unserem Leidwesen die Petroleumlam­pen durch elektrische ersetzt wurden. Wie konnte solch ein Wunder geschehen? Nun, ich kann es nur erzählen, wie ich es damals wußte. Es war die Liebe, die dieses Wunder bewirkt hatte, warum sollte in diesem Zauber­dorf nicht auch Liebe solch bunte Wunder bewirken? Die alten Blodes hatten ihr Marjellchen, ihre Tochter, auf die Schule in Königsberg geschickt, und dort hatte sie einen jungen Maler - Ernst Mollenhauer - kennen und lieben gelernt und geheiratet. Es müssen sehr aktive Menschen gewesen sein; sie brachten nicht nur ihre Malerfreunde nach Nidden, sondern hängten auch ihre Bilder dort auf, allen sichtbar, und verhalfen so der Kneipe und dem Kramladen Blodes zu Weltruhm. Als wir die Haffterrasse entdeckten, war ihr Ruhm schon nach Königsberg ge­drungen. Jedesmal, wenn wir in Nidden waren, war unser erster Weg zu Blöde, um die alten und neuen Bilder zu Bewundern. In den Jahren zwischen 1925 und 1932 waren wir fast jedes Jahr dort. Damals waren wir sehr reich. Wir gönnten eine Vierter-Klasse-Reise von Berlin nach Kö­nigsberg bezahlen und hatten sogar noch Geld übrig, ein­mal in einem billigeren Gasthaus Räucheraal zu essen. Und da man das »fette Zeuch« ohne Schaden nur mit verdünnendem Alkohol in riesigen Portionen essen konnte, so tranken wir Wodka dazu - ganz gegen unser Gewissen, denn wir waren Antialkoholiker, aber was tut man nicht alles aus Liebe zur Heimat? Wenn wir dann mit gut gefülltem Magen und leicht trunken die Dorfstra­ße hinuntergingen und zu dem Wald auf der Düne stie­gen, wo unser Zelt stand, denn zu einem Zimmer in einer Pension langte es immer noch nicht, so sangen wir das Lied vom russischen Bauern, der sich immerfort noch ein Schnäpschen eingießt, von Walter Mehring, und endlich war die Welt auch für uns einmal rund und in Ordnung.

Unser Zelt konnten wir allein im Wald stehenlassen. Niemand hätte etwas daraus gestohlen. Einmal, ich war mit Hans Litten und Margot in Nidden, schickte ich die beiden ins Dorf, um Wasser und Essen zu holen. Ich war faul, und um wenigstens etwas zu tun, schälte ich Kartof­feln. Plötzlich ein Rütteln am Zelt, daß es beinahe um­kippte. Mit einem Fluch sprang ich auf, weil ich sofort Margot im Verdacht hatte, eine Teufelei vorzuhaben, und stand einem riesengroßen Elch gegenüber, der ebenso überrascht wie ich in mein dummes Gesicht starrte und schließlich, sein bärtiges Haupt bedächtig schüttelnd, im Wald verschwand. Ich schüttelte auch den Kopf über mich. Da hat man doch so viel gesehen, ist durch echte weite Wüsten gefahren, kennt den Harz, die Mark Bran­denburg, das blitzblaue Mittelmeer von den bizarren Fel­sen Mallorcas aus gesehen, die Spitzen der Alpen, Glet­scher, frostkalte Stauseen, und dann geht einem doch nicht der Geruch dieses Dorfes verloren mit den mageren Kiefern, nicht der Geruch des schwelenden Holzes der kleinen Schiffswerft, der Eichenbohlen, die über Feuer für den Bauch eines Schiffes gebogen und mit einem Was­serstrahl wieder gelöscht wurden, dann wieder erhitzt und an einem Ende mit Steinen beschwert, bis sie der gewünschten Form entsprachen. Viele Stunden habe ich zugesehen, fasziniert von der Gewalt, die einem Holz angetan wird, bis es sich dazu bequemte, nützlich zu sein und zur Belohnung dann, umhüllt von Teer und Farbe, als stolzes Schiff sich vom Haff umplätschern zu lassen und den kurzwelligen Stürmen standzuhalten.

Es muß wohl schon Anfang der dreißiger Jahre gewe­sen sein, als ich mit Margot und Hans die so lange ge­plante Reise verwirklichen konnte, die ganze Nehrung entlang und über Memel und Litauen hinaus bis nach Lettland zu gehen. Nur in den Kriegen, im Ersten und Zweiten Weltkrieg, kamen damals arme Leute zu solchen Reisen. Margot und ich waren von Rossitten weiterge­gangen, noch einmal am Haff und den Sanddünen entlang bis Schwarzort und dann noch einen Tag bis zum Memeler Tief, bis wir an einem Sonnabend in Memel anlangten. Es war wohl ein Sonnabend, und nach sonnenheißen Ta­gen begann es leicht zu regnen. Wir wußten nicht viel in Memel anzufangen, es ist mir jedenfalls nichts im Ge­dächtnis geblieben. Wir kauften eine >Vossische Zeitung< von ungeheurem Umfang, gaben am Bahnhof unsere Rucksäcke auf und gingen ins Kino. Danach, als wir un­sere Sachen wieder holen wollten, war der Bahnhof ge­schlossen. Nach einigem Hin und Her gingen wir vor die Stadt und im Schutz einer großen Mauer legten wir die Zeitung unter uns, wie es Landstreicher zu tun pflegen, und deckten uns mit den Mänteln zu und schliefen. Erst richtig durchfröstelt waren wir, als wir am Morgen zum nahen Tor kamen und Landes-Lepraanstalt lasen. Nun, uns brachte ein Kaffee am Bahnhof bald wieder auf die Beine. Hans Litten kam mit dem Zug, und wir begannen unsere einzige Reise ins Baltikum.

Hinter Memel endete Deutschland. Mit den Grenzen von 1918 endete dort auch radikal, was deutsche Kultur oder Zivilisation war. Es war unglaublich, daß man ein paar Schritte weiter tief in Rußland war. Steinerne Häu­ser, steinerne Herzen, sagten die Litauer, und es gab von nun an in den Dörfern nur noch Holzhäuser. Was auf der Nehrung noch museal wirkte, die schön geschnitzten Giebel und Dachfirste, die Strohdächer, wurde selbstver­ständlich, der Typ der Menschen hatte sich kaum gewan­delt. Die Chaussee verwandelte sich in eine Sandpiste mit tief ausgefahrenen Radspuren, breit nebeneinander, und der Wald wurde nun wirklich zum Urwald. Alles, was wir an Ostpreußen liebten, war hier noch liebenswerter, noch ursprünglicher. Bald zogen wir es vor, durch eine Waldschneise zum Strand zu gehen. Die Straße verlief sowieso parallel zum Meer. Was für ein herrlicher Strand, viel breiter als wir es gewohnt waren, die Buchten weiter ausschwingend, ohne Steilküste, weit und breit kein Mensch, nur einige Radspuren dicht am Meer. Da hatten die Wellen den feuchten Sand wie Asphalt geglättet und gehärtet. Gingen wir 20 oder 30 Kilometer, bis wir an der lettischen Grenze waren? Das war jedenfalls alles, was von Litauen ans Meer grenzte, und Litauen war doch einmal eine Weltmacht gewesen. Nachdem die Baltischen Staaten, einem nordischen Balkan gleich, zu handlichen Stücken zerschnitten worden waren, hatte es Wilna ver­loren und Memel als Zugang zum Meer bekommen, ohne den der neue Staat überhaupt nicht lebensfähig gewesen wäre. Wir saßen an dieser einsamen Grenze, ein Zaun quer durch den Wald bis zum Strand, und kramten zusammen, was wir aus Geschichtsunterricht, Reiseführern und Karten über das Baltikum wußten. Litauen, Kurland, Livland, Estland hießen einst die Ostsee-Länder bis zum Finnischen Meerbusen, an dem Petersburg, heute Lenin­grad, liegt. Jetzt hießen sie Litauen, Lettland, Estland und verdankten ihre Existenz dem Cordon-Sanitaire, dem Sicherheitsgürtel, der die Sowjetunion von der Ostsee absperren sollte. Hans hatte vorsorglich Reise- und Sprach­führer mitgebracht, aus denen man erfuhr, daß man sich in Lettland nicht mehr deutsch verständigen könne, daß es in den Wäldern Kreuzottern und Wölfe gäbe; er hielt es nicht für ratsam, weiterzugehen. Wir konnten auch nicht weitergehen, da der Grenzposten unser Visum nicht anerkannte und sich erst zu einer Beratung mit seinem Vorgesetzten zurückgezogen hatte. Der Vorgesetzte kam aber erst am Abend zur Ablösung. So hatten wir Zeit, Lettisch zu lernen. Wir haben es natürlich nie geschafft. Ich weiß heute nur noch unvollkommen, daß Swiest Butter hieß, Oalas Eier, Kartöppeli Kartoffeln und Gulta Bett, und auch das mag falsch sein. Aber es klingt so gut.

Dann beschäftigten wir uns mit der Geschichte und wußten, daß es einmal ein riesiges litauisches Reich gege­ben hatte, das in Personalunion mit Polen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte. Es scheint, daß Gott gerecht ist und jedem Volk einmal seine Geschichtsstunde gewährt hat, worauf dann ewige Ansprüche angemeldet werden. Es ist kaum aufzuzählen, welche Völker alle Herrschaftsansprüche auf diesen Wald, in dem wir saßen, anmelden konnten: die Deutschen, weil einmal die Goten dort saßen, später die Hanse, dann die Ordensritter; die Schweden kamen und gingen, die Russen kamen. Die Herren wechselten wie auf den Atlanten die Farben. Blieb der Bauer immer derselbe in seinen armseligen Dörfern, hölzernen Häusern? Ist es anders geworden heute, wo das Land wieder der UdSSR zugeschlagen ist?

Am Abend bekamen wir Bescheid, daß wir ein neues Visum uns in Memel holen müßten. Es war ein schöner Weg für mich hin und zurück. Ich schaffte es in einem Tag teilweise zu Fuß und teilweise von gutmütigen Bau­ern mitgenommen. Dann öffnete sich die Grenze, dieselbe See, derselbe Strand, der Wald noch dichter: und Hans hörte in der Nacht das Heulen der Wölfe. Am Abend suchten und fanden wir ein Dorf, denn wir brauchten Nahrungsmittel. Hans blieb am Rande des Dorfes sitzen und studierte sein Wörterbuch. Wir anderen gingen hin­ein und versuchten uns verständlich zu machen. Es ge­lang nicht gleich, dann aber holte man ein kleines Judenmädchen hinzu, sie konnte Jiddisch, freute sich und dolmetschte vortrefflich. Wir wurden in eines der ansehnlichsten Häuser gebeten, wo wir in der guten Stube unter dem Bild des Zaren Nikolaus Platz nehmen mußten. Tee, Brot und Butter wurden gebracht und - da wahrscheinlich nur selten Gäste im Dorf waren - mußten wir erzählen, woher und wohin und warum wir gekommen seien. Lange noch saßen wir stumm beisammen, während man beriet, wie wir am besten nach Liepaja (Libau) kommen würden. Erst nach langem Verhandeln durften wir weni­ge Pfennige für unsere Vorräte bezahlen. Es war schon Nacht, als wir aus dem Dorf hinaus waren und unser Zelt in einer Lichtung des Waldes aufschlugen und sicher­heitshalber ein Feuer machten; man konnte ja nicht wis­sen, vielleicht gab es doch Wölfe. Viel mehr ist von der Reise eigentlich nicht zu berichten. Ich besinne mich auf Libau als eine helle Hafenstadt, eher schwedisch im Ver­gleich zu Memel. Wir wollten eigentlich nach Riga, aber Geld und Zeit langten nicht. Uns ist das namenlose Dorf in Erinnerung geblieben und wieder ein Zweifel an uns, die wir die gutartige Armut der anderen so liebten.

Als ich schrieb, Königsberg sei eine Grenzstadt, wollte ich ganz andere Dinge erklären, zu meinen eigenen Gren­zen kommen, mich abgrenzen. Statt dessen habe ich bei­nahe auf jeder Seite über Grenzüberschreitungen ge­schrieben, über die Lust, außerhalb der Grenzen zu sein und die Grenzen hinter sich zu lassen. Die Grenzüber­schreitungen, die wir lieben, und die Grenzen, in die wir gebannt sind: meine Grenzen. Dabei bedürfte es kompli­zierter Untersuchungen, wie sich etwas, was ich bei mir zu übersehen glaube, bei meinem Nächsten abspielt, ge­schweige denn bei einem, der zwei Jahrzehnte später ge­boren ist als ich. Diese Grenzen sollten das Thema mei­ner Überlegungen werden. Geboren als Deutscher, als Jude, als Bürger und als Ostpreuße. Man kann von Ost­preußen fortgehen, man konnte, wenn man Glück hatte von Deutschland rechtzeitig fortgehen, man kann sich weit von der materiellen Grundlage eines Bürgers entfer­nen, man kann verleugnen, daß man Jude ist, man kann auch alles andere verleugnen und das Jüdische in den Mittelpunkt seines Lebens stellen. Man hat einige Freiheit für Grenzüberschreitungen. Gott sei Dank ist man nicht festgenagelt in dem Kreis, in den man hineingeboren ist. Es kann sogar tödlich sein, in diesen Gegebenheiten zu verharren. Sobald die in der Familie überlieferten und praktizierten Meinungen nicht mehr bindend sind, be­ginnt die nächste Umwelt wirksam zu werden. Bei mei­nen Eltern war die Zuordnung des Judentums zur deut­schen Staatsbürgerschaft ein Dogma. Als wir begannen, weiter zu bohren, bekamen wir gereizte Antworten. Man war deutsch, das war eine Tatsache, man sprach deutsch, man zahlte Steuern, man wählte, man nahm Anteil an der Politik, man hatte in der Familie meiner Mutter über mehrere Generationen deutsche Schulen besucht; von der Familie meines Vaters weiß ich kaum etwas, eigentlich nur, daß mein Vater im Altstädtischen Gymnasium zur Schule gegangen war. Es war ja auch eine Tatsache, daß man mit dem »Wohl und Wehe« seiner Mitbürger ver­bunden war (ein Standard-Argument meines Vaters). Re­ligion ist Privatsache, man war so jüdisch wie andere pro­testantisch, katholisch, sektiererisch. Wir waren duldsam anderen Religionen gegenüber, und die anderen sollten es auch sein. Das waren Glaubenssätze, die man nicht dis­kutierte, ohne auf die schiefe Ebene zu kommen. Wo käme man hin, wenn man das nicht mehr anerkannte. Ja, wo kam man hin? Ganz so heil, wie es uns Kindern schien, war die »heile Welt« meiner Eltern aber auch nicht.

Ich glaube nicht, daß es für Juden auch in Deutschland je die heile Welt wirklich gegeben hat. Das kam schon in der Bewegungsbeschränkung zum Ausdruck, die mein Vater sich auferlegte und die er von uns verlangte. »Nicht auffallen«, sich möglichst wenig von den anderen unter­scheiden, und Juden waren füreinander haftbar. Wenn ein Jude sich schlecht benahm, kompromittierte er die ganze Gemeinschaft. Das ist immer so bei Minoritäten. Ge­schieht etwas, etwa ein Verbrechen, so ist es, wenn der Täter ein Deutscher war, ein Herr Müller, war es ein Jude, waren es die Juden, die Zigeuner, die Homosexuel­len, heute sind es die Gastarbeiter. Bei meinem Vater war es der Dreyfus-Prozeß 1894, der ihn aus seinen Träumen von der Gleichheit mit den Deutschen aufschreckte. Dreyfus war dann plötzlich nicht ein französischer Offizier, sondern ein Jude, und als sich schließlich herausstellte, daß es der deutsche Geheimdienst war, der das angezettelt hatte, waren es eben Patrioten, die durch einen Juden kompromittiert wurden. Man konnte es drehen, wie man wollte, die Juden waren schuldig. Dann, viel schlimmer, gab es in Ungarn und in Polen Ritualmordprozesse, eine ganz unsinnige Anschuldigung, wenn man weiß, wie streng Juden der Genuß von Blut verboten ist. Juden wurden verhaftet und vor Gericht gestellt, weil sie angeblich ein Christenkind geschlachtet und das Blut in Mazzen verbacken hatten. Und obwohl sie dann vor Gericht endlich freigesprochen wurden, war das Gerücht vom Christenblut trinkenden Juden schon ins Volk gedrungen und immer wieder von antisemitischen Schriften und Flugblättern aufgenommen worden. Es genügte ein kleiner Trick, um das endgültige Ergebnis, den Frei­spruch, die Absurdität des Vorwurfs in Frage zu stellen. [...]

© Birute Stern, Jerusalem 2018

Proteus wohnet noch hier, der graulichte Meergott! –
Diesen gebürt dir mit Banden zu fesseln. - Flehend sein Herz nicht
Beugst du; - im Schlaf den liegenden fall an und zwing ihn, gewaltig
Fesselnd, daß er die Lippe dir öffne voll glücklicher Zukunft.1

Flieh‘, o Muse dies Land! Nicht Kokosinseln des Südmeers
     Duften dir hier! wild klagt tosender Brandung Geheul,
Trauergesang heimgirren verirrte weitkehlige Vöglein,
     Und es drehet der Nord selber die Wimpel dir um.
Warnen dich nimmer die donnernden Wellen rückschlagend den Schiffbauch
     Und das polarische Eis und die erebische Nacht2?
Hörst du der Eulen Geschrei und das Grunzen der Moore, das Schnarchen
     Rasselnder Stürme im Forst, Zaubrer mit Trommelgeroll
Und das Gebrüll des neunfach stygisch3 umkerkerten Wooxstroms4?
     Siehe, der Sonnball flimmt wolkig und höhnend herab
Auf Deukalions Kiesel5 für harte Geschlechter gestreut rings
     Und in der Oede allein wandelt das fühlende Herz! –

Nein doch! der Hügel vergoldetes Moos, die Flocken des Nordlichts,
Wälzende Sterne der Höhe, die trunkenen Vöglein am Schiffbord
Und aufbrausend der Sund schon riefen willkommen im Beltmeer,
Und es glänzet mein Auge, mir glühet das Herz wie das Ostroth,
[4] Denn mit Mamura6 gekränzt und honigathmender Haide
Reicht mir die maserne Harf‘, in der Mondnacht tönend wie Quellfall
Wäinämöinen7 der Greis! Sie tönet, - es fliehen die Nebel,
Und rings jubeln die Felsen, das todte Gefilde in Brautschmuck.

Sind ja die Tannen schon selbst der Traurigkeit finsteres Sinnbild,
     Hüllend in Nadeln den Pfad, welchen die Baare durchschwankt!
Fliehe! schon strauchelt dein Fuß ins mitternachtschwärzliche Waldthal.
     Schlingkraut fesselt den Tritt, borst’ges Wacholdergesträuch.
Katzenköpfige Uhu’s, das gakernd aufpurrende Sumpfhuhn
     Und der Nadeln Gezisch klagen im traurigen Hain.
Dürr, einbeinig und rissig mit starraufsträubendem Haare
     Gähnen, wie Geister der Nacht, Bäume mit finsterem Spalt.
Schuppig und laublos, voll augiger Knorren und bärtiger Warzen,
     Streckt sich, entwurzelt vom Sturm, hin der gigantische Baum
Ueber des Waldpfads Windung, durchschlängelt vom kothigen Moorbach,
     Und aus dem fauligen Ast gähret der giftige Schwamm! -
Welkabhangende Birken umsäumen die aschige Rödung;
     Noch schmaucht kohlig und schwarz düstre Verwüstung umher,
Sammelnd des Donners Geroll und reitzend die gräßlichen Blitze
     Niederzuzucken mit Tod in die erebische Nacht. -

Freund! mich entzücken die Söhne des Walds! auf röhtlicher Felsbank
Dunkelt uralt der Sterblichen Schutz, hier ewiges Tanngrün.
Ueber die Väter schon hin, weit streckten die Aeste den Schatten,
Strebten zur Wolke hinan Pyramiden und trugen den Himmel.
Sieh, wild wallen im Sturm wohl und fluten und wühlen die Wipfel,
Aber unten ist’s still, sanft knarren die Säulengewölbe
Harz ausduftend und säen den Boden voll röthlicher Aepflein,
Fern ausschiffet der Theer, es schwanken die kräftigen Masten
Hin zu Britania’s Krieg8 im weiten unendlichen Weltmeer,
Und erquickend bestreun uns die Nadeln die reinliche Hausflur.
Gern auch leihn flachwurzelnde Fichten den tönenden Boden
[5] Fortepiano’s, auch Zweige zur Spreu, starkduftendes Kienöl
Und süßmarkigten Splint9, gesammelt in hungrigen Monden,
Wimmelnd die Ameis thürmet - (sie siedet im ätzenden Gichtbad - )
Nadeln und harzige Körner in kegelförmigen Nestern,
Häufig zum Räuchern gesucht, auch Puppen, der Nachtigall Futter.
Dort auch gaukelt die Eller10 mit bräunlichgekräuselten Trauben,
Welche dem donnernden Pulver vermischt schwarzglänzenden Kohlstaub,
Aber die Birke mit Ruthengezweig und silbernem Stamme
Voll gelbstaubiger Zöpflein, der Asche der harzigen Väter
Ueppig entkeimt, verträufelt ihr Oel zu schmeidigen Juften11
Und zu scorbutischer Kranken Genesung labenden Birkwein.
Also auch reicht sie die lüsternen Quasten zum qualmenden Schwitzbad,
Wann dickbusige Dirnen auspeitschen die Lenden der Männer, -
Decket die Dächer der Hütten mit langausdauernder Rinde,
Sammelt, verflochten zu künstlichen Körbchen, die blutige Waldbeer
Und legt schöpfende Kellen an jegliche Quelle des Heuthals,
Doch dich rühm‘ ich vor allen an ihr, braunfleckige Maser,
Welche aus felsigem Kronburg12 in Ländern der Menschen berühmt weit
Bauet der Stuben Geräth, kunstreich schattiret vom Tischler! –
Aber die Rödung tadle mir nicht, mit stärkender Asche,
Welche dort himmelan strudelt mit Glut durchherrschend die Wipfel,
Weit einmantelnd das Feld und den Wald in qualmendes Nachtgraun,
Dann entsteiget verklärt der Phönix der Pflanzen dem Glutstaub:
Milchichtes Korn; - dann bärtige Gerste und bauschiger Hafer,
Mäuseschwanzige Rüben und Drake’s blondknollige Erdfrucht13.
Nieder dort strebet der Pflug mit doppelklauigen Zinken,
Und es malmet den Klos die Wucht unbändiger Walzen,
Und es gebietet der Mensch, - die Elemente entweichen,
Eins durchs andre bekämpft! hoch brausen die Wälder! der Donner
Sammelt die Glut, verzehrend mit Blitzen des giftigen Sumpfs Hauch.

Wohl! du denkest des Sumpfs! des Landes Nam‘ ist Morastland14,
     Und Jahrtausende qualmt schon schwarzschlammig der Moor,
[6] Blätter und Nadeln und Aeste, verfault mit dem lastenden Schneeball,
     Hüllen in Schimmel ihn ein. Grundlos trügend und blind,
Lockt er mit tückischumtanzenden Irrlicht. Beeren kaum schmoren
     Da für der Vögelein Durst, welkabhängend am Strauch.
Nimmer entsauget die Sonne das Gift der grünlichen Lache,
     Nimmer auch wühlt ihn der Nord auf mit grimmigsten Sturm.
Ewig hier brütet das Chaos, am Abend einschleiernd die Wälder
     In blau nebelndes Kleid. Tief aus dem rohrigen Phul
Gähren Verwesung ins Leben und Keime der schwärzesten Krankheit.
     Zornig und rauhes Gebrumms schwärmet das Bremsengeschlecht;
Myriaden Aasmücken, des Hornviehs bittere Luftpest
     Haucht er wie Wolken empor, röthlich verfinsternd den Tag;
Und vom Gebrüll der gepeinigten Heerden erbebet der Forst weit.
     Hier auch röchelt der Frosch ewig sein klagendes Lied,
Und tieftauchend aus fettiger Fäule der moosigen Wüste
     Wälzt sich, im eigenen Schleim, rings goldschuppig Gewürm,
Mancherlei Schlangengeschlecht, verknotend den fleckigen Giftbalg. –
     Weh, wenn müde am Strunk eines vermodernden Baums
Schlafend der Pflüger sich ausstreckt, bäumt es sich auf von der Eibrut,
     Züngelnd die Gabel des Schlunds, hin auf des Lebenden Puls.

Doch, dort wimmelt empor ja aus seidenem Grabe der Puppen
Froh buntfarbiges Leben! Horch, es summen verspätet
Bienlein, kreuzend im Mondlicht. Leis mit der Trommel am Bauche
Schrillet die Heuschreck, schnurret der Käfer, es surrt die Phaläne15,
Und mit florenem Klappnetz ziehet der Lehrer der Kinder
Rund um den Moor; ihm folgen viel Hüte umflattert von Flüglein;
Aber er schüttelt vom Strauch Thautropfen und Blüthen und Raupen,
Haarig und saftvoll, nährendem Glas heimtragend in Schachteln,
Oder er lauschet den Sylphen16 großäugig smaragden und schillernd,
Wo auf dem Wasser mit Schrittschuhfüssen langbeinige Mücken
Laufen und drehende Käfer hinschwimmen mit Blättern des Weidbaums.
Oft auch wiegt sich sein Aug‘ auf den Augen des bräunlichen Tagpfaus,
[7] Zuckt mit den Sphinxen umher und scheuchet die wimmelnden Müller;
Oder es lokt ihn der Flügel Aurora’s, röthlich und meergrün,
Prächtig Apollo17 wohl auch, der goldne, und fliegender Farben
Vielfach Geschlecht, umschwebend die blühenden Kelche voll Honig.
Blühen nicht auch ganz nahe die weithin duftenden Kräuter
Und schmerzstillende Wurzeln zum Nutzen der Menschengeschlechter,
Vom Apotheker gesucht, auch buntgemarmelte Schwämme,
Riezchen vor allen und Morcheln, der Armuth spärliche Waldkost.
Zwischen isländischem Moos vorschielt rothstrotzend die Erdbeer,
Preißel- und Schell- und Steinbeer, schwärzlich die Beere der Haide,
Und zum purpurnen Punsch, zu Mus und allerlei Backwerk,
Wie auch zum Sommergetränk zitronensaftige Klukwa18;
Aber vor allen Mamura, du Fennias lieblichstes Waldkind
Mit pfirschfarbener Blüte, das früheste Blümchen im Chaos,
Die aus frohthauender Thräne entstand der goldnen Aurora,
Noch der Bescheidenheit Bild, still hinter dem moosigen Baumstrunk,
Oft im zärtlichen Busen erhitzet vom Staube der Rödung,
Aber auch oft von der Liebe gestreut auf des Namenstags Prunktisch.
O wer zählet sie auf, die Labung der siedenden Schnitter?
Zählet sie alle die Blüten der üppigkeimenden Krautwelt,
Rosige Kukuksblumen, azurne Vergismeinnichtwäldchen,
Silberne Lilien des Stroms, goldflammenden Krokus, des Spätfrosts
Schneeige Sterne, im Strauch Hyazinthen, des duftenden Maimonds
Glöckchen in bauschenden Sträußern zur Stadt einwandernd am Sonntag,
Bis zur blauäugigen Blüte des völkerbekleidenden Flachshalms,
Und zu der mystischen Pflanze, gebrochen beim nächtlichen Koko19,
Wann beim Gesange und Tanz rings flammt von den Hügeln Johanni,
Welche mit Milchsaft kühlet die giftigen Bisse der Otter.

Grause Natur! - kein Berg, ein Augen- und Herzenserweitrer,
     Alles nur zwergig und klein, alles unreifes Gebild;
Nimmer ein Wolkenkoloss mit himmelandräuenden Zacken,
     Nackende Hügel von Sand, schimmelumkrochen Geklipp.
[8] Klappernde Steine und Kies und gräßlich aufspringende Klumpen
     Decken das durstige Feld, brennen die sandige Höh.
Rings auf den Hügeln noch hängt, entwaschen dem tieferen Schlammthal
     Durch die nordische Flut, mancher granitene Block.
Und wo im Baum einst gekahnt blondhaarige Ahnen der Finnen,
     Rodet der zackige Pflug unter dem Enkel den Wald.
Also sprenget der Mensch mit Eisen und Feuers Gewalt kaum
     Felsen, und zwinget den Stein, daß er ihm gebe sein Brod.

Also vertheilte der Sterblichen Mühe der gütige Himmel
Schärfend mit Sorgen den Geist, daß er nimmer erstarr‘ in des Schlummers
Dumpfer Betäubung. Nur Arbeit heischet die Erde und Arbeit
Zähmt sie. Trägt sie auch sclavisch, aufdring ihr die Hoffnung der Zukunft! -
- Weite unendliche Stufen, ihr röthlichen Sessel voll Mooskraut! -
Zwar nicht raget ihr ewige Berge des Herrn wie in Schweizland;
Aber doch liebliche Hügel voll weihrauchduftender Kräuter,
Bergend mein Knie, wenn er früher euch röthet mit Strahlen des Sonngolds.
Nicht des Asbests gedenk‘ ich, des splittrigen, höhnend die Flammen,
Nicht der reichhaltigen Adern von Eisen und Kupfer und Bleierz,
Nicht des glattrollenden Heerwegs, der Wohllust reisender Schenkel; -
Starrende Klippen, geschwängert mit purpurströmigen Marmor!
Was ihr bescheiden verbergt, spricht selbst die erhabene Kunst aus:
Denn auf eurem Granitkloz herrschet der ewige Peter20,
Auf ihm wandelt des Reiches Profil21 am Ufer der Newa,
Und aus der Wüst‘ aufsteiget der Tempel heiliger Prachtbau.
Aber vor allen aufwägt‘ aus karelischem Marmor der Meister
Jenes Gebäus Dom22, heilig der heiligen Mutter von Kasan,
Schön wie des Donnerers Tempel zu Rom voll erhabener Säulen,
Die majestätisch ihr Haupt aufheben aus niedrigen Felsen,
Ueber die Erde empor, hoch über die sterblichen Menschen.
Gleich einer Kaiserkrone ums Haupt sich wand sie der Herrscher,
Und erbaute sie, selbst sein Portal zur Unsterblichkeits Halle;
Denn Jahrtausende stehn sie und werden auch stehn, von der Zeiten
[9] Farb‘ unentstellt. Das erhabne Gebäu, bestürzter Entzückung
Schauet der Fremdling, ihn locket der heiligen Chöre Gewalt an.
Vorwelt erscheint‘s ihm des Himmels, denn tausend andächtige Thränen
Schwimmen im Kuppelgewölb‘ ein Himmel voll brennender Sterne.
Also bezaubert die Welt Jahrtausende Fennia’s Feldstein.

Und des Gewässers nicht denkst du, der trüglich schwemmenden Seeen,
     Welche durchwogen das Land, raubend den Fluren das Korn.
Und des Stroms Cataract, von dem Quell bis zur brausenden Mündung
     Schiff‘ unduldend und Floß, Grauen nur wälzend und Tod?
Häßlich entstellen die ewigentsteigenden Nebel den Himmel.
     Wolken mit strotzendem Bauch, übereinander gebirgt,
Wirren im Sturme gezückt sich, umnachtend Felsen und Thäler.
     Auch entrüstet noch kämpft immer die Brandung fort,
Als ob Oceanus kaum erst verlassen sein schaumiges Flutbett‘.
     Und es malmet der Schwall, donnernd am kiesigen Riff
Unterzutauchen im Sturm sein grauses Klippengemengsel,
     Daß oft strandet verirrt Brahme und Nachen und Schiff.

Heil den flutenden Strömen, den eisenträchtigen Bächlein,
Einst noch zu Bädern gesucht, voll wankender Kresse und Prallmoos
Und voll strömender Perlen, gefischt im glühenden Hundsmond.
Heil den allnährenden Wassern voll flossiger Schuppengeschlechter!
Siehe dort flammen im Meer hin die Kähne bei dunkelnder Nachtzeit.
Hoch auf lodert der Klotz, es schlummern die schwebenden Fische
Und es schwingen die harrenden Fischer neptunischen Dreizack.
Tief in das Steinbett rauschet belastet das triefende Zuggarn,
Und in Matten dann führen sie heim breitleibige Braxen,
Barsche, verschlungne Neunaugen und heringsartigen Strömling,
Dorsch und Sandarten, Forellen und schleimigzartschuppigen Schlammaal,
Goldne Carauschen, scharfzahnige Hechte und allerlei Krebsbrut;
Silberne Lachse wohl auch; sie fangen vor allen die Münchlein
Aus dem Ladogakloster, wohl kühnlich auf schwankendem Phalwerk
[10] Springend im Kymenestrom, durch furchtbarschäumende Fluten.
Heil auch den freundlichen See’n, den blauen Augen des Landes,
Hellaufspiegelnd durch dunkelnde Wälder und binsenumbordet.
Kühlung wehn sie im Sommer und wehren die Seuche der Schwüle
Alle, vor allen die Königin Saima mit waldigen Inseln.
Siehst du, am sandigen Berg dort siedelt die Gotteskapelle
Fichtenumschattet, breitbauchig mit schmalauflaufenden Schultern.
(Innen verziert mit Elengeweih, Bärdecken und Schnitzwerk.)
Dorther ruft melancholisch im Nebel der Frühe das Glöcklein
Ueber den See und es schwanket im bauchigen Boote das Landvolk!
Alle doch singen, umflattert von Möwen und flüchtigen Tauchern
Laut zu der Ruder Getön die Morgengesänge, und steuern
Sorglos auf blindem Geklipp, und schnaube unbändig der Nord auch
Tief in die Seegel von Matten, sie zählen die Wellen und Wolken
Und tieftauchende Fische, ihr Antlitz spiegelnd im Seegrund! –
    Sey mir gegrüßet auch du, der Kraft Bild, donnernder Wooxstrom
Schneegenähret am Pol; dir selbst aufreissend dein Felsthor
Stürzest du hin durch moosige Wüsten, ein schrecklicher Sturmpfeil.
Jeglicher Schritt verwandelt die Scene. Aus klippichtem Becken
Tanzen zersplitterte Barken und zackichte Felsen im Schaumschnee.
Weit vor sich hin durch nachtende Waldung treibet er Wolken,
Strudelt verloren im Röhrengewind jetzt wurzlichten Morasts,
Jetzt abtaumelnd von Hange zu Hang, von zackigen Felsen
Aufgestachelt zur Wuth, hin stürzt er in kühlende Hainnacht.
Doch nun würgt er sich vor, auskochend des gährenden Zorns Glut,
Rascher abwälzend zur Imatraschleuse sein tosendes Schaummeer.
Ueber die Waldung empor hoch kündet den Riesen ein Rauchthurm
Gleich der Brandbrunst Wolken und Wassersäulen der Sündflut.
Dumpf auf donnert Gebrüll wie von Heerden brüllender Löwen
Tod und Verwüstung rufend ins Ohr der sterblichen Menschen.
Näher doch tritt dem Geheimniß im Nebelgedämmer des Dickichts,
Wo aufdampfet das Stromblau, tanzen rings gläserne Sterne
Und in dem Wassergewölk aufwirbeln Perlen und Sandstaub.
[11] Sieh im zuckenden Krampf rückbebet das stöhnende Ufer
Und es rollen die Kiesel im brausenden Kesselgeklüft wild.
Niedergerissen zum Abgrund im Luftzug kreischet der Habicht,
Und tief zwängt sich gefoltert der Wälder Ruin vor und Leichen
Grausiger Bären und Wölfe.Doch Anmuth paaret das Graun auch.
Unten wo tanzet der silberne Lachs in vermessenen Bögen
Wallet im moosigen Ufer der Strom wie schneeige Milch hin.
Blühende Inseln d’rin schwimmen mit goldenen blumigen Seegeln.
Farrenkraut nicket vom Strand, tief tauchen die hangenden Birken
Und auf die Zweige wie flockige Woll‘ aufschleudert der Strom Schaum.
Weit ist die Wüste erfüllt mit wildharmonischen Tönen
Und wenn der Polfrost lähmet den Stromgang, klingen die Schollen
Feiernd wie Glockengeläut und tausend eisige Spiegel
Schleudern zur Sonne empor.In runden Zirkeln gespannt, malt
Iris die brennenden Bogen, ein Feuerwerk über den Fluten,
Zwischen den Menschen und Gott das Zeichen des ewigen Bundes! -
Horch, was spricht sie, die herzlose Flut, zum Herzen des Menschen?
Hallt dir’s im Ohre der Seele? es sträubt sich die flatternde Locke,
Nieder will stürzen der Geist mit, empört doch reißt es ihn aufwärts,
Siehe so bricht sich das Leben, es kreuzet in Wirbeln der Wille
Siedet unbändiger Glut, erschöpft sich in eitelem Toben.
Aber im Fluge der Zeit ihm stellet das waltende Schicksal
Ruhig entgegen die felsige Brust; d’ran rädert das Herz sich.
Aber es platzen die Blasen, durch dämmernde Nebel zum Himmel
Steigt er empor, verklärt mit Regenbogen der Seele
Sinkt dann und strömet in sanftern Wellen, befruchtend die Ufer.

Doch, dort latschet der Bär, der Wüsten grausestes Scheusal
     Misgestaltet und rauh, murrisch aus felsigem Schrund.
Stachlichte Zähn‘ ihm knirschen im Rachen. Mit blutigem Scheelblick
     Schleicht er von Strauche zu Strauch, froh des umnebelnden Dunsts,
Trotzend den trüglichen Mooren mit breitausgreifenden Tatzen.
     Eisengeduld ihm stählt, härter im Winter sein Herz.
[12] Läutend harmonisch mit eisigen Zapfen an hangenden Zotteln
     Tummelt er rasender Brunst voll an der Bärin Brust,
Grausige Liebschaft treibend in zottiger Umarmung der Waldnacht;
     Oder murmelnd im Bart mörderisch blutigen Plan,
Wann ihn aus dumpfigen Schlaf das pickenbewaffnete Dorfvolk
     Scheuchte, steht er und saugt lauernd an schleimiger Klau
Und am Ohre sich zaust er als wolle er waschen den Schädel,
     Quetscht dann am Baume den Feind, drängt in die Picke die Brust,
Bis er im Schnee ungeschlacht sich wälzet, verblutend die Wunden.
     Aber vom Pelzgeschlecht, lebend vom Raube und Mord,
Trabet noch manch spitznasiges Unthier, greuliche Seuchen,
     Beinigt blutlechzend und dürr über das Trauergesümpf;
Doch vor allen nur wild wie der Tod und wie Gräber gefräßig
    Allerlei Wolfsbrut. Graß23, im grimmigen Trupp,
Wenn sie anreizet im brünstigen Jänner Geblöke der Lämmlein
     Heulet der trockene Schlund, sauset die Mähne im Sturm,
Und sie verfolgen den Luchs mit nachtdurchleuchtenden Augen,
     Oft schnurrbärtige Füchs‘, oft den verlaufenen Hund
Dann dickwüchsige Elen’s, windschnell, kehrend aus Lappland
     Mit dem Schaufelgeweih, kugeltrotzenden Fells,
Jetzo den buschdurchschlotternden Hasen bangklopfenden Herzens
     Oder hinschleichen sich scheu hinter den friedlichen Stall
Stürzend ans Euter der Kuh, es abreißend dem wimmernden Saugkalb.
     Wohl auch geätzt von des Grabs fauligem Leichengeruch
Wühlen im Kirchhof tief sie, Entschlafene schleppend im Sarghemd
     Gräßlich über den Zaun, Nachtkost hungriger Brut.
Doch kaum scheucht sie dein Peitschengeknall und klirrende Ketten.

Immer hier geben die Götter auch Gutes zum Bösen, zur Schwüle
Kühlung, Wärme zum Frost. Die lebenverwüstenden Thiere
Retten im Tode das menschliche Leben; es schließt sich erwarmend
Eng an die fühlende Brust die Brust des wüthigen Raubthiers,
Und des Brummbärs mördrische Tatze wird gastliche Mundkost.
[13] Also reicht uns sein Fell der Räuber des friedlichen Lämmleins,
Reicht der getigerte Luchs, uns reicht das Elen den Balg dar,
Der langdauernd verhüllt Großvätern die Lenden und Enkeln.
Ist’s dir nicht warmwollüstig in nordischer Wintervermummung
Wenn wild stäubet der Nord mit Feuergeflimmer der Eissee
Und dir umhüllet den Fuß der braungezottete Bärsack,
Welchen das Pferd scheut, witternd das Unthier. Wiesel und Marder
Oder der Balg des possirlichen Eichhorns, häufig zur Kriegszeit,
Streichelt die Schultern und zärtlichen Hälslein schlittender Frauen,
Welche der Schleier verhüllt vor der neidischen Sonne des Merzmonds.
Und zu der Kirche hinfahren die finnischen Mütter, ihr Kindlein
Tief einpelzend sein nackend Gebein im röthlichen Schlitten,
Hauchend den Oden24 der Liebe hin über den frierenden Flachskopf.
Sieh weißgraulichte Wildschur hüllet den Jäger des Landguts,
Wenn er von Baume zu Baum entathmet hinspringet im Lenzfrost
Während der Urhahn25 falzet mit schwarzgrünglänzendem Busen.
Unter aufs Eis, in der Grünstrauchhütte auch breitet er Bärhaut,
Lauernd dem Birkhahn, der mit begierdaufzitternden Federn
Schwanket vom Zweig zum Pulwan26; ihm brennet der Kamm in Karminglut
Und in zorniger Wollust pludert der glänzende Fittig
Schwarz und verwirrt und spreitet sich weit zum Kampf mit dem Buhlen.
Horch in der Hauptstadt pochet27 im Takt vorrollender Räder
Allerlei Budengeschlecht die Ungeheuer der Wüste,
Prangend in Muffen und Pelzen und Pelzlein, welche die Sitte
Ordnet zu tragen bis aufgebrochen das Eis in der Ostsee,
Daß sie erwärmen den Bauch und hemmen die hämmernde Kopfgicht.

Ach du mahnst an den Frost, an unbändige Wolken des Jänners,
     Wo im Schollengekrach kraus sich der Luftraum krampft.
Flockenlawinen vorrollt der Orkan aus Siberiens Gebirgschlucht
     Und rings nachtet nur Nacht, rosenleer rauchet der Ost,
Kalt grellgrause Beschattung werfen der Bäume Gerippe
     Ueber das Leichengewand starrentschlafner Natur,
[14] Todstill trauern die Wüsten es fauchet nur ewiger Polwind
     Und der Rachen des Walds seufzet nur nächtlich und hohl.
Schaurig und dumpf vorknallen die frostgeborstenen Bäume
     Oder gediegenes Eis heult in der Hunde Geheul.
Nicht mit klappendem Laut mehr redet die Mühle des Thales,
     Denn ihr einsam Rad hemmet der Winter mit Eis
Wie überbauet der Tod das pochende Herz mit dem Grabe.
     Sieh es verkündet allein jenes verschneiete Dorf
Eine Säule von Rauch rothglimmend von Funken der Spähne
     Und vor der Hausthür starrt nakender Kindlein Schaar,
Oder auch gukt schwarzstaubig ins stürmische Wetter am Rauchloch
     Während der Vater entfernt, hämmernd das rauchende Pferd.
Wundroth offener Brust durchstäubet vom eisigen Schneesturm
     Zugefrorenen Augs und mit klingendem Bart
Schlittet die Post, gepeitscht vom säumigverschlafenen Lehnsmann.
     Ach es verschlinget den Pfad oft aufwirbelnd Gestäub
Und erstarret zu Säulenbildern verirrete Wandrer.
     Alles dünket mir rings düsternen Traumes Gestalt.
Streng wie der winternde Frost erscheint mir das menschliche Leben
     Stockend in jeglichem Puls, welkend die Blüten des Süds.
Schwermuth beuget herab die reifigten Häupter des Waldes
     Und wie blasses Geflock hangen die Sterne herab.
Schauerlich lispeln und heimlich die Lüftchen durch grausige Stille
     Pred’gend ein weiser Greis kalte Vernichtung allein
Und es verbrütet sein Leben der Mensch verpelzt und das Herz bricht
     Früh mit der toten Natur in des Alleinseins Last.

Nein, blödsüchtigem Aug‘ nur erscheinet Ruine der Winter
Und es zieht nur ein ernsterer Geist durch verstummende Welt hin,
Gleich der entschlafenen Braut, gehüllt in das Liliengewand der
Unschuld, ruhet die Flur. Die fasrigen Blitze des Vollmonds
Oder die Myriaden lächelnder Augen des Himmels
Strahlen aus heiterer Bläue herab vom ewigen Nordpol.
[15] Sieh dort glimmet die Halle des Wests. Strahlsaugende Wolken
Bauen ein Tempelgewölb der glühenden Masse des Sonnballs.
Purpurne Flüsse, wie feuerabfunkelnde Bänder der Wahrheit
Strömen herab, umfassend der Erde ernstes Gewand nur.
Aber es stehen wie feiernde Greise die Tannen der Berghöh
Festaufragenden Haupts, umschlungen von rosigen Kränzen,
Schauend in sinkende Sonne, und rings an den Spitzen der Aeste
Hängen crystallene Glöcklein, rein wie des fühlenden Augs Thau
Aus der Frühzeit, geronnen im Froste des Alters zum Demant! –
Wie rings brechen sich Farben der Sonne in magischen Bogen
Feurige Glimmer vorgaukelnd dem Auge im zitternden Lufttanz,
Daß das geblendete Labung sich sucht auf dunkelndem Tanngrün. –
Furchtbarherrliche Scene, wenn sturmgegeisselte Wellen
Uebereinander gethürmt erstarren zu eisigen Schollen
Plötzlich, - ein Chaos von unbekannten Ruinen. Da schreitet
Ueber die schneeigen Schründe der Finne mit lappischem Schneeschuh,
Lauernd dem Seehund, streckend sich hinter den glänzenden Eisblock; -
Sägt auch eisige Quadern zu kühlenden Tränken des Kellers
Oder durchlöchert das Eis zu ziehn das gewaltige Zugnetz
Voll rothflossiger Fische, ein wimmelnd erstarrender Haufe.
Andere glätten die Wege mit dreifach winklichtem Schneepflug,
Und belebt ist die Oede; hier schlüft28 rauchschwanzig das Füchslein,
Krähen tanzen, es hüpft der langöhrig weißhaarige Ramler;
Weithin wimmeln die Flügel der schamlos schreienden Raben,
Stahlblauglänzender Elstern und schieferfarbiger Dohlen! –
Pickender Spechte Geschlecht vorhackt aus eisiger Rinde
Puppen im grimmigsten Frost, umlaufend die Zäune und Stangen,
Seidenschwänz‘, Kreuzschnäbel auch hörst du, buhlend im Jänner,
Finken und goldene Ammern im Sperlingsgetummel der Tenne,
Dort auch ragen Alleen gehüllet in silbernen Moorglanz
Zeigend die Bahn, zu trotzen dem pfadzustreichenden Sturmwind.
Hier hinsausen des Landguts Schlitten zur dampfenden Theezeit,
Und wo überrindet der See vom schöngemarmelten Eisglas
[16] Klarcrystallen durchsichtig, hinspielen erschrockene Fischlein
Unter den Kufen; du schwebst abschauend auf schauderndem Abgrund.
Aber es leuchten nach Hause die Sterne, das purpurne Nordlicht
Rosenströme hingiessend im Schnee aus ew’gem Magnetborn,
Mystisch rings tanzen die Tannen und näher umschlinget der Freund nun
Tief in das Pelzlein verhüllt, den zärtlichen Busen der Freundin.
Doch drein klingeln melodisch die eisigen Glöcklein am Roßschweif.

Immer nur leben wir doch ja unter dem Bärengestirn hier
     Und der Nacht Herrschergebiet mantelt in Trauer uns ein.
Wild noch stampfet der Regen des Mais die schmutzigen Lappen
     Von dem zerfaserten Kleid blendenden Winterschnee’s.
Scheu nur entfaltet die Knospe sich tückischschneidender Nordluft
     Und oft verschrumfet sie schnell wieder der Blumentyrann.
Trübe nur rauchet im Frühling die Fackel der Lieb‘ aus den Sümpfen
     Und das Vögelein klagt zitternd im starrenden Nest.
Zwei Jahrzeiten nur herrschen am Pol, der Winter und Sommer,
     Kaum glüht dieser empor, frostet der andre schon an.
Ob auch beängstet der Süd und an glühende Felsen anprallt Sol29
     Flimmert doch ewiger Schnee noch aus des Waldthals Kluft.
Kaum vorklagt mit verworrenen Quarren ein heiseres Froschchor,
     Als sich am Boden schon müd lagert das rieselnde Laub.
Ach kein silbernes Schaafheer flutet auf trunkenen Triften,
     Aus dem zerrissenen Fels rupft nur Gewurzel das Schwein.
Nächtliche Reife und Dürre, die wechselnden Geisseln des Himmels
     Sengen die Haide noch mehr, fäulen das winzige Korn.
Ach, und der Herbst ist gesanglos, die grambesiegende Rebe
     Und obstzeugend Gezweig laben und schatten uns nicht.

Warlich auch unter verschneitem Geklipp tief glüht der Natur Herz
Einsam und still im scheinbaren Tod von grünender Hoffnung.
Dreifach Jubel wenn öffnet der Mai sein himmelblau Aug hier
Und die Thüren bekränzt und die Fenster mit duftendem Birkzweig.
[17] Drei der Stürme, dann berstet das Eis und es toben die Schollen
Und es knallt aus der Tiefe wie dumpfansprechende Pauken,
In das Gesumm und Gebraus der felsabsprudelnden Ströme.
Dann aus der dumpfigen Brust wie ein Strom vorsteiget ein froh Ach
Und aus der Traufe des Borkdachs fallen die silbernen Thränen
Wie aus dem Barte des Greises, der Auferstehung sich freuend.
Nahe am Rande des ewigen Schneereichs blühen die Blumen
Siegerisch prangend; es geben die Gräber des Winters den Tod frei
Und es verwandelt die Stunden zu Schöpfungstagen der Sonnball.
Rings erwachen die Glocken; die Weiber mit blühenden Zweigen
Treiben mit sinnigem Spruch und Geschrei zur Weide das Stallvieh,
Daß mit Gebrüll es feire das Fest der brünst’gen Vermählung.
Dumpfaufbrüllende Büffel voll Trotz, die lüsterne Milchkuh
Mit geschmeidigem Schenkel das Füllen, umnaschende Ziegen,
Stößige Böcklein, bartigen Kinns, langwollige Schaafe
Borstige Schwein‘ auch, am Hals den Triangel, daß wühlend den Feldzaun
Keines durchbreche, - auch folget die Heerde unmässiger Gänse.
Uebermüthig doch lauern die Kinder heimkehrenden Mägden
Wasser zu strömen auf Scheitel und Nacken! - Siehe die Lerche
Himmelanseegelnd zuerst, der purpurbusige Dompfaff
Und weißbauchige Schwalben flattern heran und ein Tonchor
Laut anschwellend nachstürmet aus allen Enden der Erde.
Doch am fernsten von allen die nordwärts ziehende Eyder
Die in unendlichen Ketten abstürzet zum grünlichen Meergras
Und sich mit Liebe entblößt ausrupfend die flaumige Schneebrust,
Aufzubauen für zärtliche Eilein den wärmenden Nestrand.
    O der du südliche Auen geschaut, dich wollte ich führen
Hierher verbundenen Augs, dann plötzlich dir lösen die Binde
Und in welcherlei Lande dich würdest du wähnen, wenn weithin
Ruhet die Flur in heiligem Schimmer der Mitternachtssonne,
Wenn im purpurnen Abend verschwamm sanftäugig das Ostroth
Und der unendliche Himmel, ein safranfarbiger Teppich,
Lichtet zum milderen Tage die Nacht. In spielenden Nebeln
[18] Ruhet der Wald; Zugvögel in perlenfarbiger Höhe
Fliehn schwarzpunktig dahin, - wie Blitze durchschiessen die Blüten
Feurige Käfer, es blüht auf der Welle das Nächlein des Mondes,
Und um zwei Uhr schlagen und spielen die Kehlen der Vögel,
Wasserfälle auch läuten darein und Geister und Engel
Steigen in Flammen herab ins Asyl der schweigenden Liebe.

Nein doch! ich laß dich nicht! - in nimmerbesungenen Felsen
     Suchst du dies schmutzige Volk rauherer Brust als ihr Stein?
Sieh im hyperboreischen Kleinwuchs ein krüpplichtes Menschthier
     Ungestaltne Gestalt, lebende Mumie nur,
Eisenrostig gefleckt die zitronenfarbige Wange,
     Häßlich auskeichend Tabak aus den Taschen des Mauls,
Naht dir befremdend, im Blick urahnlich griesgramige Trägheit! -
     Das ist der König der Flur, das ist des Landes Sohn.
Starr wie der Eiszapf scheinet der Sinn des böotischen30 Schwerkopfs;
     Raupiges Einerlei kriechet sein Leben dahin.
Wild um die Furchen der Stirn ihm hängen ölfarbige Zotten
     Und aus dem eckigen Kinn, durch absterbenden Bart
Tönen accentlosklagend die Trauervokale der Sprache.
     Also prägt ihn Natur rauh mit der Häßlichkeit Fluch.
Hu! mich schaudert der Hütten, den Ritzen entwirbelt der Rauchschwal,
     Fels ist der Stubengrund nur, nackt drauf schnarchet das Kind
Zwischen Gefieder und Schweinen und allerlei blättrigem Kuhmist;
     Aber den Balken enttropft nächtlich der Tarakan31
Oder die blutige Wanze. Mit hottentottischen Lumpen
     Sitzen so alle umhüllt kraftlos wie Schatten und stumm,
Oder grinzen verzerrt vor finster zur Sonne durch’s Kriechloch.

Wol auf der Stirn, forterbend im Säugling ruhet der Kummer
Und der Hüttrauch lockt in die Augen wol bitteren Thränquell,
Aber auch Redlichkeit blickt, es blickt auch Ergebung vom Antlitz.
[19] Siehe da stehn kurzathmig die langausdauernden Greise
Von dem Sirocco gedörret der Rödung in stiller Gebücktheit,
Dumpfaussprechend mühvolle Beschränktheit und Plagen des Himmels
Und aus dem Leib vortritt der geängsteten Seele Geberde.
Sieh grobfadig das Hemd am Zaunpfahl neben dem Badhaus,
Wer ach zählet die Tropfen vom Angstschweiß, die es getrocknet?
Aengstlich wol fried’gen mit Stangen sie ein ihr winziges Steinfeld,
Siehe es fehlet dem Vieh im unendlichen Winter an Futter
Und in Schwaden verfaulet ihr Korn, daß sie enden die Frohnzeit,
Also daß hungrig sie nagen die innere Rinde des Birkbaums.
Aber noch gastlich in Armuth, sammeln sie Beeren des Waldthals
Und von der einzigen Kuh Milch, freundlich sie bietend dem Wandrer.
Wähne nicht träg die Gedrückten, wenn dort sie bei kärglichem Mahle
Fallen ermüdet im Moore des thränenlos gierigen Gutsherrn,
Wo sie die zehrende Luft, der Schimmel der gährenden Nässe
Tückisch straft mit Scorbut, sie rüttelnd mit keuchendem Husten.
Komm mit zur würfelförmigen Hütte beschattet vom Tannbaum,
Welchen die Axt mit heiliger Furcht schon schont ein Jahrhundert.
Schön wol nicht können sie sein, doch heimlich einladend die Hüttlein,
Und wer Menschliches fremd sich nicht fühlt und Lieb‘ in der Brust hegt,
Findet ein gastliches Volk in patriarchalischer Einfalt.
Horch da schnurren die Räder voll seidenartigen Flachses;
Singend bei nächtlicher Spul‘ abhaspeln die Vliesse der Lämmer
Weiblein, nicht unkundig des Webens, zur Hülle armseel’ger
Schiffer! Mädchen wohl schaukeln den hölzernen Spriegel32 der Wiege
Und es verlieset andächtig die Bibel der Vater beim Spanlicht;
(Denn schriftkundig sind all‘,) die andern flechten die Basteln33,
Stricken das maschige Netz und bänd’gen das störrige Krummholz,
Andre noch schnitzen sich allerlei Küchengeräthe vom Birkstamm;
Aber es schmettern die Halme der Tenne unsträfliche Drescher.
Doch rauhfröhlich entzückt sie zur selbstgezimmerten Geige
Hartaufstampfender Tanz auch, und frei vom umschliessenden Mieder
[20] Hüpfen die Schwestern des Nords, Stutznäschen, blauäugige Blondlings.
Unter dem hasengraulichtem Wattmann34 wallet der Brüste
Reichliche Fülle, es woget das Haar voll farbiger Bänder
Schulterabflatternd, hoch brennen die frosterfrischeten Wangen.
Doch rings stehn starkwadige Weiber mit pappenen Binden
Ueber der Stirn, voll Tressen und pyramidalischen Mützen.
Sieh wie sie ziehn in unendlichen Reihen zur Kirche und Hochzeit
Reinlich geschmückt, weitglänzend im Sonnschein, seitwärts im Sattel
Männer und Weiblein zugleich; doch nebenher trotten die Füllen! –
Heil dir du glückliches Volk! noch trägst du im rußigen Kleide
Tief in der bäurischen Brust die reinen Sitten der Unschuld
Wie frischfallender Waldschnee. Keine durchziehenden Völker
Senkten ihr Gift dir ins Herz. Noch schmücket euch heilige Einfalt.
Wie in die Flocken des Winters sich länger verhüllet ihr Mai hier
Also ihr Geist auch, eh‘ er sich hebet im Frühlingsgefühl auf.
Horch und Orakel reden die späthin lebenden Tannen
Daß bald heller es wird und die Rind‘ im sibirischen Eis springt.
Noch liegt wolkig der Nebel des Moors dem Himmel zu Füßen.
Aber wie schönere Hoffnung wandelt der Mond auf der Schneeflur
Und aus der Nacht vortritt in das menschliche Auge die Sonne.
Gern vermengst du den göttlichen Geist mit der Scholle des Pollands,
Welcher doch ewig und frei Elemente und Zeiten verhöhnet.
Glaube mir warlich, das Herz das da schaut in den schäumenden Wooxstrom
Fühlet Liebe und Gott wie das Herz am Ufer der Elbe.
Wol in den Sand tief rauschet der Sarg, doch haben auf Felsen
Fest sie gegründet den Glauben an den,vor dem in das Moos hin
Sinket ihr Knie, der ihr Lamm einhüllet in wärmende Wolle
Wie in Schnee ihre Flur und der nicht unfreundlich, ein Gutsherr
Höhnet die Bitten der Angst, an ihn, an ihn Jumala35 Gott.

Ach an den frostigen Herzen hier reißt sich das heißere blutig
     Wie warmklebend die Hand von dem gefrornen Metall!
[21] Nur der Nordwind streifet die Thräne, daß sie gefriert kalt
     Und zeigt südlich die Bahn, bald zurück noch zu fliehn.
Hier im Stillen erkranket das Leben. Die Augen der Menschen
     Flimmen nur bleich und matt, Todtenlampen der Gruft.
Alle die Stürme, welche abbeugen die Kronen der Forsten
     Hemmen den Flug des Gemüths, hüllen in Schwermuth es ein.
Nimmer hier fühlen ja kann man, noch heilen die Wunden des Herzens
     Starr, gefühllos und kalt, klopft nur die steinerne Brust.
Ist mir’s als hört‘ ich doch Seufzer der trauernden Seel‘ in der Wildniß
     Und rings säh‘ ich das Grab schönerer Heimath nur hier.
Ha es verwehet der Sommer, aufrauschen die ziehenden Vögel,
     Ziehen zur milderen Luft, ziehen zum heimischen Land;
Ach und es will sich mein Herz nachheben den eilenden Schwingen,
     Aber ins winternde Land sinkt es gebrochen zurück.

Freunde, Brüder, welche ich liebe, Söhne Thuiskons36
Glüht uns das Herz noch in Feuerbegeistrung der südlichen Erde,
O von dem Südstamm tropfen wir nieder dann heiliger Saame
Wurzelnd im Nord. Unendlich wuchern die goldenen Zweige
Ahndend sehnlicher Drang zu schöneren Auen entlockt die
Blüten; zum Tag und zur Sonne empor durch böotische Nebel
Treiben die ewigen Früchte, im Kampfe mit Sturm und Naturtod.
Und wenn die Nacht hochheilig mit Sternmyriaden emporsteigt
Ewige Zeugen, daß jenseits der N ä c h t e ein ewiges L i c h t wohnt,
Und mir Orion dort winkt und mein Aug‘ erbebet in Andacht, -
O dann scheint auch die Nordwelt Traum mir der göttlichen Zukunft
Und ich press‘ euch ans Herz, ihr Brüder, welche ich liebe,
Söhne Thuiskons und Fennia’s Enkel, Ruthenia’s Hoffnung;
Hebend euch mit mir empor zu den Welten des heiligen Lichtreichs.
Laßt uns vergessen des Sandes am Fuß. Vom Nord bis zum Südpol
Sei’s in Lapponia‘s Eisflur, oder am Indus im Palmhain,
Weht gleichheiliger Oden der Menschheit. Ein Vaterland ist nur
Unser - die W e l t, zwei Kronen des Daseins, T u g e n d und W e i s h e i t.
[22] Krönen sie uns, auch uns des Nordballs würdige Söhne,
O laß schwanken dahin dann die Särge auf tannenen Nadeln,
Und den Hügel von Schnee still schwärzliche Fichten umsäumen.
Friedlich deutet die Gruft und die Ruhe des Kampfes ein Holzkreuz
Hoch auf dem Sandberg, wenn wir schlummern vereint in Gesteinnacht.
Still hin ziehen die Jahre die Wolken hin über die Hügel
Und es verklärt sie mit mitternächtlichen Rosen das Nordlicht.
Aber Unsterblichkeit singen Germanias Vöglein im Frühling
Und aus der Nacht empor aufjauchzen wie lodernde Flammen
Geister der Urne, verklärt, verklärend die Nächte der Nachwelt.

 

Die eckigen Klammern verweisen auf die Seitenzahlen des Originals. Die Rechtschreibung ist behutsam an den Standard des 20. Jhdts. angeglichen, um die Lesbarkeit nicht zu beeinträchtigen.

Erläuterungen

Erstellt von Marianne Gradl-Grams, Hans Peter Neureuter und Robert Schweitzer
 
1 Motto (Proteus wohnet noch hier...): Bezieht sich auf Odyssee IV,414-424, wo die Göttin Eidothea Menelaos erklärt, wie er ihren Vater, den Meergott Proteus, trotz seiner Verwandlungen fangen und festhalten kann, um ihm sein Wissen und seine Weissagungen zu entlocken. Hier also eine Antwort auf die Frage: wie kann man ein Land wie Finnland erfassen und seine Zukunft erkennen?
2 erebische Nacht: von griech. Erebos, Unterwelt, Totengrund, Finsternis
3 stygisch: von griech. Styx, dem Fluss der Unterwelt
4 Wooxstrom: finn. Vuoksi, Fluss und Seengebiet zwischen Saima- und Ladogasee
5 Deukalions Kiesel: Die Geschichte Deukalions, Sohn des Prometheus, und seiner Frau Pyrrha, Tochter des Epimetheus, erzählt Ovid im ersten Buch seiner „Metamorphosen“ (348-415: Beide Frommen sind die einzigen Überlebenden der Sintflut, mit der Zeus das verderbte Menschengeschlecht vernichten wollte. Einem Orakelspruch folgend, werfen sie Steine hinter sich, aus denen dann neue Menschen wachsen, allerdings „ein hartes Geschlecht“ (inde genus durum sumus, 414).)
6 Mamura: verballhornt von finn. maamuurain: die Alackerbeere oder Arktische Himbeere, Rubus arcticus
7 Wäinämöinen (in heutiger Schreibung Väinämöinen): mythischer, orphischer Sänger, Zentralgestalt des finnischen Kalevala
8 Britania’s Krieg: Englands Seekrieg gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich, der seit 1793 andauerte. Die Schlacht bei Trafalgar, die Englands Seeherrschaft auf mehr als ein Jahrhundert sicherte, war eben erst im Oktober 1805 geschlagen.
9 Splint: hier Splintholz, die äußeren Schichten des Baumstamms unter der Rinde, die noch lebende Zellen enthalten
10 Eller: norddeutsch für Erle
11 Juften: wie Juchten, geschmeidiges Leder, mit Birkenteeröl getränkt
12 Kronburg: Eine Festungsruine (schwed. Kronoborg) am Ladogasee mit einem nahe gelegenen Ausfuhrplatz
13 Drake’s blondknollige Erdfrucht: die Kartoffel; nach einer lange geglaubten Legende hat der englische Freibeuter und Seeheld Francis Drake (um 1540-1596) sie aus Amerika nach Europa gebracht.
14 des Landes Nam‘ ist Morastland: hier wörtlich zu nehmen, finn. ‚Suomi‘ als suo-maa, wurde seinerzeit (zweifelhaft) abgeleitet von finn. suo, Sumpf, Moor und maa, Land.
15 Phaläne: Nachtfalter (Sammelbegriff, heute nicht mehr als biologische Gattungsbezeichnung verwendet)
16 Sylphen: wohl poetisierende Bezeichnung der Libelle, hier wahrscheinlich der Arktischen Smaragdlibelle, Somatochlora arctica
17 Tagpfau, Sphinxen, Müller, Aurora, Apollo: Namen von Schmetterlingen; heutige Namen: Tagpfauenauge (Nymphalis Inachis io), Ligusterschwärmer (Sphinx ligustri), Kohlweißling (Pieris brassicae), Aurorafalter (Antochares cardamines), Apollofalter (Parnassius apollo)
18 Klukwa [russ. клюква]: die Moosbeere, Vaccinium oxycoccus
19 Koko [finn.: Haufen]: das große Juhannusfeuer (am St. Johannistag, 24.6.)
20 der ewige Peter: Zar Peter I., der Große (1672-1725), Gründer St. Petersburgs, bezieht sich auf das unter Katharina II., der Großen (1762-1796), errichtete Denkmal für ihn an der Newa
21 des Reiches Profil: die ‚profilierte‘ Elite des Reiches
22 Dom: Die Kathedrale der Gottesmutter von Kasan, noch kurz vor seinem Tod in Auftrag gegeben von Zar Paul I., war 1808 noch im Bau (Bauzeit 1801-1811).
23 Graß: Grundwort zu ‚gräßlich‘
24 Oden: wie Odem, Atem
25 Urhahn: Auerhahn; schon frühneuhochdeutsch existiert ūrhan neben awerhan
26 Pulwan [lit.]: ausgestopfter Lockvogel im Prachtgefieder und in typischer Balzhaltung, auf den der Birkhahn als auf einen Nebenbuhler losgeht.
27 pochet: Aus der Grundbedeutung von ‚pochen‘ = ‚schlagen, stoßen‘ entwickelt sich schon frühneuhochdeutsch die Bedeutung ‚trotzen, prahlen, herausfordern ‘; hier etwa: ‚konkurriert‘.
28 schlüft: von ‚schliefen‘, gleichbedeutend mit dem intensivierenden ‚schlüpfen‘
29 Sol [lat.]: Sonne
30 böotisch: nach der altgriechischen Landschaft Boiōtia, Böotien, deren Bewohner als bäurisch, ungebildet und ungehobelt galten und ihre Mundart als grob und unfein.
31 Tarakan [russ.]: Küchenschabe, Blatella germanica
32 Spriegel: bei Fuhrwerken die Bogenlatte, die der Wagenplane Halt und Form gibt, hier dem Wiegenschirm.
33 Basteln: Flechtwerk aus Bast (??)
34 Wattmann: Hemdbluse oder Weste aus Loden ? (vgl. schwed. vadmal und vallman, estn. vademan); wattierte Jacke?
35 Jumala: das finn. Wort für Gott
36 Thuiskon, sagenhafter Stammvater der Deutschen



Die weite Wasserfläche des Meeres ist gewiß einsam, aber die Nehrung, diese Welt des Sandes, ist um Vieles einsamer. Wo das Leben vollkommen schweigt, verlangen wir seine Spuren nicht. Hier aber wo es sich leise regt, in schüchternen Anfängen gleichsam; wenn wir den Blick auf die Pflanzen werfen, die aus dem dürren Sande keimen, in elementaren Formen; wenn wir den Vogel wahrnehmen, der einen Fisch erhascht, oder den Menschen, der sein Netz in die Wasserfluth wirft; hier wo das Leben nur das Leben des Sandes ist, das Wandern der ertödtenden Düne, das Leben des Todes; hier wo die Erde noch nicht fertig, sondern sich in einem Werden, einem Kreisen befindet, unwissend was sie gebären werde: — hier überkommt uns entweder ein grenzenloses Grauen, oder eine empfindungslose Apathie. Es vergeht eine Stunde und eine zweite. Hinter jedem Vorsprunge erwarten wir etwas Neues, etwas Anderes wenigstens. Haben wir ihn erreicht, so erblicken wir immer dasselbe Bild vor uns. Stehen wir auf einem Haken, so liegt die Dünenkette panoramenartig ausgedehnt, in der Ferne schimmert vielleicht eine kurze dunkle, gebrochene Linie: ein verlorenes Dörfchen. Stehen wir dicht am Fuße der Düne, so schließt uns eine cirkusartige Vertiefung ein. Der Dünenwall hängt grausenerregend über uns; der Blick eilt über die Wasserfläche des Haffes. Wie um uns zu höhnen, fährt in der Ferne ein Dampfboot vorüber.
Oder wir sitzen am Fuße des Sandabhanges im Sande und ergehen uns mit einer gewissen schauernden Lust in der Vorstellung, daß eine Sandlawine hinabrutschen und uns begraben könne. Aus der Ferne kehrt unser Auge zu der nächsten Nähe zurück. Große Wegeblätter sind den starren Sandabhang mehrere Fuß hinaufgekrochen und heucheln ein kurzes Leben. Ein Schmetterling fliegt um ein paar Gräser; ein Marienpferdchen kriecht auf dem Sande und müht sich vergebens. Uns ist es, als müßten wir die Körner hören, die unter seinen Füßen den Abhang hinabrollen. Denn die Stille ist grenzenlos. Das Dampfboot ist seit einer starken Stunde an uns vorüber; wir sehen seinen Rauch nur noch sehr schwach; das Schiff selber gar nicht mehr, aber wir vernehmen noch deutlich die schnellen Schläge der Räder.
Wir schließen die Augen eine Weile. Wie wir sie öffnen, wirbelt nicht weit von uns ein Schneewetter; die ganze Luft ist erfüllt mit Flocken, die auf und nieder und seitwärts durch einander schwirren. Eine Mövenschaar zieht vorüber und sie erfüllt die Stille mit einem Schreien, einem Kreischen, daß wir verletzt unser Ohr abwenden. Schumann schätzte einen solchen Schwarm einst auf fünfzigtausend Möven und berechnete, wie viele Fische täglich sie verzehrten. Ich kann nur bestätigen, daß die Zahl unfaßlich erscheint, unbegreiflich. Später sah ich einmal einen ganzen Dünenberg von Möven bedeckt, daß es nicht möglich war die Farbe des Sandes zu erkennen. Auf einem andern, den sie verlassen, erblickte ich die Tausende ihrer Fußspuren. Da die Möve schwarze Flügel hat, welche unten weiß sind, so ist sie bei ihrem Fluge, gegen den dunklen Himmel gesehen, bald kaum wahrnehmbar, bald — sobald das Weiß von den Sonnenstrahlen getroffen wird — erglänzt sie hell wie ein aufflammendes Licht. Daher macht eine solche schwärmende Schaar oft den Eindruck eines Schneegestöbers.
Zwischen Rossitten und Pillkoppen treten zwei Haken — die Meilenzeiger der Nehrung — weit in das Haff hinein: der Predin- und der Skielwithaken. Predin heißt soviel als Kiefernwald. Das letztere Wort kommt in der Form Skirwiet auch drüben im Memeldelta vor. Zwischen beiden Haken nähert sich der Dünenwall unmittelbar dem Haff, so daß für eine Straße kein Raum übrig bleibt. Aber auf der Haffseite nimmt auch nur der Fußgänger seinen Weg, die Fahrstraße läuft längs der Grasebene zwischen der See und dem Dünenzuge.
Weiter nach Pillkoppen zu dehnt sich die Ebene auch auf der Haffseite freundlich aus; zuletzt verläuft sie in ein grasreiches Weideland, darauf die Heerde der Fischer, ohne Hirten, — denn Haff und Düne schließt sie auf dreien Seiten ein — friedlich weidet.
Das Dorf selbst liegt mit seinen reinlichen Holzhäusern wie ein Alpendorf auf der dunkelgrünen Matte, am Fuße und im Schutze des Dünenwalles, der hier im „Altdorfsberg" eine Höhe von 186 Fuß erreicht und sich einst ruhig und gelassen über das Dörfchen wälzen wird.
Wir steigen die Dünen hinauf von der Seite der Einsenkung, welche hier quer durch die Nehrung geht. Schon war die.Sonne untergegangen. Der Wind wehte aus Südosten und trieb den Sand über die Flächen, Wellen bildend und zerstörend. Über die Kanten hin stäubte es wie beim Schnee, wenn er über einen Abhang hinaus getrieben wird.
Wir erreichten die Höhe, ein wenig südlich von Pillkoppen. Im Westen lag bleichen Glanzes das Meer, in jener unermeßlichen Ausdehnung, die gleichsam nur dieser öden Küste eigen. Die Nehrung zog sich nach Norden und nach Süden, eine einzige leicht geschwungene Sehne, ein flatternder Wimpel zwischen zweien Meeren. Im Osten das Haff; zu unsern Füßen der grüne, fast schwarze Rasen, darauf das friedliche Dörfchen steht, zunächst ein Haus mit zerbrochenem Dach, gesenkter Giebelwand, „ausgewohnt", verkommen. [...]

Als ich am andern Morgen erwachte und zum Fenster hinausblickte, hätte ich wähnen können, mich in einer weiten Winterlandschaft zu befinden. Unbehindert schweifte der Blick über die Sandflächen und Hügel, welche Pillkoppen von Norden her bedrohen; kein Gegenstand gemahnte an freundliches Wachsthum; und über dem Ganzen lag der Schein der Frühsonne, kalt und bleich wie im Dezember. Der Wind vom Abend war fast zum Sturm geworden. Es rauchte, es stob über den kahlen Flächen, wie ein Schneetreiben. Dieses Mal wehte der Wind von Südosten und trieb den Sand von dem Dorfe fort. Aber wie lange kann es währen, dann dringt er mehr und mehr in das Dorf ein, dessen Anger er theilweise schon bedeckt hat, und wird die Wohnstätten ebenso vernichten wie er es in Neu-Pillkoppen gethan hat. Und sonderbar, daß die Gefahr zunächst nicht von Westen, von der hohen Dünenkette droht, sondern von den flachen Sandbergen, vor Allem von dem Sande, welcher durch das „Tief" des Dünenzuges gewirbelt wird. Wenn der Wind von Westen weht, so steht ihm der Dünenwall wie eine Schutzwehr entgegen; aber durch die Einsenkung bläst er ungehindert und mit vermehrter Kraft, weil zusammengepreßt und von den Dünen seitwärts eingeengt. So wirbelt er den Sand vor sich her und verschüttet die Ebene bei Pillkoppen. Der Dünenwall rückt, wie wir schon früher gesehen haben, nur um so viel vor, als sein Ostabhang durch den darauf lagernden Sand vorgeschoben wird. Es muß also, damit ein solches Vorschreiten wirklich erfolge, der ganze Abhang mit einer neuen Schicht gleichmäßig bedeckt werden, mit einem sehr bedeutenden Material, das selbst bei anhaltenden Weststürmen doch nur langsam zusammenkommt. Auch liegt es in der Natur dieser Bildung, daß der von Westen gewehte Sand, wenn er auf der Ostseite — der „Leeseite" gleichsam — niederfällt, zuvörderst den oberen Theil des Sturzabhanges erhöht, so lange bis die ganze Masse sich loslöst und, das Gleichgewicht herstellend, in die Tiefe rutscht. Mir erzählte mein freundlicher Wirth, wie grauenvoll es in stürmischen Herbst- und Winternächten sei, wenn die Dünen „sich rollen". Donnerähnliches Krachen begleitet das Ereigniß, die Erde erbebt und die Fensterscheiben klirren. [...]

Wenn wir einen Blick auf die Karte werfen, so erscheint uns die Kurische Nehrung zwar als eine einsame Land- und Sandzunge, aber sie schließt sich doch an das Festland im Süden an, und wird von Memel nur durch eine schmale Wasserrinne getrennt; wir halten sie für ein verbindendes Band. In der Wirklichkeit hat die Nehrung aber einen ganz andern Charakter. Sie besteht aus einzelnen, ganz winzigen Oasen, die durch eine Wüste von einander getrennt sind. Es ist eine Reihe von Inseln in einem Sandmeere. Da diese Inseln aber zugleich zwischen zwei Wassermeeren liegen, und die Verbindung zu Schiffe viel leichter herzustellen ist, als durch den Sand, so verkehren die Bewohner der einzelnen Insel-Oasen hauptsächlich zu Wasser mit einander. Das dazwischen liegende Land wirkt eher als eine Scheide, wie ein hohes Gebirge, das zwei Thäler trennt. Nur in der schlechten Jahreszeit, wenn Stürme die Fahrt auf dem Haff nicht gestatten, oder dasselbe zu gefrieren beginnt, wählt man wohl den Weg zu Lande. Bedeckt eine Eisdecke die Wasserfläche, so tritt der Schlitten an Stelle des Kahnes.
Auf der See findet niemals ein Verkehr von Ort zu Ort Statt. Nur selten wirft hier der Hafffischer seine Netze oder Angeln aus; meist feiern die Boote an der öden Küste. Die See ist ihm „das Unbetretene, nicht zu Betretende".
Wie einförmig auch der Charakter der Nehrung sein mag, so ist doch ein überraschender Gegensatz zwischen der Haff- und Seeseite vorhanden. Nach Osten hin stürzen die Dünen bald steil ab, bald schicken sie Ausläufer voran, bald bilden und umschließen sie Wasserbuchten. Hier stürzt ein Berg kopfüber in das Haff und wird zu einem Haken. Auf der Grasebene liegt hie und da ein Dörfchen, zwar durch meilenlange Zwischenräume von einander getrennt; aber doch sichtbar dem suchenden Auge. Rossittens Pappeln steigen in dieser Wüste förmlich grandios in die Höhe. Fischerkähne furchen das Haff; Dampfboote ziehen vorüber, unendliche Schaaren von Vögeln beleben die Luft. Selbst die vernichtende Düne blickt nach dieser Scenerie, wenngleich mit den Blicken der Medusa.
Auf der Seeseite aber ist diese ganze Welt mit einem Male versunken. Nichts als die unbelebte Meeresfläche, meist von der Vordüne verdeckt; die unabsehbare Dünenkette, form-, gestaltlos, in ewig denselben Linien, deren Charakter die Negation ist; dazwischen die vollkommen einförmige Grasebene, die „Palwe", deren Leben nur in den Triebsandflächen besteht, darin der Wanderer versinkt. Kein Mensch wird sichtbar, kein Hausthier, wie viele Stunden man auch zurücklegt. Vielleicht tritt ein Weidenbaum auf; es folgt später ein zweiter, ein dritter; das ist Alles. Auf der stundenlangen Wanderung habe ich einen Hasen dicht vor meinen Füßen aufgescheucht; später kreuzten zwei Schwalben meinen Pfad; ich blieb in der meilenweiten Ferne das einzige lebende Wesen.
Es wehte der Wind von Osten her, aber unten im Schutze des Dünenwalles war es stille. Nur dann und wann huschte ein Sandschleier den Abhang hinab. Weiter oben schien der Wind den Berg zerstäuben zu wollen. Die Sandabhänge hatten nirgends mehr den gelben, warmen Farbenton. Bläulichweiß schienen selbst die nächsten Flächen, immer schleier- und gazeartig, ein Mittelding zwischen Luft und Erde. Denn der Wind duldete nirgends eine dauernde feste Oberfläche. So bekamen die Berge den Anblick von Gespenstern, die durch die Luft schwebten. Jede Vorstellung der Entfernung ging dabei verloren. Ein Berg vor mir schien stundenfern, und doch hatte ich ihn in wenig Minuten erreicht. Aber eben so schnell versank er hinter mir. Trotz des langsamen Schreitens hatte ich daher die schwindelnde Vorstellung einer überschnellen Bewegung.
Ich kann es nicht genug betonen, daß an die Erscheinungen der Nehrung der Maßstab des sonst Gesehenen nicht gelegt werden darf. Es ist eine vollkommen andere Welt. Wir erhalten erst hier eine Vorstellung von Einsamkeit und Wüste.
Man stelle sich irgend eine bekannte Stelle der Heimath vor und denke sich rings einen Kreis von mehreren Meilen Durchmesser, in welchem jedes Leben, an dessen erwärmende Spuren wir uns gewöhnt haben, schweigt. Wir vermögen dem grauenvollen Gedanken kaum zu folgen. Auf der Nehrung treten aber zu der meilenlangen Sandwüste noch die beiden Meere und schließen sie von beiden Seiten ein.
Zuletzt konnte ich den Anblick länger nicht ertragen; ich stieg die Düne hinan, welche, wie überall im Westen, zwar nur mäßig steil ist, aber doch bis zur Erschöpfung ermüdet. Bis etwa fünfzig Fuß hoch über der Palwe fand ich eine Menge faustgroßer Steine, welche nicht vom Winde hinaufgetrieben, sondern wahrscheinlich von Urbewohnern hieher gebracht worden sind. Überall ragte, oft in seltsamen, zackigen Formen, der alte Waldboden aus den Sandflächen, wie dunkle Felsgrate aus einem Schneefelde. Auf diesem Boden hat einst ein üppiger Laubwald gestanden; dann hat die von der See eindringende Düne ihn verschüttet; und jetzt, da sie weiter wandert, wird auch der Waldboden mit seinen Stubben und Wurzeln wieder bloßgelegt. Eine Weile schützt die harte Humuskruste die darunter befindliche alte Düne, — dann wird auch sie von den fliegenden Sandkörnern zerrieben, die alte Düne erwacht, beginnt zu leben und folgt im Sandfluge der schon weiter gewanderten neuen Düne.
Ich hatte zufällig die höchste Kuppe der Nehrung erreicht, 189 Fuß über der See. So heftig war der Wind hier oben, daß der fortgetriebene Sandstrom mich nur bis zum Gürtel umfloß. Dann und wann hob er sich und trieb mir die Körner gleich Stecknadeln in das Gesicht. Die Wirkung des Südostes auf den Sturzabhang war eine sehr starke. Ganze Wolken Sandes jagten in einem Husch den Abhang hinauf. Der trockene Sand war längst fortgetrieben; nur der zusammengebackene feuchte leistete Widerstand, wurde aber nicht bloß von dem Winde schnell getrocknet, sondern auch von den fliegenden Körnern mitgerissen. Das Haff, lebhaft bewegt, erschien in dem hellen Sonnenlicht wie ein Meer von Gold. Die Mainsche Küste war nicht sichtbar. Aber die Dünenkette lag in geisterhafter Helle rauchend und dampfend vor mir und verlor sich in dem Dufte des Horizontes. Ich erblickte zu meiner Rechten unten Kreuze, den Pillkoppener Kirchhof, und stieg den Abhang hinab. Der feuchte Sand nahm den Eindruck der Füße auf, ohne hinab zu rutschen, der fliegende trockene Sand aber füllte die Spuren schnell wieder aus. Nach wenigen Minuten befand ich mich in einer Scenerie, die selbst auf der Nehrung ihres Gleichen nicht hat.
Ein mächtiger länglicher Cirkus wird von der Hauptdüne, welche sich im leicht geschwungenen Bogen westlich hinzieht, und einer kleineren Düne gebildet, die uns den Anblick des Haffs entzieht. Es schieben sich auch im Süden und Norden Ausläufer vor, so daß wir uns rings eingeschlossen finden von starrenden Sandwänden und sandigen Abhängen. In der Mitte dieses Dünenthales erhebt sich ganz frei, mit etwa zwanzig Fuß hohen, fast senkrechten Wänden, ein Hügel, der an ähnliche Bildungen in Sandstein- und Kalkgebirgen erinnert und in dem Centrum des Kesselthales so isolirt dasteht, wie die Erhöhungen inmitten der Ringgebirge des Mondes. Dieser rings von den Winden angegriffene, zerbröckelnde Hügel trägt oben auf seiner Fläche den Kirchhof des Dorfes Pillkoppen. Etwa ein Dutzend Kreuze und Denkmäler ragen weit in die Luft, umgrünt von bläulichem Elymus und Arundo, den einzigen Pflanzen, welche ihr Leben in dem Sande fristen. Kaum ist ein Grab erkennbar. Der Wind hat den aufgeworfenen Hügel nach kurzem Bestehen verweht, dem Boden gleich gemacht. Nur die Denkmäler deuten die Ruhestätte der Menschen an. Und welche seltsame Denkmäler! Immer sind sie ganz roh aus Holz geschnitten, manche mit zierlichen Schnitzereien versehen; die Buchstaben mit einem Messer in die Tafeln geritzt. Einige erheben sich kaum über den Boden, andere ragen weit über Menschenhöhe hinaus, aus rohen Holzpfählen bestehend, mit einer Tafel oder einem Kreuze. Zuweilen ist über den Kreuzesstamm bloß ein Querholz genagelt, ohne Inschrift, ohne Verzierung. Keines der Denkmäler steht gerade; der Sturm hat sie in dem lockern Boden geneigt, viele umgebrochen. Das erschrecklichste war aber die schnelle Verwitterung, welcher diese Kreuze ausgesetzt sind. Die ältesten, welche ich fand, vom Jahre 1856 waren während ihres zwölfjährigen Bestehens beinahe ganz zerfressen; aber selbst die nur wenige Monate alten erschienen — wenn ich es so sagen darf — wie junge Greise, ergraut, mit tiefen Furchen. Jedes Ding scheint uns hier gemahnen zu wollen, daß wir uns im Gebiete des Todes befinden. Alles was der Mensch hinein verpflanzt in diese Welt des Sandes, verkommt, löst sich in kurzer Zeit in die Atome auf. Wie das Leben das Leben verzehrt, so duldet der Tod selbst das Todte nicht neben sich. — [...]

Der Begräbnißhügel ist derselbe, welchen schon die Bewohner Neu-Pillkoppens benutzten. Jachmann berichtet, daß sie früher einen andern Begräbnißplatz gehabt, der aber so vom Sande bedeckt wurde, daß man nicht mehr seine Stelle zu bezeichnen vermochte. Als sie diesen neuen Kirchhof anlegten, stand hier noch ein freundlicher Wald, „die jetzt so gefährlichen Berge waren mit Bäumen bepflanzt, der Boden reichlich mit Gras benarbt, von einer unglaublichen Menge Erdbeeren prangend, und der Wald durch einen starken Rothwildstand belebt." Der Gastwirth Blöde in Nidden erzählte mir, wie er als Kind hierhin oft nach Erdbeeren gegangen. Jachmann fand (1825) „nur noch einige Morgen ganz lichten Kiefernbestand — das Holz, welches nach der Behauptung der älteren Einwohner etwa neunzig Jahre alt sein sollte — schwach, und im Nordwesten wo es an die Berge grenzt, bis am Wipfel versandet." Die Einsassen, im Bewußtsein des drohenden Verderbens, mißbrauchten die ihnen anvertraute Beaufsichtigung dieses „Bannwaldes" nicht, und erlaubten sich nicht einmal ganz vertrocknete Stämme abzuhauen. Als einziges Überbleibsel dieses Waldes steht südwestlich von dem Kirchhofshügel, zur Hälfte in dem herabrieselnden Sande der Sturzdüne vergraben, eine einzige Kiefer und sieht ihrem langsamen Tode entgegen. Bläulich fällt der Schatten ihrer Krone auf den gelben Sand. Aber auch der Hügel selbst wird in wenigen Jahren verschwunden sein. Die vorherrschenden Südwinde des heißen Sommers 1868 haben ihm mehr geschadet als jahrelange Stürme von Westen her. Sie haben emsig an dem steilen Abhange gewühlt und manchen Todten aus seiner Ruhe gerissen; denn rings liegt es voll von Knochen, die aus den seitwärts geöffneten Gräbern gefallen sind und nun im Regen und Sonnenschein schnell ausgelaugt und gebleicht werden. So stehen hier auch die Todten auf, und sie mögen nächtlich ihre über die Sandflächen gewehten Gebeine zusammensuchen, und ihre Tänze aufführen, gleich dem „Sturmnarren", der nach dem Glauben der Indianer über die Dünen des Obern-See's in Nordamerika tanzt. Ich weiß nicht, wie die Scenerie dieses Kirchhofes und seiner Umgebung sich darstellen mag, wenn der Sturm über die Berge zieht, der Kirchhof ruhig im Grunde liegt, und der Mond zuweilen hinter den flatternden Wolken hervortritt. Ich habe ihn im strahlenden Sonnenlichte gesehen, das grell von der glühenden Sturzdüne reflektirt wurde und darüber den Himmel in einem so unerhörten Lichtblau, daß die größten Farbeneffekte Hildebrands dagegen matt und abgeschwächt erschienen. Selbst der Himmel Südeuropas kann mit dieser Erscheinung nicht wetteifern.
Ich wanderte weiter am Fuße der Düne auf der Ostseite, die hie und da einen Ausläufer nach dem Haffe zu sendet und die Ebene ganz mit Sand bedeckt hat. Kein Leben, kein Ton in der Stille, nicht einmal eine Möve.

Auf der ganzen Nehrung geben sich die Bewohner gerne dem Krähenfange hin und müssen es sich dafür gefallen lassen, als „Krähenfresser" verschrieen zu werden, während ihren Genossen auf der andern Seite des Haffs von den reichen Bewohnern der Niederung die Bezeichnung púkiu skrándei, Kaulbarschpelze, zu Theil geworden ist. Seit ich aber weiß, daß Krähen auch auf Bornholm gefangen werden und daß ihr Fleisch dem junger Hühner gleicht, glaube ich, daß die Lacher auf der Seite der Krähenesser sein dürfen.
Der Fang der Krähen geschieht in folgender Art. Es wird auf der Haide ein langes Zugnetz ausgebreitet und an einer der beiden Langseiten mit Pflöcken an dem Boden befestigt. Die beiden schmalen Seiten werden durch Stangen ausgespannt. Es gehen von diesen schmalen Netzenden Taue aus, welche an dem einen Ende an einem Pfahl befestigt sind. An der andern Seite laufen die Taue in eine aus Fichtenzweigen gebildete Hütte, in welcher sich der Vogelfänger befindet. Auf das ausgebreitete Netz werden als Köder Fische geschüttet, oder im weitern Verlaufe des Fanges, neben diesem Köder auch Krähen angebunden. Sobald die ziehenden Krähen sich auf die Fische niederlassen oder zu den gefesselten Genossen gesellen, zieht der Fänger in seiner Hütte die Stricke mit einem starken Ruck an; die an den Enden befindlichen Stangen bewirken, daß sich das Netz, seiner ganzen Länge nach, erhebt, überschlägt und die überraschten Krähen bedeckt. Auf diese Weise fangen sie an einem Tage nicht blos eine große Zahl von Krähen, oft zwei Schock und mehr, es kommt auch vor, daß Adler sich auf das Netz niederlassen und in die Hände des „vielbegabten" Menschen fallen.
Wir saßen vor der Thüre neben einem Mörser von Eisen, den Niddener Fischer von einem gestrandeten Schiffe geborgen und für den Düneninspektor in Kranz hieher gebracht hatten. Vor uns stand ein mächtiger Haufen Rohr, welches zum Decken des Wohnhauses bestimmt war. Bevor ein „Gang" ganz vollendet worden, war der Decker vom Dache gestürzt und hatte die Arbeit einstellen müssen. Plötzlich ertönte durch die stille Luft des Abends ein Krach, wie wenn in weiter Ferne eine Kanone abgeschossen würde. Mein Wirth sagte, es gebe an Sommerabenden, wenn See und Haff ganz ruhig, oft einen solchen „Rucken," er wußte ihn mir aber nicht zu erklären. Ich glaube er rührte von einer Schaar ziehender Vögel her, welche bei plötzlicher Schwenkung diesen seltsamen Laut erzeugen. Es kamen andere Personen hinzu; es handelte sich um einen Pferdekauf. Ob Diplomaten im Stande sind, eine größere Schlauheit zu offenbaren, als diese einfachen Fischer, wird mir immer fraglich bleiben. Meine Wirthin schälte mittlerweile die für mich bestimmten Kartoffeln und betheiligte sich lebhaft bei den diplomatischen Verhandlungen. Es wurde dunkler. Vögel liefen geschäftig am Haffstrande hin und her und achteten kaum der Wellen, welche von dem stärker werdenden Südwind über die Sandbänke und Zungen geweht wurden. Farblos, fast unkörperlich lag Land und Wasser, Himmel und Sand vor mir. Ich hatte die Empfindung, es könne über diese Einsamkeit die Sonne nicht wieder aufgehen. [...]

Von allen Dünenbergen der Kurischen Nehrung kommt keiner an Schönheit und Charakter dem schwarzen Berge gleich. Er steht nicht bloß einsam und majestätisch da wie ein König, er erfreut auch durch die unsagbare Feinheit seiner Linien, die mit nichts besser zu vergleichen, als mit den Formen einer antiken Statue. Der Sand duldet keine scharfen, gebrochenen Linien. Nur wenn er naß ist, kommt es zur Bildung von Spitzen und Kanten, die zuweilen an Felsen erinnern. Indem er überall einfließt, ausgleicht, vermittelt, sind ihm recht eigentlich die weichen Formen nothwendig. Dennoch darf man die Gebilde des Sandes keineswegs einförmig oder charakterlos nennen. Schon das allmähliche Aussteigen der Dünen aus der Westseite und der plötzliche Absturz im Osten bilden einen stets neuen, überraschenden Gegensatz, einen Klimax und Antiklimax. Ich möchte dieses rhythmische Auf- und Niedersteigen am ehesten mit dem melodischen Leben des Pentameters vergleichen. Meist erscheinen die Flüchen monoton, durch nichts unterbrochen, aber beim aufmerksamen Betrachten tritt ein reizendes Wellenspiel vor das Auge, ein oft unmerkliches Auf- und Niederwallen, das der Ausdruck eines feingeistigen inneren Lebens scheint. Was die Maler Modulation nennen, die Unterscheidung von Höhe und Vertiefung, Licht und Schatten, — nicht durch bestimmte Flächen — sondern durch ein oft unmerkliches Abstimmen, Abtönen der Lichter und Schatten, kann vielleicht nirgends mehr empfunden, gelernt werden, als bei den Dünen. Auch bilden die Flächen nicht immer eine ununterbrochene Ebene. Wie auf der Wasserwelle ein zweites Leben sich entwickelt: die kleinen Wellen und Wellchen, welche sich kräuseln, entstehen und vergehen, so überzieht oft ein seltsames erstarrtes Wellennetz die öden Flächen und deutet das Leben dieser Welt des Sandes an. Gegenwärtig und doch der Vergangenheit angehörig, ein Resultat des letzten Wehens, das über diese Sandwogen gegangen, erscheint uns dieses erstarrte Leben so grauenvoll wie das Antlitz einer Medusa, so ertödtend wie ihr kaltes Lächeln. Der nächste Wind, der aus einer andern Richtung weht, wird diese Wellen auflösen, zerstören, die Körner in alle Winde streuen. Aber bis dahin bleiben sie, fest und unbeweglich, mit dem lebenhöhnenden Ausdruck der marmornen Todtenmaske. Auch an Farben sind diese Bildungen nicht arm. Wohl geht durch diese Sandflur ein einziger Ton, der im Schatten bläulich, in den Mitteltönen graulichgelb, im Sonnenlichte hellgelb, fast goldig erscheint; aber mit jeder leisesten Luft- und Lichtveränderung wandelt sich die Farbe. Während der Sand von jeder Lichteinwirkung so abhängig bleibt wie das Wasser, bewahrt er zugleich sein individuelles Leben, seinen „Lokalton", und erscheint uns darum in einem unbegreiflichen und seltsamen Doppelleben. Ich möchte daher sagen, ich habe bei den Dünen noch niemals eine oder die andere Farbe in gleicher Wiederholung gesehen. Auch bei wochenlangem Aufenthalte und in den verschiedenen Jahreszeiten findet man diese Welt ewig sich wandelnd und immer überraschend neu, wie das ebenso vielgestaltige Meer, das die Griechen ihre Sage vom Proteus erfinden ließ. Ich müßte die ganze Skala der Farben-Töne und -Stimmungen erschöpfen, wollte ich eine Vorstellung geben von diesem Leben der Düne, deren Schatten Licht sind, während ihre Lichter oft nur einen Augenreiz hervorrufen. Vielleicht genügt es, wenn ich später einzelne Erscheinungen, als Beispiele gleichsam, vorführe. Der schwarze Berg, dessen Namen ich mir nicht zu erklären vermag, da die helle, fast strahlende Erscheinung diese Bezeichnung nicht rechtfertigt, weshalb ich eher an das slavische czarny (schwarz) denken möchte, das bei den Littauern für „Zauber" vorkommt — dieser Berg trägt nicht bloß alle jene seltsamen Farben Phänomene zur Schau, er stellt auch jene Form dar, welche ich für die den Dünen am meisten charakteristische ansehe. Zwar kommen hier die verschiedensten vor, vom abgeflachten Hügel bis zur Kette und zum monotonen Wall; es herrscht allerdings die Kuppe vor; aber zuweilen bringt es der Sand auch zu Bildungen, zu Spitzen, die ein Alpenbewohner unbedenklich als „Hörner" bezeichnen würde. Zumal dann, wenn wir in der Richtung einer scharfen Kante blicken — und eine solche ist bei allen Sturzdünen vorhanden — verläuft und gipfelt dieselbe schließlich in einem solchen Hörne. Wenn aber ein Dünenberg isolirt auf einer weiten Fläche steht, wie der schwarze Berg, so werden von dem herrschenden Westwinde seine beiden Flanken stärker getroffen und der Sand an ihnen schneller fortgeweht als sein Rücken. Dort dürfen die Körner einfach nur vorwärts eilen, hier aber werden sie erst den ganzen Rücken hinaufgetrieben, was eine bei weitem größere Kraft des Windes voraussetzt. Die Flanken müssen sich also schon bei einem schwächeren Winde weiter bewegen, während der Rücken des Berges noch in Ruhe verharrt. Es werden sich also nothwendig — immer in der Richtung des herrschenden (West-) Windes — zwei Flügel vorschieben, die der Hauptmasse des Berges vorauseilen, ohne sich von ihm loszulösen. Mit dem Hauptkörper zusammen werden sie aber eine cirkusartige Vertiefung bilden, die man am ehesten mit den Sitzreihen eines offenen antiken Theaters vergleichen könnte. Da nun die der Hauptwindesrichtung abgewandte (östliche) Seite eines Dünenberges zur Sturzdüne werden muß, weil die vom Winde über den Gipfel des Berges geführten Sandkörner hier, wo die Kraft des Windes sofort nachläßt, nur ihrem Gewichte folgend, hinabrieseln, also einen vollkommnen gleichen Abhang bilden, und die beiden vorgeschobenen Flanken sich diesem Abstürze unmittelbar anschließen, so besteht ein solcher Dünencirkus immer aus einer rings steil abfallenden Fläche. Dieses Gesetz der Bildung bleibt dasselbe und immer erkennbar, obwohl der ganze Berg sich in einer dauernden, vorschreitenden Bewegung befindet. Es ist denkbar, daß der eine Flügel sich einmal schneller vorschiebt als der andere, sich wohl gar von der Hauptmasse loslöst und nun auf eigene Hand hastig weiter eilt, — und als einen solchen losgelösten Flügel möchte ich den flachen Dünenhügel ansehen, welcher sich gegenwärtig östlich von dem schwarzen Berge befindet, — in den meisten Fällen wird der ganze Berg aber in geschlossener Ordnung wandern. Ruhig schiebt sich die Masse weiter; und wie gleichmäßig dieses geschieht, erkennt man daran, daß der untere Saum des Cirkus eine stete scharfe Grenze gegen den frischen Rasen bildet, über welchen die Düne wandelt. Man glaubt kein Spiel des Windes, sondern ein mathematisch konstruirtes Menschenwerk zu sehen. — Bei vielen dieser Dünenberge hat sich in der Mitte des Cirkus, wahrscheinlich von dem Drucke, welchen der Berg auf den Sandboden ausübt, ein Teich gebildet, von Schilf umkränzt, die gefährlichsten Triebsandstellen bildend, sobald das Wasser verdunstet. In diesen Teichen spiegeln sich die hellen Abhänge und erzeugen ein sonderbares Doppelbild. Das Schicksal des schwarzen Berges ist unschwer zu erkennen. Er wandert wie alle Sturzdünen, zwar nur langsam, aber er nähert sich mehr und mehr dem Haff, von dem er nur noch wenige hundert Fuß entfernt ist, und wird sich einst in ihm ertränken, wie die Berge vor ihm, wie die ganze Dünenkette, die dem Untergange geweiht ist. Dann werden auch die Weidenbäume der alten Memeler Straße wieder zum Vorschein kommen, welche der schwarze Berg begraben, und von denen noch ein paar an seinem südöstlichen Fuße stehen geblieben sind, zwei noch freundlich grünend, der dritte aber vertrocknet und der vierte im Sande vergraben. Von der anhaltenden Hitze hatte sich über dem lockern Sande eine Kruste gebildet, welche zuweilen von dem Fuße zerbrochen wurde. Auch auf dem Schnee kommt eine solche Kruste vor, als Produkt starker Kälte. Leicht ließ sich der schwarze Berg vom Rücken aus ersteigen. Wohl befindet sich der Wanderer nur 170 Fuß über dem Niveau der See; aber nicht die Dinge an sich bestimmen den Eindruck, sondern die Vorstellung von ihnen, und der Fremde wird sich mit eigentümlichen Empfindungen vergegenwärtigen, daß diese Masse, darauf er steht, aus unzähligen Sandkörnern, also aus Individuen besteht, welche aus dem Meere aufgetaucht, weiter gewandert, sich aneinander geschlossen und endlich diesen Berg gebildet haben. Ein jedes dieser Körner ist eine Stunde lang gewandert, hat Flügel gehabt, ist von der Luft davongetragen und nach kurzem Leben zu Boden gefallen und von den nachfolgenden Genossen begraben worden. So ruht es Jahre lang, erst dicht unter der Oberfläche, dann weiter, tief im Schooße des Berges. Aber wie die Jahre verrinnen, nähert es sich mehr und mehr seiner Auferstehung auf der andern Seite des Berges. Es fällt die Hülle. Der Wind stürzt in den Berg. Wieder das kurze Traumleben. — An dieses Schicksal eines Sandkornes wird der Wanderer gemahnt, wenn er auf der Gipfelkante steht und den Blick rings um sich schweifen läßt. Dort ein Meer, hier das andere. Ein reiches Fruchtland ringsum bedroht von Unholden, die in dem glühenden Nebelduft verschleiert, verschwommen daliegen. Die nächste Nähe wird zur Ferne.

DAS ANDERE BUCH: DAS ANDERE KAPITEL
Ein Teil von der höchst beschwerlichen und gefährlichen Schiffahrt

Als nun alle Sachen in gute Bereitschaft gebracht, reisten die Herren Gesandten mit ihrem bei sich habenden Volk den 22. Octobris des Jahres 1635 aus Hamburg in guter Ordnung ab und kamen den 24. dieses in Lübeck an, woselbst sie zwei Tage stillelagen, bis unser Zeug und Gerät nebenst zwölf Reitpferden zu Travemünde ins Schiff gebracht. Den 27. dieses folgten die Herren Gesandten, und bis zum Mittag war das meiste Volk zu Schiff gebracht. Unser Schiff war ganz neu und niemals unter Segel gewesen.
Als wir das Schiff vom Lande abstießen und aus dem Hafen bringen wollten, ergoß sich aus der See in die Trave ein sehr starker und ungewöhnlicher Strom, obwohl der Wind vom Land zur See stand, darob sich auch etliche Schiffer verwunderten, daß also unser Schiff an zwei andere damals im Hafen liegende große Schiffe nicht ohne Beschädigung derselben getrieben und sich in ihnen verfing, daß man über drei Stunden große Mühe und Arbeit hatte, ehe man’s frei machen und aus dem Hafen auf die Reede bringen konnte. Unser etliche hielten dies für ein böses Vorzeichen unserer angehenden Schiffahrt, wie es auch der betrübte Ausgang hernach leider genug bezeugt hat.
Den folgenden Tag, als den 28. Octobris, frühe um fünf Uhr, gingen wir nach abgehaltener Betstunde in Gottes Namen unter Segel mit Westsüdwestwind, welcher gegen Mittag ziemlich stark auffrischte und endlich in einen Sturm auslief und so die ganze Nacht durch währte. Da merkte man alsbald, daß die meisten unserer Schiffsleute in der Wissenschaft von der Seefahrt so alt und geübt waren wie das Schiff, welches zum ersten Male mit uns in die See lief, und es war ein großes Wunder, daß der Mast, welcher wegen der neuen Taue sehr gefährlich schwankte, nicht gleich den ersten Tag über Bord ging.
Den 29. dieses in der Nacht kamen wir der dänemarkischen Küste allzu nahe, welche der Steuermann zuerst für die Insel Bornholm angesehen und unsere Fahrt gleich auf den Strand von Schonen gerichtet hatte. Wir wären auch bald unter Schiffs- und Lebensgefahr darauf zu sitzen gekommen (sintemal wir schon vier Faden über Grund waren), wenn nicht der angehende Tag das Land uns entdeckt und wir unsern Kurs im Augenblick geändert hätten. Um neun Uhr hatten wir die Insel Bornholm auf der rechten Seite.
Weil es diesen Tag anfänglich etwas gelinde kühlte, gaben wir dem Winde alle Segel. Auf den Abend aber um zehn Uhr, als wir an keine Gefahr dachten, vermeinten wir das Ungemach der vorigen ungestümen Nacht durch sanfte Ruhe ersetzen zu können, gleich dem Gesandten Brüggemann, der wegen der flatternden Segel vermutete, daß an der Fahrt etwas unrichtig sei, und den Steuermann zu guter Aufmerksamkeit ermahnte. Als der uns mit dem Vorwand, daß wir die offene See vor uns hätten, nur noch sicherer machte, liefen wir mit vollen Segeln auf eine unsichtbare, jedoch platte Klippe und blieben sitzen. Das grausame Gerausche und Krachen des Schiffes erweckte unter uns eine solche Bestürzung und Angst, daß wir alle vermeinten, hier würde unsere Schiffahrt und mit derselben unser Leben ihr Ende finden. Wir wußten anfänglich nicht, in welcher Gegend wir uns befanden. Es war grade zur Zeit des Neumonds, da die finstere Nacht nicht zuließ, auch nur des Schiffes Länge zu sehen. Und obgleich wir durch eine ausgehängte Leuchte und etliche Musketenschüsse, sofern wir Land und Leuten nahe wären, um Hilfe riefen, wollte sich doch anfänglich nichts zur Antwort und uns zum Trost hören lassen. Das Schiff begann sich auf die Seite zu legen. Da erhob sich unter klein und groß ein groß Jammern, Winseln und Wehklagen. Viele unter uns fielen in großer Todesangst auf die Knie und Angesichter, schrien und riefen inbrünstig zu Gott um Hilfe und Errettung. Der Schiffer selbst weinte wie ein Kind, stand bestürzt und wußte keinen Rat mehr. Ich und mein Freund, Hartmann Gramann, hatten ausgemacht, wenn’s ja zum Schiffbruch kommen sollte, wollten wir als alte Vertraute einander in die Arme schließen und also sterben. Wir setzten uns deswegen zusammen und erwarteten unsern Untergang. Andere gute Freunde nahmen voneinander Abschied. Die meisten taten Gelübde zu Gott, gaben und verhießen jeglicher nach Vermögen, wenn sie errettet würden, ein Gewisses an die Armen zu geben, welches auch hernach gehalten ward, indem von solchen gelobten und verehrten Geldern zu Reval ein armes und frommes Kind seine Aussteuer zur Heirat bekam. Auch war auf dem Schiff sehr kläglich anzusehen, wie des Gesandten Crusii Söhnlein, Johann Philipp, ein Knabe von neun Jahren, auf den Knien lag und gen Himmel mit erhobenen Händen ohne Aufhören überlaut rief: Ach, du Sohn David, erbarme dich mein. Unser Feldprediger darauf: Herr, willst du uns nicht erhören, so erhöre doch dies unschuldige Kind! - Gott gab Gnade, daß das Schiff, obwohl es durch die hohen Wellen auf der Klippe arg hin und her rollte, bisweilen erhoben wurde und wieder niederfiel und also einen Stoß nach dem andern bekam, dennoch ganz blieb und wir darinnen erhalten wurden. Wenn dann bisweilen eine solche Bö oder gewaltiger Stoßwind kam und eine See oder Welle nach der andern auf uns einstürzte, erneuerte sich allemal das Jammergeschrei, weil wir glaubten, nun wäre es um uns geschehen.
Um ein Uhr sahen wir nicht fern von uns ein Feuer aufflammen, an welchem wir merkten, daß wir dem Lande nah sein mußten. Deswegen ließen die Gesandten das Schiffsboot lösen und aufs Wasser bringen, in der Absicht, dem Feuer nachzufahren und sich mit einem Diener zuerst aufs Land zu retten und zu sehen, ob sie Mittel fänden, uns auch nachzuholen. Die Schatullen oder Reisekästlein, in welchen die fürstlichen Beglaubigungsschreiben samt andern kostbaren Kleinodien, waren kaum hineingesetzt und zwei von unsern Dienstleuten, welche vor den andern das Leben zu erretten gedachten, hineingesprungen, da schlugen die Wellen das Boot voll Wasser, daß es zu sinken begann, hernach gar umschlug und sich losriß und die Dienstlente, welche schon pfützenaß, unter Lebensgefahr kaum wieder aufs Schiff klettern konnten. Wir mußten also zusammen die ganze Nacht in der Gefahr, in Furcht und Hoffnung aushalten.
Als gegen Morgen der Himmel begann hell zu werden, begann auch unser Schrecken und Furcht mit der finstern Nacht zu vergehen. Dann wurden wir gewahr, daß wir vor der Insel Öland saßen. Nahe bei uns lag ein Stück von einem dänemarkischen Schiff, welches vor vier Wochen auch allda untergegangen. Wir fanden auch auf der Insel einen Knaben, so aus dem Schiffbruch entronnen, welchen wir mit nach Kalmar nahmen.
Als bei Aufgang der Sonne der Wind etwas nachließ und die Wellen sich gelegt, kamen zwei öländische Fischer mit kleinen Booten an unser Schiff, welche auf Zusage großer begehrter Geschenke die Gesandten und hernach unser etliche ans Land setzten. Gegen Mittag fanden sich der Herren Schatullen, welche die See ausgespien, am Strande wieder. Hernach kamen auch etliche öländische Bauern uns zu Hilfe, um das Schiff von den Klippen wieder zu befreien. Der Schiffer befahl, zwei Anker ungefähr vierzig Faden hinter dem Schiff auszubringen. Als nun die Bauern, nebst den Bootsleuten ihrer zehn, den großen Anker auf dem Schiffsboot hinführen und auswerfen wollten, wurde er ihnen unversehens, vielleicht weil ihre Häupter vom Trunk, welchen wir ihnen zum Willkommen mit milder Hand gaben, zu schwer, so daß das Boot umschlug und sie alle erbärmlich in der See herumschwammen. Etliche ergriffen das kieloben treibende Boot, etliche die Ruder und hielten sich so lang daran fest, bis unser Steuermann mit einem ihrer Fischerboote, so am Schiffe lagen, ihnen zu Hilfe kam und sie auffischte, bis auf einen, nämlich den Schiffszimmermann, welcher, weil er nichts ergreifen konnte, vor unsern Augen untergehen und ersaufen mußte. Ein Bauer, groß und stark von Gestalt, der mit dem Anker nicht hinaus wollte und bei uns im Schiff blieb, fuhr, als er dieses Unglück sah, mit seinem Fischerboot nach, erretten zu helfen. Als er nach einem Bootsmann, welcher hilflos herumschwamm, griff, fiel er selbst ins Wasser; der Bootsmann aber kletterte ins Boot und führte den Bauern, so sich am Boot festhielt, zum Schiff.
Indem man nun zu Werke war, das Schiff frei zu machen, stieg das Wasser zusehends, und der Wind, welcher sonst Südwest gewesen, kam aus Nordwest und half, das Schiff zur Seite zu drücken. Sobald dasselbe wieder auf Tiefe kam, lief der Wind wieder Südwest, mit welchem man auch hernach durch den Kalmer Sund gehen konnte, und zwar auch nicht ohne Gefahr wegen des bei der Kalmer Schanze liegenden flachen Grundes.
Kalmar ist die wichtigste Stadt in Smaland, vierzig Meilen von Kopenhagen an der See gelegen.
Von Kalmar wurden Johann Voigt und Steen Jensen wieder zurück durch Dänemark nach Gottorp geschickt, um neue Beglaubigungsschreiben, weil die vorigen in der See verdorben, zu holen.
Darauf ward beratschlagt, welches ratsamer, ob man ferner zur See oder über Land durch Schweden gehen sollte, und endlich um vielerlei Ursachen willen beschlossen, daß man einen erfahrenen Steuermann dem unsrigen zuordnen und es ferner über See wagen sollte. Weil aber zu Kalmar kein Steuermann zu finden, nahmen wir zwei Piloten, die uns den Weg auf eine halbe Meile durch die flachen Gründe weisen mußten, und gingen den 3. Novembris im Namen Gottes wieder unter Segel, kamen an einer großen, runden Klippe vorbei, die Schwedische Jungfer genannt, welche wir mitten im Wasser zur linken Hand liegenließen. Ihre Entfernung wird vom Kalmer Sund mit acht Meilen geschätzt. Gegen Mittag waren wir auf der Höhe von Schloß Borgholm auf Öland. Gegen Abend erreichten wir das Ende der Insel Öland und umliefen dieselbe diese Nacht mit einem so grausamen Sturm aus Nordost, daß das Vorderteil des Schiffes mehr unter als über dem Wasser lag und die Wellen bis an die Segel schlugen. Bei solchem Sturme ward auch die Schiffspumpe unklar, und man mußte dieselbe mit großer Mühe herauswinden und wieder gangbar machen, unterdessen das Wasser ausschöpfen und mit Kesseln ausgießen, was, weil niemand aufrecht im Schiffe stehen konnte, eine elende Arbeit war. Dieser Sturm währte bis zum Mittag. Gegen den Abend bekamen wir die große Insel Gotland in Sicht.

DAS DRITTE KAPITEL
Vom ferneren Verlauf unserer gefährlichen Schiffahrt

Den 5. Novembris, als wir an Gotland vorbei, erhob sich abermals ein großer Sturm aus Westsüdwest, daß eine See nach der andern über das Schiff ging. Am Abend um zehn Uhr warfen wir das Lot und fanden zwölf Faden. Und weil wir befürchteten, dem Lande zu nahe zu kommen, trieben wir die Nacht wieder zur Rechten in die See. An diesen Tagen konnten wir wegen immerwährenden Sturmes nur das Schönfahrsegel* führen.
Den 7. dieses auf den Abend um zehn Uhr begann der Wind sehr zu wüten, und ehe wir’s uns versahen, zerbrachen mit schrecklichem Krachen der große Mast samt dem Besanmast und schlugen über Bord und auf und über unsers Doktors Schlafstelle. Ein Bootsmann, welcher zu seinem Unglück auf dem Schiffsdeck stand, ward durch ein Tau niedergeschlagen, daß ihm das Blut aus Nase und Ohren lief und er sich auch nach dem dritten Tag kaum besinnen und aufrichten konnte; er konnte nicht berichten, wie ihm geschehen war, und mußte auch auf dem Hochland sein Leben aufgeben. Bei dem Sturz ward auch zugleich das Spill, das große, schwere Stück (vielleicht durch ein gespanntes Tau), herausgerissen. Und was am meisten verwunderlich, daß der Besanmast im Sturz die Kajüte ganz aufgerissen hatte, während das Nachthäuschen, in welchem die Kompasse standen, obschon der Besan dran festgemacht, unversehrt blieb - und das zu unserm großen Glück. Denn wenn die Kompasse wären zerschlagen worden, hätten wir nicht gewußt, wohin wir uns hätten wenden müssen.
Dieses Unglück erregte abermals großen Schrecken, Furcht und Weheklagen unter uns. Das Schiff rollte von einer Seite zur andern, daß wir so recht taumelten und wankten, wie die Trunkenen einer über den andern fiel, denn niemand konnte ohne Halt stehen, sitzen noch liegen. Der abgebrochene und noch an etlichen Tauen hängende Mast stieß grausam gegen das Schiff. Der Schiffer verhielt sich sehr übel, wollte die Takelage gerne erhalten, obwohl dem Schiffe von den harten Stößen große Gefahr drohte. Sie mußten deswegen auf der Gesandten ernstes Antreiben doch gekappt werden. Die Bootsleute beklagten und beweinten jammervoll ihren auf den Tod liegenden Mitgesellen. Wir brachten also abermals diese Nacht in großer Angst zu.
Mit dem anbrechenden Tag, als den 8. Novembris, sahen wir uns sehnlich nach dem Hafen von Reval um, hofften, diesen Tag den ungestümen Wellen zu entkommen und den Fuß im lang ersehnten Hafen aufs Land zu setzen, welches uns unserer Rechnung nach nicht unmöglich vorkam, wie denn der Gesandte Brüggemann vorigen Tags bereits Anordnung gegeben, in welcher Art und Pracht wir in Reval einziehen wollten. Aber unsere Hoffnung und Anordnung ward zu Wasser, das Land floh gleichsam vor uns und ward wieder verloren; wir wußten abermals nicht, wo wir waren. Und obschon wir annahmen, rechtzeitig unsern Kurs auf den Hafen gerichtet zu haben, waren wir doch in der Nacht allzusehr nach der linken Hand vom Land abgetrieben, so daß wir morgens die Höhe nicht wieder erreichen konnten. Und als gegen neun Uhr die Sonne ein wenig hervorkam, den Nebel verzehrte und uns wieder eine freie Sicht vergönnte, wurden wir gewahr, daß wir den Revalschen Hafen schon verfehlt. Dann erhob sich bei hellem Sonnenschein aus Südwest ein so schrecklicher und unerhörter Sturm gleich einem Erdbeben, als wenn er Himmel, Erde und See über einen Haufen stürzen wollte. Es sauste und brauste furchtbar in der Luft. Die wie hohe Berge aufgetürmten und schäumenden Wellen wüteten grausam ineinander. Das Schiff wurde von der See ständig gleichsam verschlungen und wieder ausgespien. Der Schiffer, ein alter Mann, wie auch etliche unseres Volks, welchen zuvor auf ost- und westindischen Schiffahrten manch saurer Wind unter die Augen gekommen, beteuerten, daß sie noch niemals solchen Sturm und Gefahr erlebt hätten.
Hier war guter Rat teuer. Wir gaben uns abermals verloren und fanden kein anderes Mittel, entweder dem Rat des Steuermanns zu folgen, beizulegen und gegenüber in die finnischen Schären oder Klippen zu laufen. Dabei mußten wir versuchen, die unsichtbaren Klippen (welche bei solchem Wetter „brennen“, wie sie es nennen, oder durch Rauschen ein Zeichen von sich geben) zu vermeiden und uns in den Hafen von Elsenfoss* in Finnland zu bergen. Oder Gott durch einen gnädigen Schiffbruch noch etliche auf die Felsen werfen zu lassen und am Leben zu erhalten; denn das zerbrochene Schiff konnte sich in der See nicht länger halten. Daher steckten etliche der Unsrigen was ihnen lieb war und sie getrauten mit fortzubringen, zu sich.
Der Gesandte Brüggemann öffnete seine Schatullen oder Reisekästlein, gab Erlaubnis, daß, wenn’s zum Schiffbruche kommen würde, jeglicher an Geld und Kleinodien etwas zu sich steckte, damit er, wo er aufs Land käme, desto besser fortkommen könnte.
Unser etliche fielen den Gesandten um den Hals mit der sehnlichen Bitte, daß sie, wo sie im Schiffbruch Hilfe tun konnten, uns nicht verlassen sollten, was sie auch versprachen. Wir segelten also zwischen Furcht und Hoffnung, Tod und Leben dahin. Und weil es ja allem Ansehen nach um unser Leben sollte getan sein, ergab sich zwar ein jeglicher darein und schickte sich zu sterben. Aber dennoch brach die natürliche Liebe zum Leben bei den meisten aus in ein Winseln und Wehklagen. Da hieß es: Aus der Tiefe ruf ich, Herr. Etliche saßen wie erstarrt, konnten vor Todesangst weder singen noch beten; seufzen war das beste. Einer tröstete den andern aus Erbarmen mit guter Hoffnung, an die er selbst nicht glaubte. Als unser Priester, welcher vor andern Mut faßte, im Gesang auf die Worte kam: Heut sind wir frisch, gesund und stark, morgen tot und liegen im Sarg, antwortete ein anderer: Ach! Diese Glückseligkeit kommt uns nicht zu, morgen schwimmen vielleicht unsere Körper um die Klippen. Und gleichwie wir erstlich unser Schiff und Güter gerne in die Schanze schlugen und nur ums bloße Leben baten, also vergaßen wir auch endlich unser Leben und baten nur um die Seligkeit. Wir hielten uns auch schon für tot und sahen aus wie die blassen Leichen. Als der Gesandte Crusius solche Bestürzung unter dem Volke sah, rief er: Laßt uns mit Gebeten fortfahren. Ich weiß, Gott wird uns helfen, mein Herz sagt mir’s. Unterdessen wuchs das Ungestüm mehr und mehr und trieb uns auch aus der Gegend dieses Hafens, denn das Schiff, weil es der wichtigsten Segel beraubt und sich nur der Fock bedienen konnte, wollte dem Steuermann nicht mehr gehorchen, sondern trieb vor dem Wind her in die Finnische See.
Da wußten wir abermals nicht, wo wir hin sollten. Dem Hauptbootsmann Jürgen Steffens fiel endlich ein, daß eine Insel, Hochland genannt, mitten in der See vor uns läge, vor der er schon gewesen und guten Ankergrund gefunden hätte, sie läge aber siebzehn Meilen vor Reval. Man müßte versuchen, ob man dieselbe erreichen und sich dahinter bergen könnte, welches er zu vollbringen vermeinte, wann man sie nur bei Tage zu Gesicht bekommen könnte. Jedoch war es in so kurzer Zeit, weil der Tag bereits halb verflossen, nicht wohl zu hoffen, fürnehmlich weil die Fock alleine das Schiff fortziehen mußte und es so den Wellen nicht entfliehen konnte. Deswegen schlug auch einmal, was ganz schrecklich war, eine ungeheure See von hinten über die Kajüte ins Schiff und deckte dasselbe ganz zu. Wir fielen von der Erschütterung übereinander, vermeinten, itzt würden wir untergehen. Wir mußten das Wasser, so häufig durch die zerbrochene Kajüte eindrang, in Eile wieder auspumpen und schöpfen, wurden also von immerwährendem Schrecken gepeinigt. Ungefähr um drei Uhr nachmittags stieg der eine Bootsmann in die Fockwanten, sich nach Land umzusehen. Und als er die Insel erblickte und rief: Gottlob, ich sehe Hochland, waren wir so hocherfreut, daß wir die Hände frohlockend emporhohen, vor Freude weinten und einander tröstlich wieder zuredeten: Nun hat Gott unser Schreien und Seufzen erhört, er will uns doch nicht verlassen, und fingen getrost an, das Te deum laudamus* zu singen. Glaubten, wir wären schon aus der Gefahr, obschon wir doch noch auf einem zerbrochenen Schiff mitten in den ungestümen Wellen schwebten, und wußten nicht, was für ein Unglück unser bei Hochland noch erwartete.
Mit Sonnenuntergang begann sich der Sturm zwar zu legen, aber das erzürnte Meer warf die Wellen noch immer sehr hoch. Wir stellten vier Personen vorn aufs Schiff, die Fahrt zur Insel, welche eine vor Hochland liegende Klippe gefährlich machte, wahrzunehmen und den Schiffer am Ruder zu warnen. Zu unserm Glück fing es an zu schneien - es war den ganzen Tag klares Wetter und Sonnenschein gewesen -, daher konnte man die Berge im schwarzen Wasser desto besser sehen. Kamen also den Abend um sieben Uhr unter Land und legten uns in einer kleinen Bucht, so gegen Ostnordost gelegen, bei neunzehn Faden Wasser vor Anker.
Diesen Abend nahmen wir wieder etwas Speise zu uns, denn wir hatten etliche Tage weder gegessen noch getrunken; beschlossen auch, hinfort auf der Reise täglich zweimal Betstunde abzuhalten und sonst zu bestimmten Zeiten mit Buß-, Bet- und Fasttagen Gott dem Herrn für die gnädige Hilfe und Errettung zu danken.
Den 9. dieses blieben wir bei gutem Wetter vor Anker liegen, flickten unser Schiff, so gut wir konnten. Am Abend beratschlagten wir mit dem Schiffer, wohin wir unsern Kurs ferner nehmen wollten. Die Gesandten hielten es für gut, vollends nach Narwa zu fahren; der Schiffer aber war dagegen und wollte lieber zurück nach Reval. Andere aber, in Betrachtung dessen, daß es mit einem zerbrochenen Schiff höchst gefährlich sein würde, in solchem Wetter und an solchen Orten weiterzusegeln, wollten lieber auf dieser Insel ausgesetzt und durch andere Gelegenheit, die man sich durch die livländischen Fischer, die damals vor Hochland lagen, von Reval aus hoffte verschaffen zu können, vollends ans feste Land gebracht werden. Es wurde aber nichts beschlossen, sondern man wollte bis zum nächsten Tag abwarten. Jeder legte sich also zur Ruhe nieder. Ungefähr um neun Uhr kam der Schiffer vor der Gesandten Lager, berichtete, daß der Wind nach Osten gedreht habe, also aufs Land zu; wir könnten deswegen nicht ohne Gefahr am selben Ort liegenbleiben. Er hielte es für das beste, daß man sich auf und wieder zurück nach Reval machte. Die Gesandten gaben ihm zur Antwort, er sollte es so machen, wie er’s gedächte vor Gott und der Welt zu verantworten. Als nun der Anker gelichtet, verwandelte sich der Wind in einen Sturm und trieb das Schiff immer stärker aufs Land zu, so daß keine Arbeit und Mühe, wie emsig sie auch betrieben wurde, um das Schiff abzuwenden, etwas verfangen wollte. Da erhob sich abermals ein großes Geschrei, und es wurde gerufen, daß, wer sein Leben erretten wollte, aufstehen und sich oben aufs Schiff begeben sollte, wir wären in großer Not. Es ließ sich alles zu einem gefährlichen Schiffbruch an. Wie uns da abermals zumute war, ist leicht zu erraten.
Man ließ zwar den Anker wieder fallen, aber das Schiff war schon allzu nahe an den Strand, ungefähr bis auf dreißig Faden, getrieben. Das Schiffsboot wurde in Eile aus- und die Gesandten zuerst an Land gesetzt, hernach etliche von uns. Mittlerweile erreichte das Schiff die großen Steine, von denen der ganze Strand bedeckt war, und stieß auf dieselben mit großem Ungestüm und Krachen, daß die übrigen im Schiff vermeinten, es würde gleich in kleine Stücke zerscheitern und sie alle müßten ersaufen. Und obwohl sie sehnlich begehrten, gleich den andern mit dem Boot an Land gesetzt zu werden, verweigerte es ihnen das Schiffsvolk, damit nicht die auf dem Schiff Zurückbleibenden Not leiden müßten, sollte das Boot etwa am Strand durch die Wellen auf den Steinen zerschlagen werden. Und um dieser Ursache willen fuhren sie mit dem Boot nur bis dicht an den Strand, und etliche von uns mußten bis an die Hüften ins Wasser steigen, daß wir zwischen den Steinen vollends herauswateten. Als ich im Wasser stand und des Gesandten Brüggemanns Schatulle, so von kostbaren Sachen ziemlich schwer war, zugleich mit hinausgeworfen wurde und die Wellen dieselbe wieder seewärts ziehen wollten, ergriff ich sie, wenn auch wegen einer frisch ausgestandenen großen Krankheit mit schwachen Händen. Unser Medicus aber erhaschte mich wiederum beim Rock, und so wurde einer vom andern aus den Wellen, welche oft über uns hinschlugen, ans Land gezogen. Als das Schiffsvolk sah, daß das Schiff nicht länger zu erhalten war, lösten sie das Ankertau in der Hoffnung, das Schiff würde näher ans Land gesetzt, also von den Wellen nicht mehr erhoben und auf den Grund gestoßen werden. Es half aber nichts, weil der Sturm zu heftig, sondern nachdem es eine ganze Stunde auf den Steinen gearbeitet hatte, zerbrach es und sank zu Grunde. Das restliche Volk wurde gleichwohl zuvor noch ausgesetzt.
Am selben Ort der Insel waren fünf Fischerhütten, in welchen livländische Bauern, die sich wegen ihrer Fischerei und des stets währenden Unwetters allda verspätet hatten. Bei diesen kehrten wir ein.
Wenn wir an einem andern Ort dieser Insel gestrandet wären, da wir diese Fischerhütten nicht sobald hätten erreichen oder finden können, hätten wir es diese Nacht, weil es sehr kalt, in unsern nassen Kleidern kaum aushalten können. Es fiel auch so viel Schnee, daß wir weder Weg noch Steg erkennen konnten. Wir kamen von ungefähr zu einer alten Kapelle, in welcher den vorigen Tag unser etliche gewesen und nach Vermögen etwas in den Gotteskasten gegeben hatten. Diese Kapelle, obzwar sie etwas weit von den Fischerhütten abgelegen, gab doch gute Nachricht vom rechten Weg zu denselben, weil wir ihn bereits einmal gegangen waren.
Den Morgen des andern Tages, als den 10. Novembris, gingen wir an den Strand, zu sehen, ob man an das Schiff herankommen und die Güter retten könnte. Die See aber wütete noch sehr heftig, daß keiner mit dem Boot sich hinwagen durfte.
Nachmittags, als der Wind und die Wellen sich etwas gelegt, bemühte man sich, die Pferde und andere Güter aus dem Wasser zu retten. Es wurden auch viele Güter samt sieben Pferden, und zwar die, so sich losreißen und die Köpfe über das Wasser hatten halten können, geborgen, von denen doch nur fünf leben blieben; die andern aber waren ertrunken.
Bei diesem Schiffbruch ging auch ein großes und kostbares Uhrwerk, so für ein besonderes Kunststück gehalten und auf etliche tausend Reichstaler geschätzt worden war, verloren. Die Pferde hatten’s samt dem Kasten in der Angst zerschlagen und zertreten. An den folgenden Tagen, weil gutes Wetter und Sonnenschein, trockneten wir unsere Kleider, Bücher und Geräte, welche vom Salzwasser teils häßlich zugerichtet, teils ganz verdorben waren.

DAS VIERTE KAPITEL
Wie wir vollends nach Livland hinüberkamen und in Reval einzogen

Allem Anschein nach sollten wir auf dieser Insel eine Zeitlang bleiben und wußten nicht, wann Gott Mittel schicken und uns erlösen würde. Auch befürchteten wir, daß wir bei angehendem Winter daselbst erfrieren und gar verhungern müßten (denn wie uns berichtet worden war, mußten vor wenigen Jahren etliche Leute und Bauern, so auch dahin verschlagen wurden und Schiffbruch erlitten hatten, um sich des Hungers zu erwehren, die Borke und Rinde von den Tannenbäumen essen). Wir mußten deswegen unsern Proviant, von dem ein geringer Vorrat, besonders Brot, so gerettet worden war, sparsam gebrauchen. Der aufgeweichte Zwieback, welcher sich nicht wollte wieder trocknen lassen, wurde mit Kümmel gekocht und mit Löffeln anstatt des Brotes gegessen; es kam etlichen der Unsrigen gar sauer vor. Einmal bekamen wir eine große Menge kleine Fische, Elritzen, die wir in einem aus dem Berge laufenden Bächlein mit Hemden und Bettüchern fingen. Mit denselben konnten wir zweimal unser Begleitvolk speisen.
Den 17. dieses ließen sich die Gesandten, jeder mit fünf Personen, in zwei kleinen Fischerbooten auch vollends ans feste Land, so von Hochland zwölf Meilen entfernt, übersetzen. Dies war auch eine elende und gefährliche Fahrt. Die Boote waren alt und oben nur mit Bast zusammengebunden und geflickt, besonders das, in welchem der Gesandte Crusius saß, so daß das Wasser an vielen Stellen eindrang und einer immer zuzustopfen und auszuschöpfen hatte. Die Segel waren aus alten Lumpen zusammengeflickt; die Leute konnten nichts als nur vorm Winde segeln; daher wollten sie auch wieder zurück nach Hochland kehren, als der Wind begann ein wenig umzulaufen, nachdem wir erst vor gutem gemächlichem Winde fünf Meilen gefahren. Weil wir aber eine kleine Insel nicht über eine halbe Meile weit vor uns sahen, hielten wir sie an, daß sie die Segel einnahmen und die Ruder gebrauchen mußten, und kamen auch auf den Abend daselbst wohl an. Auf der Insel fanden wir nichts als zwei leere Hütten, halb in die Erde gebaut; in denselben machten wir Feuer und blieben die Nacht über drinnen. Hier begann es an Brot zu mangeln, wir mußten deswegen an dessen Statt Parmesankäse, von dem wir noch ein großes Stück hatten, essen. Am Morgen fuhren wir mit guten und gelinden Winden, aber sehr hohlem Wasser wieder fort.
Als wir an die zwei Stunden gefahren, kam ohne alles Vermuten, da der Wind sonst aus Norden wehte, in einem Augenblick ein starker Wirbelwind von Osten, stieß auf des Gesandten Brüggemanns Boot, daß dasselbe sich ganz auf die Seite legte und Wasser zu schöpfen begann. Dann schlug eine starke Welle am Boot in die Höhe, daß das Wasser fast eine halbe Elle über der Bordwand stand. Die Bauern fingen an zu schreien, fielen auf die andere Seite des Bootes, rissen das Segel geschwind herunter und wandten das Boot in den Wind. Darauf ward es alsbald wieder still, so daß wir mit dem vorigen Wind wieder segeln konnten. Solcher Wirbel kam in zwei Stunden dreimal. Die Bauern aber, weil sie denselben hernach von fern kommen sahen, wandten das Boot darnach und ließen ihn darüber hinstreichen; das erstemal erschraken wir von Herzen. Und ich halte gänzlich dafür, daß dies die größte Gefahr gewesen, so wir zur See gehabt. Denn weil wir mitten in der See und unser Boot ziemlich schwer, weil es neben acht Personen mit der Gesandten Silbertafel und andern Gütern beladen und wenig Bord hatte, hätte es ein geringes gebraucht, um unterzugehen. Hierbei war es höchst verwunderlich, daß des Gesandten Crusius Boot, welches nur einen Pistolenschuß hinter uns lief, nicht das geringste von solchem Ungemach empfunden und gewußt hat.
Als wir ungefähr noch drei Meilen vom Land, befiel uns auch ein starker Hagel; aber andere der Unsrigen, welche den Gesandten folgten, hatten schönes Wetter und lieblichen Sonnenschein.
Als wir fast auf eine halbe Meile dem festen Land nahe, wollte der Wind umlaufen und uns zurücktreiben, aber wir hielten die Fischer an, eifrig zu rudern, und versprachen ihnen eine Flasche von drei Kannen Branntwein, so wir bei uns hatten, wenn wir auf den Abend ans Land kämen. Die Fischer griffen die Ruder frisch an und setzten alle ihre Leibeskräfte daran. Wir erreichten auch gegen den Abend, nämlich am 18. Novembris, glücklich das Ufer und stiegen in Estland am Mallischen Strand aus, nachdem wir zweiundzwanzig Tage auf der Ostsee gewesen waren.
Sobald wir das Ufer erreicht und noch nicht ausgestiegen, griffen die Bauern sogleich nach der Branntweinflasche, welche wir ihnen zwar willig, jedoch allzu zeitig verabfolgten. Denn ehe noch die Güter ausgeladen und aufs Land gesetzt waren, liefen sie damit ins Dorf, riefen die Ihrigen und Nachbarn zusammen und soffen die Flasche in sehr geschwinder Eile ganz aus, daß, ehe man sich’s versah, sie alle mit Weib und Kind toll und voll herumliefen, sich zu zanken und zu schlagen begannen, daß man sie ferner wenig gebrauchen konnte, ausgenommen einen, welchen der Trunk beherzt und treuherzig gemacht. Als der sah, daß eins unserer Boote sich losgerissen und vom Lande zur See abtrieb, sprang er nackend in die See bis an den Hals, ungeachtet, daß es sehr kalt war, schwamm ans Boot und brachte es wieder zurück.
Den 22. dieses waren zwei Schuten, so von Reval nach Finnland gewollt, durch einen Sturm auch nach Hochland verschlagen worden; auf dieselben hatte sich das nachgebliebene Begleitvolk mit den Pferden und Gütern verdingt und kam den 24. dieses auch glücklich herüber nach Livland.
Und weil uns scheinen wollte, daß sich etliche durch den Schiffbruch verdorbene köstliche Sachen in einer Stadt besser ergänzen ließen, erhoben wir uns nach der Stadt Reval und langten auch den 2. Decembris allda glücklich an.

 

* großes Segel am Hauptmast
* Elsenfoss - das heutige Helsinki
* Te deum laudamus - (lat.) Dich, Gott, loben wir