essays

Die Fotografien des Verhörs von Bajla Gelblung
Entstehung, Rezeptionsgeschichte und Legendenbildung

1. Einleitung

1960 publizierte Gerhard Schoenberner unter dem Titel «Der gelbe Stern, Die Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945» ein vielbeachtetes Buch mit zahlreichen Foto- und Textdokumenten. Johannes Bobrowskis Gedicht «Bericht», das er am 17. Januar 1961 kurz nach dem Erscheinen des Buches schrieb, liegen die dort abgebildete fotografische Aufnahme des Verhörs einer jungen jüdischen Polin durch deutsche Offiziere in Brest-Litowsk sowie die zu dieser Aufnahme gehörende Bildlegende zugrunde.

BERICHT
Bajla Gelblung,
entflohen in Warschau
einem Transport aus dem Ghetto,
das Mädchen
ist gegangen durch Wälder,
bewaffnet, die Partisanin wurde ergriffen
in Brest-Litowsk,
trug einen Militärmantel (polnisch),
wurde verhört von deutschen
Offizieren, es gibt
ein Foto, die Offiziere sind junge
Leute, tadellos uniformiert,
mit tadellosen Gesichtern,
ihre Haltung
ist einwandfrei.1

Das Gedicht, das durch die Vermittlung von Klaus Völker2 noch im Entstehungsjahr in der kurzlebigen, belgischen Zeitschrift «NUL» erstmals publiziert und anschließend in den Gedichtband «Schattenland Ströme» aufgenommen wurde, zählt zu den eher leicht verständlichen in Bobrowskis lyrischem Werk. Die für seine späten Gedichte charakteristische Dunkelheit ist dem Gedicht «Bericht» nicht eigen, was ihm eine besondere Stellung innerhalb von Bobrowskis dichterischem Oeuvre einräumt. Interessant erscheint die Rezeptionsgeschichte des Gedichts, das schon mehrmals Gegenstand von Interpretationen und linguistischen Analysen geworden ist. Auch heute noch haben sich mitunter Gymnasiasten mit dem Gedicht «Bericht» auseinanderzusetzen.

Der Literaturkritiker, Autor und Publizist Marcel Reich-Ranicki nahm das Gedicht zusammen mit der Interpretation von Andreas F. Kelletat in die im Jahr 2000 erschienene Anthologie mit hundert bedeutenden Gedichten des 20. Jahrhunderts auf.3 Da Reich-Ranicki selbst Überlebender des Warschauer Ghettos war, dürfte er von der Thematik der einem Todestransport entflohenen Partisanin ganz persönlich betroffen gewesen sein. Auch ihm war es kurz vor der Deportation gelungen, mit seiner Ehefrau aus dem Warschauer Ghetto zu flüchten.

Die Fotografie, auf die sich Bobrowskis sechzehn Verszeilen beziehen, und deren Entstehung, Rezeptionsgeschichte und Legendenbildung im Folgenden beleuchtet werden sollen, ist ebenso ikonisch wie das Gedicht. Der Charakter eines memento mori, den Susan Sontag, wie sie in ihren fototheoretischen Essays ausführt, letztlich in jeder Fotografie zu erkennen glaubt, tritt bei der Betrachtung der Aufnahmen des Verhörs von Bajla Gelblung mit besonderer Deutlichkeit und Eindringlichkeit zutage.

Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, dass sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit.4 

2. Die Fotografen Heinz Boesig und Max Ehlert

Als am 1. September 1939 über eine Million deutsche Soldaten die Grenze zu Polen überschritten, war jeder der eingerückten Armeen der Wehrmacht eine Propagandakompanie, abgekürzt PK, zugeteilt worden, die je rund 150 Mann umfasste. Mit den deutschen Streitkräften drangen fünf von sieben Propagandakompanien des Heeres, zwei Kriegsberichter-Kompanien der Luftwaffe und eine PK der Marine in das polnische Staatsgebiet ein. Es wurden in der Folge weitere Kompanien gebildet, so dass der Gesamtbestand bis 1942 auf 15‘000 Mann anwuchs. Die Propagandakompanien machten insgesamt rund 3 Millionen fotografische Aufnahmen, von denen sich 1,7 Millionen in verschiedenen Archiven erhalten haben. Rund 25‘000 von ihnen stammen aus dem besetzten Polen. Nur ein Bruchteil dieser Aufnahmen war zur Veröffentlichung bestimmt und wurde, nach Genehmigung durch die Zensurbehörde, über Presseagenturen an deutsche und ausländische Zeitungen und Illustrierte verkauft.5

Zu den Fotografen, die schon in den ersten Tagen und Wochen vom Kriegsgeschehen berichteten, gehörten Heinz Boesig und Max Ehlert (PK 689). Eine Fotografie aus den ersten Kriegstagen, die das Grab eines deutschen Soldaten zeigt, stammt von Heinz Boesig: Ein Wehrmachtssoldat erweist seinem gefallenen Kameraden die letzte Ehre. Den Helm hat er abgenommen, er steht aufrecht, aber nicht steif, vor dem soeben zugeschütteten Grabhügel, auf dem ein schwarzes Eisernes Kreuz steht. Weder der Soldat noch das Kreuz des Gefallenen befinden sich in der Mittelachse der Fotografie. Diese liegt zwischen ihnen, zwischen dem Lebenden und dem Kreuz für den Toten. Rechts ist eine Straße zu sehen, links im Hintergrund wohl ein Motorrad mit Beiwagen. Das Innehalten des Soldaten zu Ehren seines Kameraden kann den Vormarsch der Truppen der deutschen Wehrmacht nicht aufhalten – so die Botschaft des Bildes. Die Fotografie wurde am 6. September von der Zensur zur Publikation freigegeben. Die Bildlegende lautet:

Abb 1

Soldatengrab vor Crone. Eines der ersten Opfer des deutschen Vormarsches in Polen. Am Wegesrand liegt das Grab eines deutschen Pioniers, der am 2. September für Führer und Volk sein Leben ließ.6

Das Eiserne Kreuz geht auf König Friedrich Wilhelm III von Preußen zurück, der Entwurf stammt von Karl Friedrich Schinkel. Es wurde erstmals 1813 als Orden verliehen und kam dann im Deutsch-Französischen Krieg und im Ersten Weltkrieg wieder zum Einsatz, wo es auch Flugzeuge zierte. Hitler führte am 1. September 1939 das Eiserne Kreuz als in erster Linie militärische Verdienstauszeichnung erneut wieder ein. Einen Tag später steht es schon auf dem Grab eines gefallen Soldaten. Der Betrachter sieht das Kreuz von hinten: Ob auf der Vorderseite der Name des Gefallenen steht oder ob im Zentrum ein Hakenkreuz prangt wie auf den soeben eingeführten neuen Verdienstkreuzen, bleibt offen. Die Fotografie von Heinz Boesig betont geschickt und für jeden Betrachter verständlich, dass das Kreuz die Dreiheit von christlichem Glauben, Ehre und Wehrmacht verkörpert. Und gleichzeitig sind die Wehrmachtssoldaten, wie die Bildlegende festhält, in ihrem Kampf und ihrem Tod untrennbar mit Führer und Vaterland verbunden. Die Fotografie ist ein perfides Meisterwerk der Propaganda, und so stellt sich letztlich die Frage, ob unter dem Tumulus, vor dem der Kamerad steht, auch tatsächlich ein toter Soldat liegt, oder ob alles nur eine Inszenierung sein könnte. Und diese Frage nach der Authentizität der Darstellung wird uns auch im Zusammenhang mit den fotografischen Aufnahmen des Verhörs von Bajla Gelblung beschäftigen.

Das Ziel der Fotos der Propagandakompanien bestand nicht in einer neutralen Dokumentation der Kriegsereignisse, vielmehr stellten sie eine Waffe dar, mit der dieser Krieg psychologisch geführt wurde. Dabei war das Arrangieren des Bildes fester Bestandteil der fotografischen Arbeit, wenngleich die Aufnahmen nicht gestellt wirken durften. Ein Befehl der Propagandakompanie 612 vom 18. Januar 1940 dokumentiert dies anschaulich:

Der Bildbericht ist nicht das zufällige Ergebnis einer Bildberichterstattung, sondern verlangt vorherige Überlegungen und gedankenmäßige Festlegung der zu fotografierenden Aufnahmen. Ein regelmäßiges Nachhelfen durch Herbeiführen bestimmter Vorgänge wird zur Herstellung eines Bildberichts oft nötig sein. Es muss dabei aber unbedingt beachtet werden, dass die Hauptbedingung eines Bildberichts die Lebendigkeit ist. Gestellt wirkende und „tote“ Aufnahmen zerstören die publizistische Wirkung des Bildberichts.7

In der dritten Kriegswoche hält sich Heinz Boesig in der Umgebung von Brest-Litowks auf. Der Name der einst polnischen, heute in Belarus gelegenen Stadt steht einerseits für den Friedensvertrag zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten vom 3. März 1918, aber auch und insbesondere für das geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939. In jenen Tagen im September 1939 treffen die deutsche Wehrmacht und die Rote Armee in Brest-Litowsk friedlich aufeinander, um - wie das in Artikel 2 im geheimen Zusatzprotokoll vorgesehen ist - Polen untereinander aufzuteilen. Dort, und nur dort in Brest-Litowsk, arbeitet Heinz Boesig mit seinem Fotografenkollegen Max Ehlert zusammen, wo sie gemeinsam fotografisch ein Stück Weltgeschichte dokumentieren: Sie halten die Verhandlungen der über Kartenblättern gebeugten Offiziere beider Eroberungsarmeen an der Demarkationslinie fest, und sie fotografieren Soldaten der deutschen Wehrmacht und der Roten Armee, die einträchtig zusammenstehen und Zigaretten rauchen. Heinz Boesig und Max Ehlert dokumentieren in jenen Tagen aber auch das Verhör einer polnisch-jüdischen Partisanin in einem Militärmantel, die in der Retrospektive für die heroische, aber erfolglose militärische und zivile Verteidigung Polens gegen die übermächtigen Aggressoren steht.

Bajla Gelblung entfloh also nicht 1943 dem Warschauer Ghetto, wie lange vermutet wurde, und wie dies auch Johannes Bobrowski annahm, sondern sie kämpfte und starb schon im September 1939. Als die Fotografie entstand, existierten weder das ummauerte Warschauer Ghetto noch das 1942 erbaute Vernichtungslager Treblinka. Warschau wurde zudem erst eine Woche später, am 28. September 1939 durch die deutsche Wehrmacht besetzt. Warum Bobrowski einem Irrtum ausaß und wie dieser zustande kam, wird im Folgenden noch zu beleuchten sein. Auch auf das Verhör werden wir noch einmal zurückkommen. Doch zunächst beschäftigt uns die Frage, was aus den Fotografen Heinz Boesig und Max Ehlert geworden ist.

Boesig war 1941, wie Bobrowski auch, in Frankreich, wo er vor dem Moulin Rouge in Paris zwei Soldaten der deutschen Wehrmacht fotografierte, die mit Französinnen plauderten. Die Aufnahme ist eine der bekanntesten von Heinz Boesig. Am 1. September 1943 fotografierte er Josef Goebbels bei der Übergabe eines Verdienstordens. Zu jenem Zeitpunkt muss sich Boesig also in Berlin und nicht im Feld befunden haben und er scheint auch nicht ganz unbekannt gewesen zu sein, sonst hätte sich der Propagandaminister nicht von ihm porträtieren lassen. Dann jedoch erlischt die Spur des Fotografen. Es finden sich keine späteren Fotografien von ihm und auch nach dem Krieg taucht er nirgends mehr auf. Die Vermutung liegt nahe, dass Heinz Boesig entweder bei einem Fronteinsatz fiel oder im Bombenhagel Berlins getötet wurde.

Anders Max Ehlert. Der 1904 in Berlin geborene Fotograf war während der Zeit des Nationalsozialismus Mitglied der NSDAP. Er fotografierte Reichsparteitage, Aufmärsche und die olympischen Spiele 1936. Während des 2. Weltkriegs wurde Ehlert 1940 Zeuge des Untergangs des von Torpedos getroffenen Schweren Kreuzers Blücher vor der norwegischen Küste. Die Fotos machten ihn schon während des Kriegs sehr bekannt. Ab 1948 arbeitete Ehlert für den Spiegel, bei dem er für die Fotografien der Titelseite verantwortlich war. Herausgeber Rudolf Augstein lobte in der Ausgabe vom 27. Juli 19538 seine professionelle Arbeit und hob hervor, dass es für Prominente in Europa zum guten Ton gehöre, sich von Ehlert fotografieren zu lassen. Die ethischen Aspekte im Zusammenhang mit dem Engagement für die NSDAP und die Tätigkeit als Fotograf einer Propagandakompanie während des Kriegs wurden von keiner Seite beleuchtet, die Integrität von Max Ehlert von niemandem je in Frage gestellt. Zu jenen, die sich damals von Max Ehlert porträtieren ließen, gehörten auch Thomas Mann und Winston Churchill.

3. Die Fotografien des Verhörs

Vom Verhör existieren mehrere Aufnahmen aus zwei unterschiedlichen Räumen. Zunächst soll jene ikonische Fotografie betrachtet werden, auf die sich auch Bobrowski in seinem Gedicht «Bericht» bezieht.

Während spätere Wiedergaben an den Rändern beschnitten worden sind, zeigt die Originalaufnahme die Oberkörper der vier Personen vollständig, einzig ihre Beine werden von einem Tisch verdeckt. Die bogenförmige Bildkomposition wird größtenteils von den drei deutschen Offizieren, zwei von ihnen stehend, einer sitzend, ausgefüllt. Die Haltung der drei Offiziere drückt Konzentration aus, ihre Blicke sind auf die Gefangene ausgerichtet, der hinterste von ihnen macht sich Notizen. Auch jener, der neben ihr steht, hält Notizpapier und zudem ein Paar Handschuhe in den Händen. Kopf- und Schulterpartie von Bajla Gelblung sind leicht nach vorn geneigt, ihr Mund scheint geöffnet zu sein. Sie vermittelt den Eindruck, als ob sie mit den Offizieren spräche. Das Foto trägt den Titel «Jüdisches Flintenweib als Anführerin gemeiner Mordbanditen» und ist mit folgender Legende versehen:

Von den deutschen Truppen wurde in der Nähe von Brest-Litowsk diese Warschauer Ghettojüdin Bajla Gelblung aufgegriffen. Sie versuchte in der Uniform eines polnischen Soldaten zu flüchten und wurde als Anführerin einer der grausamsten Mordbanden wiedererkannt. Trotz ihrer echt jüdischen Frechheit gelang es ihr nicht, die Verbrechen abzuleugnen.9

Abb 2 Abb. 2: Verhör von Bajla Gelblung, September 1939, Fotografie von Heinz Boesig und Max Ehlert, Bundesarchiv Koblenz, Bild 146-1974-057-51.

Fotografie und Legende unterscheiden sich grundsätzlich. Die von Bobrowski zutreffend im Gedicht «Bericht» vermerkte, äußerlich «einwandfreie Haltung» der Offiziere steht im Widerspruch zum propagandistischen, antisemitischen Bildtext. Im Titel werden die drei aus nationalsozialistischer Sicht negativ konnotierten Begriffe «jüdisch», «Flintenweib« und «Mordbanditen» miteinander verbunden, wobei auch das an sich positiv konnotierte Wort «Anführerin» ebenfalls ins Negative kippt: Bajla Gelblung wird, indem sie eine Gruppe von Mordbanditen anführt, zum Inbegriff einer bösen, verbrecherischen und hinterhältigen Frau. Der Hinweis, dass es der Gefangenen nicht gelungen sei, die Verbrechen abzuleugnen, spielt indirekt auf ihre spätere Hinrichtung an, wobei die Bildlegende keinen Zweifel offenlässt, dass sie, die freche Ghettojüdin, den Tod verdient habe. Das Nomen «Ghettojüdin» ist wohl so zu verstehen, dass Bajla Gelblung aus einem der jüdischen Quartiere Warschaus stammte. Diese wurden schon vor dem Krieg als «Warschauer Ghetto» bezeichnet. Sogenannte «Ghettojuden» unterschieden sich durch ihre traditionelle Kleidung von den assimilierten Juden in anderen Stadtvierteln.

Die Fotografie des Verhörs bezweckte offensichtlich mehrere propagandistische Ziele: Sie sollte die rassische Überlegenheit der deutschen Offiziere gegenüber der jüdischen Anführerin deutlich machen und dem Verhör zudem einen Anstrich von Rechtmäßigkeit geben. Darüber hinaus diente vorab die Bildlegende ganz grundsätzlich der Diffamierung und Kriminalisierung der jüdischen Bevölkerung und rückte durch die Erwähnung der polnischen Militäruniform und dem Hinweis auf Mordbanden Polen und Juden zusammen. Ein mündlicher Befehl in der Reichspressekonferenz im Oktober 1939 umfasste unter anderem den journalistischen Grundsatz: «Polen, Juden und Zigeuner sind in einem Atemzug zu nennen.»

Angesichts der Männern der deutschen Wehrmacht ausgelieferten jungen Frau drängt sich eine weitere Frage auf: Drohten der Verhafteten auch sexuelle Gewalt oder Versklavung? Maren Röger, die Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945 erforscht hat, hält dazu fest:

Der deutschen Militärführung war bewusst, dass es nach dem Einmarsch in Polen zu sexuellen Kontakten mit Einheimischen kommen würde – sowohl zu einvernehmlichen und erzwungenen Kontakten als auch zu Geschlechtsverkehr gegen Bezahlung. Die Militärführung hatte Erfahrungswerte aus vorangegangenen Kriegen, vor allem dem erst zwei Jahrzehnte zurückliegenden Ersten Weltkrieg, und räumte deshalb dem Aufbau eines kontrollierten Prostitutionswesens große Aufmerksamkeit ein.11

Doch die Zwangsprostitution von Jüdinnen schließt Maren Röger aus:

Die meisten Frauen in den Bordellen waren Polinnen, vereinzelt fanden sich auch Ukrainerinnen oder (Volks-)Deutsche darunter. Jüdische Polinnen als Prostituierte waren von Seiten der deutschen Behörden streng verboten. «Jüdinnen sind auszuschließen», heißt es in den Wehrmachtsanweisungen immer wieder. Und daran hielten sich die umsetzenden Institutionen auch penibel, entgegen der in der populärwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Literatur wiederholten Behauptung von der sexuellen Versklavung jüdischer Frauen.12

Hingegen kam es, wie Polizei- und Gerichtsakten belegen, durchaus zu Vergewaltigungen von Jüdinnen durch deutsche Armeeangehörige. Gewisse Klagen führten anfänglich zur Verurteilung der entsprechenden Beschuldigten, in vielen Fällen wurden die Opfer aber der Verleumdun bezichtigt. Die Frage, ob Bajla Gelblung in Brest-Litowsk sexuelle Gewalt erleiden musste, kann nicht abschließend beantwortet werden.13

Die fotografische Dokumentation des Verhörs von Bajla Gelblung weist einige Übereinstimmung mit der Fotografie eines gefangenen Russen auf der Frontseite der Wochenzeitschrift «Berliner illustrirte Zeitung» vom 4. Oktober 1914 auf. Dargestellt sind als Ganzfiguren der zerlumpt wirkende Festgenommene in einem hellen, hoch geschlossenen und verschmutzen Hemd zwischen zwei tadellos uniformierten deutschen Soldaten, die Helme tragen und Gewehre mit aufgepflanzten Bajonetten halten. Im Hintergrund, leicht unscharf, steht ein dritter Soldat. Alle vier Abgebildeten blicken direkt in die Kamera, auch der Gefangene, der leicht nach vorn gebeugt ist und erschöpft wirkt, während die deutschen Offiziere völlig aufrecht stehen. Die Bildlegende lautet:

Ein Bundesbruder der Franzosen und Engländer.
Russischer Soldat (Mongole), der in Ostpreußen gefangen und durch Funde im Tornister barbarischer Schandtaten überführt wurde.

Abb 3

Abb. 3: Titelblatt der Berliner illustrirten Zeitung vom 4. Oktober 1914 mit der Fotografie eines durch deutsche Truppen gefangengenommenen Mongolen.

Sowohl die Fotografie, als auch die Bildlegende stellen den Verhafteten als ethnisch minderwertig dar. Während die fotografische Aufnahme die Überlegenheit der deutschen Offiziere betont, verweist die Legende auf begangene Verbrechen des Festgenommenen, die allerdings, wie jene, die Bajla Gelblung angelastet werden, im Diffusen verbleiben. In der Darstellung sind indes auch grundlegende Unterschiede zwischen der Aufnahme aus dem Ersten Weltkrieg und der Fotografie von Bajla Gelblung auszumachen, welche die Raffinesse der Arbeit der Propagandakompanien belegen. Während die Fotografie von 1914 starr wirkt und der Angeklagte vor der Kamera und letztlich den Lesern der Illustrierten wie eine Trophäe präsentiert wird, gestattet die Aufnahme vom Verhör Bajla Gelblungs scheinbar einen Einblick in die Tätigkeit der Wehrmacht, deren Offiziere – trotz der von der Verhafteten gemäß Bildlende begangenen, entsetzlichen Verbrechen – überlegt und korrekt handeln.

Heinz Boesig und Max Ehlert haben mehrere Fotografien des Verhörs von Bajla Gelblung gemacht, bei deren vergleichender Betrachtung deutlich wird, dass offenbar zwei Verhöre in  unterschiedlichen Räumen stattgefunden haben. Warum dem so ist, bleibt im Dunklen. Es könnte sich um ein Verhör und die anschließende Kriegsgerichtsverhandlung handeln.

Abb 4Abb. 4: Verhör von Bajla Gelblung, September 1939, Fotografie von Heinz Boesig und Max Ehlert, Bundesarchiv Koblenz, Bild 1011-121-0010-24.

Betrachten wir zunächst eine Aufnahme im selben Raum, auf der nebst Bajla Gelblung nur einer der Offiziere dargestellt ist. Die Bildkomposition ist weniger interessant, weil die Bogenform fehlt, vielmehr wird die Fotografie von einer nach rechts absinkenden Linie bestimmt. Bajla Gelblung ist etwas stärker dem Bildbetrachter zugewandt, so dass Wimpern und Braue des rechten Auges sichtbar werden; sie steht aufrecht und scheint zu schweigen. Der einzelne, sie verhörende Offizier legt die Stirn in Runzeln und hat den Mund leicht geöffnet. Die Fragestellung, nicht die Antwort, scheint das Thema dieser Aufnahme zu sein. Bedrohlich wirkt hinter dem Kopf der Befragten ein schwarzes, rundes Loch in der Wand, das von einem abgenommenen Kaminrohr stammen könnte. Besonders deutlich wird auf dieser Aufnahme ein Riss im linken Brustbereich des polnischen Soldatenmantels.

Eine weitere Fotografie von Bajla Gelblung findet sich in Adalbert Forstreuters Publikation «Deutsches Ringen um den Osten» von 1940.14 Das Original des Fotos ist im Bundesarchiv Koblenz nicht vorhanden. Einzig auf dieser Aufnahme blickt Bajla Gelblung aus den Augenwinkeln in die Kamera und erinnert so daran, dass in dem Raum, wo das Verhör stattfand, auch Fotografen zugegen waren. Um den Mund der Verhörten spielt überraschenderweise ein feines Lächeln. Was mag sie in jener Situation zu diesem Gesichtsausdruck bewegt haben? Was gab sie in jenem Augenblick preis? Das photographische Porträt ist nach Roland Barthes ein geschlossenes Kräftefeld:

Vier imaginäre Größen überschneiden sich hier, stoßen aufeinander, verformen sich. Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen.15

Abb 5

Abb 5: Verhör von Bajla Gelblung, September 1939, Fotografie von Heinz Boesig und Max Ehlert, abgebildet auf S. 309 von Adalbert Forstreuters Publikation Deutsches Ringen um den Osten, Kampf und Anteil der Stämme und Gaue des Reichs von 1940.

Ist möglicherweise in dieser Aufnahme des Verhörs von Bajla Gelblung, und nur in dieser, das Überscheiden der vier imaginären Größen nach Roland Barthes erkennbar? Oder ist es so, dass das Foto – obschon, oder gerade weil die Verhörte in die Kamera blickt und dabei lächelt – von der Gewalt, die nach Susan Sontag dem Akt der Personenfotografie innewohnt,
Zeugnis ablegt?

Menschen fotografieren heißt, ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie sich selbst nie sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren; es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann.16

Forstreuter verändert in der Bildlegende geringfügig den Vornamen der Gefangenen, hält sich aber weitgehend an den Text der Propagandakompanie, den er verkürzt wiedergibt: «Die Warschauer Ghettojüdin Bayla Gelblung, Anführerin einer der grausamsten Mordbanden, im Verhör». Der von Forstreuter zitierte Bericht des «Oberkommandos über Vorgeschichte, Anlage, Verlauf und Abschluss des Feldzugs in Polen» stellt die Kriegssituation am 23. September 1939 folgendermaßen dar:

Nur Bruchteile einzelner Verbände konnten sich durch die Flucht in die Sumpfgebiete Ostpolens der sofortigen Vernichtung entziehen. Sie erliegen dort den sowjetrussischen Truppen. Von der gesamten polnischen Wehrmacht kämpft zur Zeit nur ein geringfügiger Rest auf hoffnungslosem Posten in Warschau, in Modlin und auf der Halbinsel Hela.17

Dieser Lagebericht verdeutlicht, was in der Bildlegende der Propagandakompanie mit «Mordbanden» gemeint sein könnte: Sich in unwegsames Gelände zurückziehende, zerstreut kämpfende Verbände der polnischen Armee, zu denen vereinzelt auch Zivilpersonen als Partisanen gestoßen sein mochten.

Es existieren auch Aufnahmen von Bajla Gelblung aus einem anderen Raum, dessen Wände weiß gekachelt sind. Diese Situation sowie die harten Schatten wirken bedrohlich, da die Szenerie Assoziationen an einen Exekutionsraum weckt. Alle Personen auf der Fotografie tragen Mützen, auch Bajla Gelblung. Der Offizier am linken Bildrand ist Brillenträger, seine Kopfbedeckung wirkt zerknittert. Demjenigen rechts auf dem Bild fehlt der Leibgurt. Ebenso sucht man vergeblich nach dem schmalen diagonalen Gurt für die Ledertasche. Keiner der drei hat eine Schirmmütze aufgesetzt. Vergleicht man die Aufnahme mit der bekannten aus dem anderen Verhörraum, so fällt auf, wieviel sorgfältiger die Wehrmachtsoffiziere dort gekleidet sind, während man Bajla Gelblung die Mütze abgenommen hat, wodurch sich die Offiziere stärker von der Angeklagten abheben.

Es ist zu vermuten, dass die Offiziere in den beiden Räumen identisch sein könnten und sich nur anders gekleidet haben. Damit stellt sich die nicht abschließend zu klärende Frage, inwieweit die Szene gestellt worden ist. Selbst wenn das abgebildete Verhör im Grundsatz der Realität entsprechen sollte, dürften sich die Offiziere für die Aufnahmen im ungekachelten Raum zumindest zurechtgemacht haben.

4. Veröffentlichung der Fotografien in Zeitschriften und Zeitungen

Die Aufnahmen wurden am 21. September 1939 von der Zensurbehörde zur Publikation freigegeben. Zwei Tage später, am 23. September 1939, einem Samstag, erschien ein Bild Bajla Gelblungs auf der Titelseite der «Rheinsberger Zeitung», dem amtlichen Veröffentlichungsblatt der Stadt Rheinsberg. Am gleichen Tag wurde die Fotografie auch im «Abendblatt (Neueste Zeitung) der Innsbrucker Nachrichten» publiziert. Nach heutigem Forschungsstand sind dies die frühesten Veröffentlichungen von Fotos des Verhörs. Am darauffolgenden Montag, dem 25. September 1939 erschienen Fotos von Bajla Gelblung auf Seite 3 der «Fehrbelliner Zeitung» und der Titelseite des «Jeverschen Wochenblatts». «Der Führer am Sonntag», die Wochenbeilage des «Führer» publizierte eine Fotografie Bajla Gelblungs am 1. Oktober 2021 auf Seite 6. In allen Zeitungen wurde die Legende der Propagandakompanie vollständig und unkommentiert übernommen.18

Die Fotografien vom Verhör Bajla Gelblungs fanden aber auch über die Grenzen Deutschlands hinaus Beachtung: Eine der Aufnahmen wurde am 27. September 1939 großformatig auf der Frontseite einer Schweizer Illustrierten abgebildet. Die «Schweizer Illustrierte Zeitung» als Presseerzeugnis eines kleinen neutralen Staates heroisierte zu Kriegsbeginn den Kampf der polnischen Armee und der Bevölkerung gegen die übermächtige deutsche Wehrmacht. Die Redaktion wählte eine Fotografie aus, welche die Festgenommene von vorn zeigt. Sie ist auf der originalen Aufnahme umringt von drei deutschen Offizieren, und man hat den rechten Bildrand für das Titelblatt beschnitten und den Bildausschnitt zusätzlich verändert, indem die Fotografie nach unten erweitert wurde. Das so entstandene Hochformat verleiht der polnischen Heldin mehr Präsenz. Ihr Nachname wird in der Legende ebenso unterschlagen wie ihre Warschauer Herkunft. Zudem wird auf den Begriff «Ghettojüdin» verzichtet. Offensichtlich war die Illustrierte bestrebt, nicht die Zugehörigkeit zum Judentum der Verhörten, sondern ihre polnische Staatsbürgerschaft hervorzuheben. Und so lautet denn die Bildlegende:

Kampf bis zum letzten Blutstropfen

Unaufhaltsam sind die Deutschen in Polen vorgerückt. Mit wahrer Todesverachtung und ungebrochenem Kampfgeist wird manchenorts noch gekämpft. Angesichts der Übermacht des deutschen Heeres greifen die Verteidiger, um sich erfolgreich behaupten zu können, zu den letzten Mitteln. In der Nähe von Brest-Litowsk organisierte eine Polin zersprengte militärische Truppen, die den Deutschen in erbittertem Kampfe viel zu schaffen machten. Als der Widerstand gebrochen war, versuchte die Anführerin in einer Soldatenuniform zu fliehen, wurde von deutschen Patrouillen aber aufgegriffen und – nach Kriegsrecht – wahrscheinlich erschossen. Die wehrhafte Polin Baila wird von deutschen Offizieren verhört.19

Abb 7

Abb. 6: Titelseite der Schweizer Illustrierten Zeitung Nr. 39 vom 27. September 1939 mit dem Verhör von Bajla Gelblung.

Die Botschaft der Legende in der «Schweizer Illustrierten Zeitung» ist in Bezug auf den Kampf der Polen gegen die übermächtigen Angreifer ambivalent. Einerseits ist von «wahrer Todesverachtung» und «ungebrochenem Kampfgeist» die Rede, zum andern wird mit dem Hinweis, dass «noch» gekämpft und dabei zu den «letzten Mitteln» gegriffen werde, die Leserschaft auf die Niederlage der polnischen Armee vorbereitet. Im Wesentlichen folgt die Bildlegende den zur Verfügung gestellten Informationen, interpretiert sie aber völlig neu. Die antisemischen Aspekte fallen dabei gänzlich weg.

Am 22. September 1939, also dem Tag nach der Freigabe der Fotografie, ist diese bereits in den Vereinigten Staaten eingetroffen und hat von der Fotoagentur «International News Fotos» eine neue Bildlegende erhalten. Die Bildqualität lässt allerdings zu wünschen übrig. Und die Fotografie ist seitenverkehrt; die deutschen Wehrmachtsoffiziere sind hier Linkshänder. Wie konnte das geschehen und warum erscheint die Aufnahme wie gerastert? Die Fotografie wurde offensichtlich bildtelegrafisch übermittelt. Diese Technik war damals noch relativ jung. Der Fehler konnte beim Senden oder beim Empfangen geschehen sein. Da man auch Negative senden konnte, besteht zudem die Möglichkeit, dass das Bildnegativ in den Vereinigten Staaten beim Übertragen auf Fotopapier falsch eingelegt wurde. Absicht war wohl nicht vorhanden. Doch da der westliche Mensch geneigt ist, Bilder dem Schriftverlauf entsprechend von links nach rechts zu betrachten, besteht ein markanter Unterschied, ob man mit den Offizieren auf Bajla Gelblung blickt, was der ursprünglichen Intension des Fotos entspricht, oder mit der Festgenommenen auf die Wehrmachtsvertreter bei Betrachtung der seitenverkehrten Fotografie.

Abb 8Abb. 7: Verhör von Bajla Gelblung, gerasterte und seitenverkehrte Fotografie von der amerikanischen Fotoagentur «International News Fotos». Eigentum des Autors.

Aufschlussreicher noch als die Vorderseite ist die Rückseite der Fotografie. In der englischen Bildlegende wird Bajla Gelblung als Scharfschützin bezeichnet. Ihr Verfasser dürfte durch den Begriff «Jüdisches Flintenweib» zu dieser Interpretation gelangt sein.

Doch trifft diese auch zu? Als Flintenweiber wurden von deutscher Seite russische Soldatinnen in beiden Weltkriegen bezeichnet, von denen die meisten keine Scharfschützinnen waren. Beim Begriff handelt es sich um ein Stereotyp, mit dem von der NS-Propaganda Frauen, die sich in den besetzten Gebieten als Soldatinnen, aber auch als Partisaninnen gegen die Eroberer wehrten, in dreifacher Weise diffamiert werden sollten: «Solche Wesen seien politisch fehlgeleitet, keine richtigen Frauen und erst recht keine richtigen Kämpfer, sondern irgendetwas Widernatürliches, Eindringlinge in die […] den Männern vorbehaltenen Domänen der Politik und des Krieges.»20

Ebenfalls bemerkenswert ist es, dass von einem Militärgericht gesprochen wird und nicht einfach nur von einem Verhör. Bajlas Fall sei interessant – so wird weiter ausgeführt – weil sie eine Militäruniform trage. Nur als Partisanin, nicht aber als Soldatin drohte ihr nämlich die Hinrichtung. Die Haager Landkriegsordnung in der Version von 1907 galt ausschließlich für Armeeangehörige, nicht aber für Partisanen, die in der Regel kurzerhand erschossen oder, um Abschreckung zu verbreiten, gehängt wurden.

Unterhalb der englischen Legende befindet sich eine spanische. Sie sieht aus, als wäre sie aus einer Zeitschrift ausgeschnitten worden. Offenbar wurde das Verhör von Bajla Gelblung auch in einer spanischsprachigen Zeitung, sei es in den Vereinigten Staaten selbst oder in Mitteloder Südamerika publiziert. Wenig wahrscheinlich erscheint es, dass die Fotografie in Spanien veröffentlicht wurde, weil die fotografische Vorlage dann einen unerklärlichen Umweg über Nordamerika gemacht hätte.21

Die spanische Legende orientiert sich an der englischen, doch wird diese offenbar missverstanden, da am Ende des spanischen Texts der Eindruck erweckt wird, dass Bejla Gelblung – wohl zur Strafe und um ihr zu verunmöglichen, weiterhin als Schaftschützin aktiv zu sein – die Hände abgeschlagen worden seien.

Abb 9

Abb. 8: Rückseite des Fotografie des Verhörs von Bajla Gelblung mit englischer und spanischer Bildlegende und dem Stempel der amerikanischen Fotoagentur «International News Fotos».

5. Rezeptionsgeschichte der Fotografien nach dem Krieg

Abb 10Abb. 9 und 10: Fotografien des Verhörs von Bajla Gelblung, Ghetto Fighters‘ House Archives, Naharija, Israel, catalog nr. 39495 und 39494. Die Aufnahmen stammen aus dem gekachelten Verhörraum, wurden aber sekundär überarbeitet und die Kacheln wegretuschiert.

Nach Kriegsende sind es jüdische Institutionen, die sich für Bajla Gelblung interessieren. Diese sehen in ihr eine Heldin, eine jüdische Partisanin, die einem Todestransport aus dem Warschauer Ghetto entflohen ist. Im «Documents Archive» von «Yad Vashem»22 finden sich mehrere Fotografien von ihr, die mittlerweile zutreffend auf September 1939 datiert werden, jene des Archivs von «The Ghetto Figthers’ House»23 sind undatiert. Auf der Website des «Mémorial de la Shoah» in Paris24 findet sich indessen noch immer eine Fotografie des Verhörs von Baila Gelblung, die ohne weitere Angaben 1943 datiert ist. Die Verhörte wird dort als «Combattente du Ghetto de Varsovie» bezeichnet. Zum Autorenkollektiv zählt das Historische Institut von Warschau. Bemerkenswert ist nun, dass die abgebildete Person nicht als «Bajla Gelblung», sondern als «Beila Gelblum» identifiziert worden ist. Eine Beila Gelblum findet sich aber weder auf den Listen der Ermordeten, noch den Listen der polnischen Juden, die die Shoah überlebt haben. Hingegen kam am 10. September 1920 in Warschau ein Mädchen mit dem Namen Bela Gelblum zur Welt. Sie wäre im September 1939 eben 19 Jahre alt geworden.

Die Gelblums, in die Bela hineingeboren wurde, waren eine angesehene und wohlhabende Familie, die eine Brauerei besaß und die in einem jüdischen Quartier, das später als Teil des Ghettos abgesperrt wurde, an der ulica Bazarowa 7 in Otwock, einem Kurort nahe Warschaus, wohnte. Die meisten Familienmitglieder, auch Bela, überlebten die Kriegsjahre, indem sie sich von 1942 bis 1945 an der ulica Sienna 4 versteckten und dem Eigentümer des Hauses dafür monatlich 16'000 Zloty zahlen ließen. Bela heiratete nach dem Krieg, trug fortan den Nachnamen Miodownik, wanderte nach Argentinien aus, hatte zwei Kinder und verbrachte, nachdem ihr Ehemann verstorben war, die letzten Lebensjahre bis zu ihrem Tod 1991 in Israel. Wäre es also möglich, dass Bajla Gelblung, alias Beila Gelblum mit Bela Gelblum identisch sein könnte?

Abb 11

Abb. 11: Bela Gelblum, 18jährig, mit ihrem Bruder in der Brauerei in Otwock (sztetl.org.pl/pl/galeria, aufgerufen im September 2021).

Sollte die junge Frau tatsächlich als Widerstandkämpferin aktiv gewesen sein, hätte sie die deutsche Wehrmacht zweifellos nicht laufen lassen. Und auf einer Fotografie von Bela Gelblum, auf der sie mit ihrem 1943 ermordeten Bruder am Grab ihrer 1939 verstorben Mutter steht, ist eine junge Frau mit rundlichem Gesicht zu erkennen, die kaum an die festgenommene Partisanin in Brest-Litowsk mit ihrer markanten, stärker dreieckigen Gesichtsform erinnert. Auch auf einer 1938 in der Brauerei entstandenen Fotografie erscheint die Kopfform der damals Achtzehnjährigen auffallend rund. Nein, es ist davon auszugehen, dass Heinz Boesig und Max Ehlert in jenen Tagen im September 1939 nebst den Verhandlungen der Offiziere der deutschen Wehrmacht mit jenen der Roten Armee und dem friedlichen Beisammenstehen der deutschen und russischen Soldaten das Verhör einer polnisch-jüdischen Frau dokumentierten, möglicherweise einer Partisanin, die kurz darauf hingerichtet worden sein dürfte.

Auf dem von Gerhard Schoenberner 1960 unter dem Titel «Der gelbe Stern, Die Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945» veröffentlichten Publikation ist das Verhör von Bajla Gelblung auf S. 98 abgebildet, wenngleich nicht vollständig, sondern leicht beschnitten. Die Bildlegende lautet:

Dieses Mädchen ist eine der wenigen, deren Bild und Namen die Henker hinterlassen haben. Bajla Gelblung entfloh einem Todestransport aus dem Warschauer Ghetto und ging zu den Partisanen. Als sie in Brest-Litowsk verhaftet wurde, trug sie einen polnischen Militärmantel. Dieses Foto von ihrem Verhör erschien während des Krieges in einer deutschen Illustrierten.25

Stärker noch als in der Bildlegende auf dem Titelblatt der «Schweizer Illustrierten Zeitung» vom 27. September 1939 wird die Festgenommene in diesem Text heroisiert. Einiges wird dazu frei erfunden. Dabei bleibt nicht mehr viel Zutreffendes zurück. Es stellt sich die Frage, wie Schoenberner dazu kam, die originale Bildlegende in diesem Ausmaß zu verfälschen. Offenbar war ihm nicht bewusst, dass das Verhör im September 1939 stattfand. Ein Blick auf die Bildquelle verrät den Ursprung dieses Irrtums: Schoenberner nennt das «Centre de Documentation Juive Contemporaine» in Paris. Die Nachfolgeorganisation, die «Mémorial de la Shoah» bewahrt, wie bereits festgehalten wurde, exakt diese Fotografie auf, die noch immer 1943 datiert ist, was nachweislich nicht zutrifft. Schoenberner ist also einem Irrtum aufgesessen, und er verstrickt sich zusätzlich in wilde Spekulationen. Die Aufnahme der Fotografie in seinem Buch hat aber trotz und wohl auch dank des unzutreffenden Bildtextes ganz wesentlich zur Legendenbildung beigetragen.

Faktisch gleichzeitig mit Gerhard Schoenberners bei Rütten&Loening in Hamburg erschienenen «Der Gelbe Stern» publizierte Rütten&Loenig in Ostberlin das Buch «Faschismus - Getto - Massenmord». Der gelbe Stern war zwar nicht Bestandteil des Buchtitels, prangte aber auf dem Buchdeckel. Im Vorwort auf Seite 5 heißt es:

Möge kein Leser den Band aus der Hand legen und sagen, die hier geschilderten schrecklichen Begebenheiten gehören glücklicherweise der Vergangenheit an, seien Geschichte und nur insoweit von Interesse. Die jüngsten antisemitischen Ausschreitungen in Westdeutschland belehren eines anderen.26

Die Rhetorik des Kalten Kriegs ist in diesen Zeilen unverkennbar. Natürlich gab es in der Nachkriegszeit auch in der DDR wie in allen andern Ostblockländern Antisemitismus, über dessen Auswüchse zu sprechen und zu scheiben aber tabu war. Und es gab darüber hinaus einen durch die Sowjetunion beeinflussten staatlichen Antisemitismus und Antizionismus.

Es lohnt sich, die Bildlegenden von «Faschismus - Getto - Massenmord» genauer anzusehen: Auffallend oft ist da von SS und Gestapo die Rede, nie aber von Soldaten oder Offizieren der deutschen Wehrmacht. Wo diese auf den Fotos unübersehbar sind, wird ausschließlich von den Opfern im Passiv berichtet, ohne dass die Täter genannt würden, oder diese werden wider besseres Wissen als Gestapoleute dämonisiert. Das hat offenbar System, und so lautet denn die Bildlegende des Verhörs von Bajla Gelblung:

Gestapoleute haben eine Jüdin, Mitglied der Partisanenbewegung, gefangengenommen.

Der Text ist wesentlich kürzer als bei Schoenberner, und anders als dort wird das Leben der Festgenommenen nicht in heroisierendem Sinne verklärt und verfälscht. Aber die Erwähnung der «Gestapoleute» ist unzutreffend. Bobrowski besaß das Buch «Faschismus - Getto - Massenmord», nach Bukauskaite27 allerdings in der zweiten Auflage von 1961, und so dürfte er, als er das Gedicht «Bericht» im Januar jenes Jahres schrieb, die ostdeutsche Bildlegende nicht gekannt haben.28 Auch in Schoenberners «Der gelbe Stern» sucht man vergeblich nach Hinweisen auf die Wehrmacht. Dort finden sich mehr Begriffe wie «Mörder» oder «Henker», so auch in der Bildlegende des Verhörs von Bajla Gelblung.

In der neuesten Ausgabe der Publikation «Der gelbe Stern" aus dem Jahr 2013 ist in der Bildlegende zur Fotografie von Bajla Gelblung von Henkern mittlerweile nicht mehr die Rede. Und auch etwas anderes hat sich geändert. Die Abbildung hat einen neuen Standort im Buch erhalten. Sie wird nun mit der Hinrichtung von Mascha Bruskina, einer siebzehnjährigen, jüdischen Partisanin in Minsk am 26. Oktober 1941 auf einer Doppelseite gezeigt. Die Fotografien ihrer Exekution durch Erhängen zählen zu den bekanntesten der gesamten Kriegszeit. Das Foto wurde von einem Angehörigen eines litauischen Regiments gemacht, das mit den Deutschen kollaborierte.29 Indem die Fotografie von Bajla Gelblung auf der gleichen Doppelseite mit jener von Mascha Bruskina erscheint, wird weiter an der Legendenbildung gestrickt: Die Schicksale von Bajla und Mascha verwachsen sozusagen, indem Verhör und Hinrichtung als zwei wesentliche Stationen ihres Leidenswegs nebeneinander thematisiert werden.

Und Johannes Bobrowski? Er trägt seinerseits mit dem Gedicht «Bericht» zur Legendenbildung bei, wobei er davon ausgehen durfte, dass die Bildlegende bei Schoenberner der Wahrheit entsprach. Und er folgt denn auch über weite Strecken fast wortwörtlich Schoenberners Text. Dass Bobrowski aus der großen Anzahl von vielfach belastenden Fotografien in jener Publikation das Verhör von Bajla Gelblung und damit eine Propagandaaufnahme der deutschen Wehrmacht ausgewählt hat, mag mehrere Gründe haben. Zunächst dürfte ihm der Umstand, dass Name und Herkunft des Opfers bekannt waren, aufgefallen sein. Das kam seiner Sichtweise des Gedenkens entgegen und ermöglichte ihm, eine konkrete Person mit Vornamen und Namen in seinem Gedicht zu benennen. Und diese Person war nicht nur ein jüdisches Opfer der Nazis, sondern hatte sich gemäß der Bildlegende Schoenberners der Deportation entzogen und gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft. Bajla Gelblung entsprach also dem Bild starker, jüdischer Frauen, um die einige seiner späteren Gedichte kreisen.30 Auch mag ihn seine eigene Vergangenheit als Wehrmachtssoldat bewogen haben, über diese Fotografie ein Gedicht zu verfassen. Die Ambivalenz der äußerlich korrekt auftretenden, aber eine mörderische Absicht hegenden Offiziere als zentrale Bildaussage mochte ihn interessiert haben. Die Fotografie belegte aus seiner Sicht die Gewalt, welche die Angehörigen der deutschen Wehrmacht und insbesondere ihre Offiziere an der zivilen Bevölkerung und vor allem dem Judentum ausübten. Daran liegt nach Andreas F. Kelletat die Provokation des Gedichts. Denn noch immer hielt sich, als Bobrowski 1961 das Gedicht schrieb, in der deutschen Bevölkerung der BRD und der DDR die Vorstellung, dass die Wehrmacht nicht an den Gräueln an der Zivilbevölkerung beteiligt gewesen sei und von der systematischen Judenverfolgung nichts gewusst habe.3

Abb 12

Gerhard Schoenberner, Der gelbe Stern, Die Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945, Ausgabe 2013: Das Verhör von Bajla Gelblung ist neu auf der gleichen Doppelseite wie die Hinrichtung von Mascha Bruskina abgebildet.

Was bedeuten die neuen Erkenntnisse für das Gedicht «Bericht»? Es ist davon auszugehen, dass es seine herausragende Stellung in Bobrowskis lyrischem Werk bewahren wird, dass es auch weiterhin Schulstoff an Gymnasien bleibt und in Anthologien aufgenommen wird, doch werden Realität und Fiktionalität klar voneinander zu trennen sein. Dies gilt insbesondere für den ersten intertextuellen Teil des Gedichts, der sich auf Schoenberners Legende bezieht, während der zweite, intermediale über die Fotografie seine historische Relevanz uneingeschränkt beibehält.

6. Epilog

Die Beschäftigung mit der fotografischen Dokumentation der Einvernahme von Bajla Gelblung durch Offiziere der deutschen Wehrmacht hat letztlich mehr Fragen aufgeworfen als gelöst. Wir wissen, dass das Verhör in der dritten Kriegswoche im September 1939 stattgefunden hat. Der Name der Verhafteten war wohl Bajla Gelblung, möglicherweise aber auch Beila Gelblum. Doch ist nicht auszuschließen, dass sie einen anderen Namen trug, denn weder eine Bejla Gelblung noch eine Beila Gelblum lassen sich in Warschau nachweisen. Namentlich bekannt sind hingegen die Fotografen Heinz Boesig und Max Ehlert, die Mitglieder einer Propagandakompanie der deutschen Wehrmacht waren. Unklar ist aber, ob und inwiefern die Fotografien inszeniert sein könnten. Auch bleibt die Frage ungelöst, warum zwei Verhöre in unterschiedlichen Räumen stattfanden. Die Partisanin, wenn sie denn eine war, könnte in Brest-Litowsk bei der verzweifelten Verteidigung polnischen Bodens zwischen die beiden vorrückenden Eroberungsarmeen geraten sein. Doch sicher ist auch das nicht. Worin Bajla Gelblungs «Verbrechen», wie es in der Bildlegende der Propagandakompanie heißt, oder ihre Heldentaten als Partisanin aus anderer Perspektive, konkret bestanden haben, bleibt offen. Wer war Bajla Gelblung und was ist mit ihr geschehen? Letztlich wissen wir es nicht. Einzig das, was aus den Fotografien des Verhörs geworden ist, wie sich ihre Deutung verändert hat, wie und warum sich Legenden um sie bildeten, lässt sich erforschen.

Wie schwierig es doch ist, den Wahrheitsgehalt der Fotografien auszuloten, die doch scheinbar eine historische Realität wiederzugeben scheinen. Doch die Fotos sind stumm, sind Momentaufnahmen, die das Vorher und Nachher verschweigen, sind Ausschnitte mit einem scharfen Rand, der Sichtbares von Unsichtbarem trennt. Nach Susan Sontag impliziert eine Fotografie,

dass wir über die Welt Bescheid wissen, wenn wir sie so hinnehmen, wie die Kamera sie aufzeichnet. Dies aber ist das Gegenteil von Verstehen, das damit beginnt, dass die Welt nicht so hingenommen wird, wie sie sich dem Betrachter darbietet. Jede mögliche Form des Verstehens wurzelt in der Fähigkeit, nein zu sagen. Genaugenommen lässt sich aus einem Foto nie etwas verstehen.31

Und nach Roland Barthes sind Fotografien Zeichen, denen eine Markierung fehlt, damit sie klassifizierbar würden:

Was immer auch ein Foto dem Auge zeigt und wie immer es gestaltet sein mag, es ist doch allemal unsichtbar: es ist nicht das Foto, das man sieht.32

Erst recht helfen die Bildlegenden den Betrachtenden der Fotografien des Verhörs von Bajla Gelblung nicht weiter, vielmehr dürfen sie ihnen in keiner Weise trauen, denn sie führen, absichtlich wie jene der Propagandakompanie oder unabsichtlich wie jene Schoenberners, auf eine falsche Fährte.

1 Johannes Bobrowski (1987-1999), Gesammelte Werke (GW) in sechs Bänden, hrsg. von Eberhard Haufe (Band 1-V) und Holger Gehle (Band VI). Berlin und Stuttgart. Band I (1987), Die Gedichte, S. 133.

2 GW, Band V, S. 134. Zudem mündliche Mitteilung von Klaus Völker am 23. Oktober 2021. Völker habe zuvor mit Bobrowski über Schoenberners Publikation gesprochen und er, Völker, sei auch der Erste gewesen, dem Bobrowski das Gedicht im Januar 1961 vorlegte.

3 Andreas F. Kelletat (2000), Die Wehrmacht und das Mädchen, Zu Johannes Bobrowskis Gedicht Bericht, in: Marcel Reich-Ranicki, Hundert Gedichte des Jahrhunderts. Mit Interpretationen. Ausgewählt von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt am Main und Leipzig, S. 300-302.

4 Susan Sontag (1978, Neuausgabe 2002), Über Fotografie, ins Deutsche übertragen von Gertrud Baruch und Mark W. Rien. München (Hanser), S.23.

5 Miriam Arani (2011), Die Fotografien der Propagandakompanien der deutschen Wehrmacht als Quellen zu den Ereignissen im besetzten Polen 1939-1945, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 60, H. 1, S. 1-49, hier 2 f.

6 Bundesarchiv Koblenz, Legende von Bild 183-2008-0415-507

7 Zitiert nach Miriam Arani (2011), a. a. O, S. 14

8 Rudolf Augstein, Lieber Spiegelleser, in: Der Spiegel, Ausgabe 31/1953 vom 27. Juli 1953.

9 Bundesarchiv Koblenz, Legende zu Bild 146-1974-057-51.

10 Miriam Arani (2011), a. a. O, S. 30.

11 Maren Röger (2015), Kriegs Beziehungen, Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945. Frankfurt am Main, S. 29.

12 Maren Röger (2015), a. a. O., S 43.

13 Maren Röger (2015), a. a. O., S. 203.

14 Adalbert Forstreuter (1940), Deutsches Ringen um den Osten, Kampf und Anteil der Stämme und Gaue des Reichs“. Berlin, Abbildung S. 309

15 Roland Barthes, (1989, 14. Auflage 2019), Die helle Kammer. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 22.

16 Susan Sontag (1978, Neuausgabe 2002), Über Fotografie, ins Deutsche übertragen von Gertrud Baruch und Mark W. Rien. München (Hanser), S.22.

17 Adalbert Forstreuter (1940), a. a. O., S. 309

18 Es erscheint wahrscheinlich, dass noch nicht alle Fotos von Bajla Gelblung, die 1939 in deutschsprachigen Zeitungen publiziert wurden, bekannt sind, da das „Deutsche Zeitungsportal“ im Herbst 2021 noch im Aufbau begriffen war.

19 Schweizer Illustrierte Zeitung, 27. September 1939, Titelseite. 

20 Martina Thiele (2010), Medial vermittelte Vorurteile, Stereotype und ‚Feindinnenbilder‘, in: Martina Thiele / Tanja Thomas / Fabian Virchow (Hg.), Medien – Krieg – Geschlecht. Affirmationen und Irritationen sozialer Ordnungen. Wiesbaden. S. 61 – 80, hier S. 70/71.

21 Doch auch das lässt sich nicht ausschließen. Denn der Autor dieses Aufsatzes hat die Fotografie im Sommer 2021 bei einem Händler in Madrid erworben.

22 Yad Vashem, Zentrale Namenbank der Namen der Holocaustopfer, ID 14339821, ID 14339823, ID 14339826 und ID 14339828, aufgerufen am 2. November 2011.

23 The Ghetto Figther’s House, catalog nr 39494 bis 39496, aufgerufen am 2. November 2021.

24 Mémorial de la Shoah, aufgerufen unter am 2. November 2021.

25 Gerhard Schoenberner (1960), Der gelbe Stern, Die Judenverfolgung in Europa. Hamburg, S. 98.

26 Jüdisches historisches Institut, Warschau, bearbeitet und erweitert von Tatiana Berenstein, Artur Eisenbach, Bernard Mark und Adam Rutkowski (1960), Faschismus -Getto – Massenmord, Widerstand der Juden in Polen während des zweiten Weltkriegs. Berlin, S. 5.

27 Dalia Bukauskaite (2006), Kommentierter Katalog der nachgelassenen Bibliothek von Johannes Bobrowski. Trier, S. 167.

28 Dies bestätigte Klaus Völker am 23. Oktober 2021 mündlich gegenüber dem Autor dieses Aufsatzes.

29 Martin Gilbert (2001), Das jüdische Jahrhundert. München, S. 210. Fälschlicherweise wird dort das Jahr 1942 statt 1941 angegeben. Bei Schoenberner wiederum stimmt zwar das Jahr, nicht aber das Datum; fälschlicherweise wird dort der 6. September anstelle des 26. Oktobers genannt.

30 Siehe dazu Andreas Degen (2004), Bildgedächtnis, Zur poetischen Funktion der Sinneswahrnehmung im Prosawerk Johannes Bobrowskis. Berlin, S. 369/370.

31 Susan Sontag, a. a. O., S. 31/32.

32 Roland Barthes, a. a. O, S. 14.

Erstes Kapitel

1
Jakob Michael Reinhold Lenz wird in ein geknechtetes und von Kriegen verwüstetes Land hineingeboren. Das an der nördlichen Ostsee und am Finnischen Meerbusen gelegene Baltikum, Lettland und Estland, Lenzens Heimat, damals Livland genannt, ist seit Jahrhunderten Streitplatz großer Mächte, der Schweden, der Deutschen, der Polen und Russen. Eroberung und Rückeroberung, Belagerung; Krieg, immer wieder Krieg. Am Beginn des achtzehnten Jahrhunderts werden dem Land die schwersten Wunden zugefügt. Der Nordische Krieg tobt. In Schutt und Asche fällt alles, selbst die Zeugnisse der Renaissance und Ordensgotik, die in den vorherigen Kriegen verschont blieben. 1702 schreibt der russische Feldherr Scheremetew stolz über die Pflichterfüllung an seinen Zaren Peter I.: »Ich habe Dir zu melden, daß der allmächtige Gott und die allerheiligste Gottesmutter Deinen Wunsch erfüllt haben; in dem feindlichen Lande gibt es nichts mehr zu verheeren; von Paskow bis Dorpat, die Welikaja herab, die Ufer des Peipus entlang, bis an die Mündung der Narwe bei Dorpat, hinter Dorpat, über Lais bis Reval, fünfzig Werst weit gegen Wesenberg und wieder von Dorpat den Embach aufwärts zum Felliner See, gegen Helmet und Karkus und hinter Karkus bis auf achtunddreißig Werst gegen Pernau und von Riga bis Walk: alles ist verwüstet. Alle Schlösser niedergelegt. Nichts steht aufrecht außer Pernau und Reval … sonst ist von Reval bis Riga alles mit Stumpf und Stiel ausgerottet: die Orte stehen nur noch auf der Karte verzeichnet … an Deutsche habe ich hundertvierzig gefangen; wieviel Esthen, weiß ich nicht zu sagen; die Kosaken haben dieses Geschäft unter sich betrieben; ich habe ihnen die Gefangenen nicht nehmen mögen, um ihren Eifer nicht abzukühlen … Vieh und Esthen haben wir in Menge gefangen. Kühe sind jetzt um drei Altznen zu haben, Schafe um zwei Dengen, kleine Kinder um eine Denge, größere um eine Griwa, vier Stück kauft man für eine Altzne.«

In der Buchführung des Feldherrn Scheremetew findet sich auch ein säuberliches Verzeichnis all der Ortschaften, die er niedergebrannt und vernichtet hat. Das lettische Dorf Casvaine ist darunter.

Kaum fünfzig Jahre, ein Menschenalter danach wird Jakob Michael Reinhold Lenz dort am 23. Januar 1751 geboren. Elend, Fremdherrschaft und Ausbeutung, Hungersnöte und Pest, Brände und Überschwemmungen – das sind die großen erschreckenden Bilder von Lenzens Kindheit und Jugend. Die Gedichte des Fünfzehnjährigen werden davon sprechen. Zugleich ist die Nachkriegszeit eine Zeit des Aufbruchs und der Wiederbelebung, der regen Bautätigkeit und landwirtschaftlichen Sanierung. Das Land versucht, sich aus der Lethargie zu befreien. Das erstarkende Rußland, unter dessen Herrschaft Livland nun als eine Provinz des zaristischen Reiches lebt, schenkt vor allem nach dem Machtantritt Katharinas diesem Landesteil große Aufmerksamkeit.

Der Geburtsort von Lenz liegt im Gebiet Wenden, das eine Landfläche von 1750 Haaken umfaßt und 227 Güter und 29 Kirchspiele hat. Das Dorf Casvaine ist eines der größten Kirchspiele. Armselig dennoch, vom Krieg gezeichnet. Die Ruine einer alten Lettenburg, eines erzbischöflichen Schlosses später, erhebt sich in der Nähe. Im Dorf selbst die Katen, die Holzhäuser der Letten, gedeckt mit Holzschindeln oder Schilf. Die Stallungen, Scheuern, Kleeten, Badstuben und Eiskeller. Das Pfarrhaus bescheiden, nur ein wenig größer als die Bauernkaten, mit mehreren Räumen und Nebengebäuden. Die kleine, wieder errichtete Holzkirche auf einer Anhöhe. Das einzige Gebäude aus Stein ist das zum Gut Karstenbehn gehörende Haus. Andere Gutshäuser sind weiter weg, vereinzelte Gehöfte, verstreut in der Umgebung liegend. Цасвание nennen die Russen das Dorf, die Deutschen sagen Seßwegen. Und die Deutschen sind die herrschende Schicht. Von ihnen werden die Güter verwaltet, und die Besitzer sind fast ausschließlich Deutsche. Armer deutscher Landadel, der von der Ausbeutung eines fremden Volkes lebt. »Undeutsche« nennen die Gutsbesitzer anmaßend die, denen das Land eigentlich gehört. Auch die Pfarrer sprechen von »Undeutschen«, denn auch sie sind zumeist Eingewanderte aus Norddeutschland. So auch der Pastor des lettischen Dorfes Casvaine. Es ist Christian David Lenz, Lenzens Vater.

Der 12. Januar 1751 nach dem alten russischen Kalender, der 23. nach dem neuen, der Tag der Geburt. Unruhe, Aufregung im Pfarrhaus. Die kleinen Geschwister in einem Raum gebannt. In der großen Stube die Vorgänge. Die Mutter Dorothea Lenz ist dreißig Jahre. Ihr viertes Kind ist es. Mehrere Tage später, an einem Sonntag, ist die Taufe. Wir sehen den kleinen Zug, der sich vom Pfarrhaus zur Kirche bewegt, Vater Lenz, der Pastor, die Mutter mit dem Kind. Die Großeltern mütterlicherseits, Marie Neoknapp und ihr Mann, Pastor in Neuhaus. Die Taufpaten, von Lenzens Vater in das Kirchenbuch eingetragen: »ein Herr Regierungschirurgus Harlebusch, der den Taufpaten Pfarrer Jakob Andreas Zimmerman vertritt und zugleich selbst Pate ist, ein Herr Obristleutenant H. Otto Reinhold von Igelströhm, Erbherr von Selbou und Kronenhof, eine Frau Baronin Catharine, Witwe von Tiefenhausen, geborene von Berg auf Gravendahl und Fräulein Helene von Berg, des Landraths von Berg auf Erlaa Fräulein Tochter, deren Stelle die Fräulein Helene von Tiefenhausen, der verwittweten Frau Baronin von Tiefenhausen älteste Tochter vertritt«.

Pastor Lenz gibt seinem Sohn den Namen Jakob Michael Reinhold (Jacob Michael Reinhold steht im Kirchenbuch) und spricht den Segen: »Heiland, bewahre dem Knaben, was Du ihm in der Taufe geschenkt hast und so ers verliert, so suche ihn wieder, und halte ihn zu Deinen Kindern und Knechten; fange Dein Gnadenwerk in seiner Seele kräftig an und führe es fort bis zum Ende seiner Wallfahrt um Deines blutigen Verdienstes willen! Amen.«

Man verläßt die kleine Dorfkirche, geht ins Pfarrhaus hinüber, sitzt noch zusammen, feiert. Ein Baron, eine Baronin, ein adliges Fräulein, ein Regierungschirurgus. Pastor Lenz allein stammt aus ganz einfachen Verhältnissen. Kupferschmied ist sein Vater, er hat eine bescheidene Werkstatt in Köslin in Pommern. Dort ist Christian David Lenz am 26. Dezember 1720 zur Welt gekommen und aufgewachsen. Er wird nicht der Erstgeborene gewesen sein, die Kupferschmiede kann nur einer übernehmen. Und so schickt der Vater den Sohn Christian David, als er fünfzehn Jahre ist, von zu Hause weg. Dem Lehrer oder dem Pfarrer ist er vielleicht aufgefallen, ein heller Kopf, Theologie sollte er studieren; nach Halle, ins Preußische also, geht er. Dort an der Alma mater schlägt er sich fünf Jahre lang ohne finanzielle Hilfe der Eltern durch. An der Franckeschen Stiftung, dem Waisenhaus, gibt er Nachhilfestunden, macht Kopierarbeiten und anderes, um Freitisch und Schlafstelle zu haben. Mit zwanzig Jahren, 1740, beendet er das Studium und geht zurück nach Köslin. In Pommern wie in Deutschland sind die Pfarrstellen knapp, und Empfehlungsschreiben und Unterstützung von Gönnern hat der Sohn des Kupferschmiedes offenbar nicht. So wandert er aus, nach Osten ins Baltikum. Über die Hälfte aller Pastorate in Livland sind damals mit deutschen Theologen besetzt. Christian David Lenz fängt als Hofmeister bei einer Familie in Öttingen in der Nähe von Wenden, der größten Stadt des gleichnamigen Gebietes, an; andere Quellen sprechen von Baron Liphardt in Nötkenhof im Serbischen Kirchspiel. In jener Hofmeisterzeit jedenfalls lernt Jakobs Vater die lettische und estnische Sprache, tritt aus dem deutschen Untertanenverband aus, legt sein Examen im Livländischen General-Konsistorium ab und wird ordiniert. 1742 erhält er eine Pfarre in Serben. Dort muß er auch Jakobs Mutter begegnet sein. Dorothea Neoknapp, Tochter eines Pfarrers. Neoknapp, der das Pastorat in Neuhaus innehat, ist auch Deutscher, aber eine Generation vor Jakobs Vater ins Baltikum eingewandert. Dorothea ist schon in Livland geboren. 1744 heiratet sie Christian David Lenz. Er ist vierundzwanzig, sie dreiundzwanzig Jahre. Im folgenden Jahr kommt das erste Kind, dann 1747 das zweite, im Jahr darauf das dritte. 1749 zieht die Familie Lenz um. Eine Pfarrstelle ist frei geworden im Kirchspiel Casvaine, ebendort, wo Jakob Lenz zur Welt kommt, wo an einem Januartag 1751 im Pfarrhaus die Taufgesellschaft zusammensitzt. Herr und Frau Pastor Lenz mit den Baronen und Erbherren von den umliegenden Gütern.

Ungewöhnlich ist die Runde nicht. Ein Dorfpfarrer in Livland, aus welch ärmlichen Kreisen er immer stammt, ist gesellschaftlich und sozial dem Landadel etwa gleichgestellt. Zu einem Pastorat gehören, neben Pfarrhaus und Garten, Land und Leibeigene oder dienstverpflichtete Bauern. Das Land erhält der Pfarrer zudem steuerfrei, was ihm dem ärmeren Adel gegenüber sogar manchen finanziellen Vorteil bringt. Ein Dorfpfarrer in Livland ist also der Besitzer eines mittelgroßen, schuldenfreien und unbelasteten Landgutes. Sein Anwesen gilt zugleich als Besoldung, andere Einnahmen hat er nicht; es sei denn durch Publikationen oder Nebenarbeiten.

Die Hinwendung der Pastorenfamilie Lenz zum Landadel der Umgebung hat aber möglicherweise auch persönliche Motive. Jakobs Großmutter, die Mutter von Dorothea Neoknapp, ist eine Adlige, ein Fräulein Marie von Rhaden. Neoknapp, der Bürgerliche, wird ihr Hofmeister gewesen sein. Sie lieben sich, sie erwartet ein Kind. Die »Verführungsgeschichte« endet mit der Heirat, mit einer Mesalliance zwischen Bürgerlichem und Adliger, eine für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Sache. Skandal, Empörung, Klatsch – und nun, nach so vielen Jahren, eine geheime Überlegenheit bei Dorothea Lenz, ein sich Dazugehörigfühlen. Wir können es nur ahnen, die Familie bewahrt Schweigen.

Jakob, der Sohn, der Enkel der adligen Dame, wird in seinem Drama »Der Hofmeister« sprechen. Sein Hofmeister wird davongejagt, so wie es üblich war, und in widerlicher Doppelmoral endet die Tragikomödie. Die Familie Lenz und die mit ihnen befreundeten Adligen werden das dem Dichter nie verzeihen. Mit Empörung und Befremden spricht man darüber, daß er sich angemaßt hat, eine intime Geschichte öffentlich auszustellen.

An jenem Taufsonntag im Januar 1751 ahnt keiner der Anwesenden, daß mit Jakob einer heranwächst, der die Stumpfheit und bornierte Intoleranz ihrer Weltsicht und Lebensweise gnadenlos zur Schau stellen wird. Noch ist nichts Absicht und Gestalt. Wünsche für den Neugeborenen lediglich, ausgesprochene oder geheime. Und je nachdem, wie sich das Fest wendet, mit Selbstgebranntem zur Ausgelassenheit, zum Überlauten, oder zur religiösen Einkehr, Nachsinnen über den Taufspruch: »Heiland, bewahre dem Knaben … fange Dein Gnadenwerk in seiner Seele kräftig an und führe es fort bis zum Ende seiner Wallfahrt um Deines blutigen Verdienstes willen!«

Jakob Michael Reinhold Lenz wächst heran.

Schon im nächsten Jahr liegt ein anderer in der Wiege, sein Bruder Johann Christian. Jakob lernt laufen, er lernt sprechen. Zwei Jahre ist er. Drei. Der Vierjährige. Fünf wird er. Kein Schattenriß der Familie des Pastors Lenz existiert, kein Bild, auf dem man sie sehen könnte, Vater, Mutter und die Kinder. Vor dem Pfarrhaus aufgestellt vielleicht, in Sonntagstracht, 1757, eben in dem Jahr, als Jakob sechs wird. Der Vater im Talar mit überernster Miene, ein Fanatisierter, der er gewesen sein muß. Einer, der seine enge Lebenssicht unverrückbar zum Wort Gottes verklärt, hart und borniert. Die Mutter daneben, mit sechsunddreißig wirkt sie schon alt, ergeben, ohne Widerspruch, aber vielleicht ist sie mild, gütig. Den einjährigen Karl Heinrich Gottlob trägt sie auf dem Arm. Die anderen Kinder rechts und links von den Eltern. Der Älteste, der zwölfjährige Friedrich David, er kommt wohl nach dem Vater. Dann die beiden Schwestern, die zehnjährige Dorothea Charlotte, die neunjährige Elisabeth. Der fünfjährige Johann Christian. Und Jakob Michael Reinhold. Blond, schmal, feingliedrig, so wie er später beschrieben werden wird. Mit großen Augen. Die Haare kindlich lang oder schon hinten zusammengebunden. Die dünnen Beine in dunklen Wollstrümpfen, die Füße in Schnürschuhe gesteckt, viel zu groß, abgelegt vom Bruder wahrscheinlich. Die Kleidung der Kinder eine seltsam steife Nachahmung der der Erwachsenen.

Vorstellung. Möglichkeit. Die Kindheit Jakob Lenzens in dem lettischen Dorf Casvaine ist durch keinerlei direkte Zeugnisse belegt. Weder eine Äußerung von ihm selbst noch eine Äußerung von anderen gibt es.

2
Umrisse, in denen wir ihn sehen. Die Landschaft seiner Kindheit: Wiesen und nicht endende Wälder um das Dorf Casvaine. Hügelland, sanft und weit. Ein breites Tal jenseits des Dorfes. Felder, Brachland. Flächigkeit, Ebene. Der Himmel darüber groß, endlos weit der Bogen des Horizontes. Im Sommer die Farbschattierungen, schließlich beherrschend das satte Gelb der Ähren. Bei Dürre der Anblick kahlgefressener Roggenschläge. In der Nähe fischreiche Seen, Moraste. Ein kurzer Sommer mit hellen, einer bloßen Dämmerung gleichenden Nächten. Nordlicht und Wetterleuchten, das man »Mehlthau« nennt, an warmen Abenden ist es eine fast tägliche Erscheinung. Über den Morasten Nebel, der sich wie Rauch erhebt, langsam fortrückt und weit ausbreitet. Im Herbst Regen, Nordwind, Stürme. Die Vogelschwärme am Himmel, die Dohlen und Krähen. Und der Winter ist die beherrschende Jahreszeit. Er dauert sechs Monate.

Livland – das Land des Nordens. Waräger, Wilder, Nordländer, Sohn des rauhen Nordens wird sich Jakob Lenz später nennen, wird vom »braunen Himmel« Livlands sprechen. Winter ist von Ende Oktober bis Mitte April. Die Gewässer frieren zu. Der Schnee liegt hoch. Aber der Winter bedeutet nicht Erstarrung, nicht Ruhe, im Gegenteil, im Winter beginnt das Leben. Es ist die Zeit des Reisens, des Holzeinschlages und der Jahrmärkte. Der Schlitten ist ein schnelles Fortbewegungsmittel, und die zugefrorenen Gewässer und Moraste machen Abkürzungen möglich. Im Frühjahr werden die Wege unsicher, das Überqueren der Seen ist gefährlich. Eisgang setzt ein, die Schneeschmelze beginnt, und die Flüsse treten über die Ufer. Das Frühjahr, das oft lange auf sich warten läßt, ist die Zeit der Einsamkeit. Die Wege sind aufgeweicht oder überschwemmt, einzelne Gehöfte und ganze Dörfer sind von der Umwelt abgeschnitten. Der Vorfrühling in Livland mit seiner eigenartigen Landschaft voller Wasserfläche, schwärzlich-weiß.

Die Jahreszeiten bestimmen den Lebensrhythmus des Dorfes. Frühling, Sommer, Herbst und Winter, die Wiederholung der gleichen Arbeitsgänge. Im Frühjahr, sobald die Erde auftaut und das Schmelzwasser abfließen kann, wird gepflügt, Holz gesägt, Häuser werden gebaut und Zäune ausgebessert. Im Mai ist die Aussaat, die Mistfuhre und der Umbruch des Brachackers. Im Wald werden die Kohlen für die Schmiede gebrannt. Im Juni ist Heuernte, Tage und Nächte verbringen die Bauern auf den oft weit entfernten Wiesen, bis die Saden, jene kegelförmigen Haufen, oder die großen Kujen, hoch und spitz, aus zehn bis zwanzig Saden bestehend, auf der Wiese sind. Im Juli werden bei Niedrigwasser die Dämme bei den Mühlen ausgebessert. Im folgenden Monat beginnt die Kornernte. In langen formlosen Reihen, den Rauken oder Skirden, stehen Roggen und Hafer auf den Feldern, die Gerste auf kleinen Lattengerüsten. Dann die Einfuhr der Ernte. Die Fuder werden in die Riegen gebracht, später in Kleeten, Kornmagazine, weit abgelegen von den Gehöften, ein Teil nahebei in Handkleeten. Arbeiten im Spätherbst und Winter sind das Dreschen, das Bierbrauen, Mälzen, der Branntweinbrand, das Flachsen, Spinnen, die Leinwandherstellung, die Holzfuhre. Auf den zugefrorenen Seen wird das Schilf gemäht für die Dächer der Bauernhäuser, und das Eis wird gehackt und in die Keller gefüllt. Vorfrühling, Frühling, der Eisgang setzt ein, der Lebensrhythmus des Dorfes beginnt von neuem.

Lettische Leibeigene verrichten diese Arbeiten, Knechte, Mägde, Feldwächter, Bauern, Achtler, Halbhäkner, Viertler und sogenannte Lostreiber oder Landläufer, russische, estnische und lettische Gelegenheitsarbeiter. Die Lage der Leibeigenen in Livland ist schrecklich, schlimmer als in Rußland, von Deutschland zu schweigen. Selbst die Zarin Katharina muß in einem Ukas von 1765 zugeben, daß sie »wahrgenommen in wie großen Bedruk der Bauer in Liefland lebe«, sie spricht von »tyrannischer Härte« und »ausschweifenden despotisimo«. Der Bauer werde entweder »aufgerieben oder verjagt«, die »dritte Bedrückung« des Bauern sei »der Excess in der Bestrafung. Dieser ist so enorm, daß das Geschrey davon zu meinem empfindlichen Kummer bis an den Thron gedrungen«.

Was sieht ein Kind, das seine ersten acht Lebensjahre auf dem Dorf verbringt, von alle dem? Jakob Lenz muß Augen und Ohren dafür gehabt haben; er sieht, sieht hin, hört. Sein späteres soziales Gespür spricht dafür.

Dem Knaben Jakob begegnen sie, die Letten, bettelarm und halbverhungert, im Pastoratshaus des Vaters, in der Kirche beim Gottesdienst, im Dorf selbst, auf den Feldern, auf dem Jahrmarkt. Jahrmarkt ist jährlich dreimal in Seßwegen. Krämer kommen aus der Stadt. Salz und Eisen werden verkauft, Federvieh, Pferde. Und Menschen! Sie tragen Strohkränze auf dem Kopf. Lustig will das dem Kind scheinen. Die Kränze aber sind das Zeichen, daß sie als Leibeigene feilgeboten oder unter den Gutsbesitzern getauscht werden können, gegen Pferde oder Hunde, gegen Pfeifenköpfe, Jagdgerät und ähnliches. »Die Menschen sind hier nicht so teuer als ein Neger in den amerikanischen Kolonien«, schreibt Hupel, der bei Dorpat lebende Aufklärer und Publizist. »Einen ledigen Kerl kauft man für 30 bis 50, wenn er ein Handwerk versteht, Koch, Weber u. d. g. ist, auch wohl für 100 Rubel. Ebensoviel gibt man für ein ganzes Gesinde (die Eltern nebst ihren Kindern), für eine Magd selten mehr als 10 und für ein Kind etwa 4 Rubel.«

Und Jakob sieht die Leibeigenen im Pastorat, der Vater hat tagtäglich mit ihnen zu tun. Wenn ein Kind im Kirchspiel geboren wird, wenn geheiratet wird oder einer stirbt, müssen die Dorfbewohner zum Pastor kommen. Er hat das Seelenregister zu führen, das Verzeichnis der Getauften, Kopulierten und der Verstorbenen, hat es jährlich aus dem Kirchbuch abzuschreiben und an das Generalgouvernement Livland zu senden. Wöchentlich werden im Pfarrhaus »Dorfkatechisationen« abgehalten, und sonntags ist die Predigt in der Kirche. Im Winter macht Lenzens Vater »Hausbesuchungen«, wie es für einen Pastor üblich ist. Sie dienen dazu, den Bauern die Pflichten der sogenannten Haustafel einzuschärfen und zu prüfen, wie weit sie im Lesen und in der Erlernung des Katechismus gekommen sind. Meilenweit fährt er bei strenger Kälte, kommt in heiße, mit Rauch und Dunst von dem zum Dörren aufgesteckten Korn angefüllte dunkle Stuben der Letten, in denen Menschen und Tiere in einem einzigen Raum zusammengedrängt leben. Der Lette wird auf Stroh geboren, er schläft ohne Bettuch und stirbt auch so. Pastor Lenz wird den Sohn nicht zu seinen Katechisationen in die Bauernhütten mitgenommen haben. Aber in den Katen wird der Junge dennoch gewesen sein.

Auch im Pastorat erlebt Jakob die Bauern, wenn sie im Herbst ihre Abgaben entrichten. Wie dem Gutsbesitzer, so haben sie dem Pfarrherrn das Vorgeschriebene zu übergeben. Im September die Korngerechtigkeit. Auf Weihnachten zu den Gerechtigkeitsflachs, Garn, ein Schaf, Hühner, Gänse, Enten, fertige Leinwand. Zu anderen Jahreszeiten müssen die Bauern des Kirchspiels dem Pastor Beeren und Pilze bringen, auch Fische aus den umliegenden Seen. Fast alles, was auf dem Tisch der vielköpfigen Pastorenfamilie steht, kommt von den »Undeutschen«. Auch das, woraus die Mutter die Kleidung für die Familie macht, Garn, Schafwolle, Leinwand.

Und auf den Feldern wird er sie sehen, die Leibeigenen und die gemieteten Russen, die vom Gutsherrn für das Reinigen der Heuschläge pro Quadratmeter vier Kopeken bekommen, die estnischen und lettischen Lostreiber, die man für die Heuernte, beim Küttnisbrennen und Flachshecheln, bei der Ziegelscheune und zum Torfstechen braucht. Badstübner werden sie auch genannt, da sie oft in den Badstuben, den kleinsten Hütten auf den Gehöften, übernachten oder dort im Herbst und Frühjahr ihre Kleider trocknen, die Ärmsten der Armen.

 

Die Einteilung der Welt in Deutsche und »Undeutsche«. In diese Welt wächst Jakob hinein. Die einen dienen, die anderen herrschen. Der Mensch soll dem Menschen untertan sein. Gottgewollte Ordnung, die der Vater rechtfertigt und von der Kanzel herab verteidigt. Die »Undeutschen« hält er für faul, dumm und trunksüchtig, in der Bekehrung zum Christentum sieht er ihr Heil.

Nur wenige erkennen damals die Verhältnisse in ihren wirklichen sozialen Spannungen, einer davon ist der Livländer Jannau, der in seiner »Geschichte der Sklaverey und Charakter der Bauern in Lief- und Esthland« über die deutschen Prediger schreibt, »Herrschsucht« sei ihr »Beginnen und Dummheit die Fessel, die den Letten und den Esthen in der Sklaverey erhielt. Kein Einziger bildete durch die Religion, die er zu predigen doch berufen war. Ein jeder suchte Land und Leute, ward groß durch seine Thaten, und tötete die Freyheit der Unschuldigen, die er bekehren wollte.«

Das Christentum nimmt den Letten ihre heidnischen Götter, Laima, Mahte, Semkikka, Krihwe und andere, verfolgt ihre Zusammenkünfte in der Natur an heiligen Bäumen, Quellen und Hügeln. Von den Pfarrern und Gutsherren wird die Zerstörung dieser Stellen, das Abholzen der Bäume angeordnet. Unter strenger Strafe stehen die Treffen in den heiligen Hainen, auch ist es den Letten verboten, ihre Toten dort wie seit alters her zu begraben und Opfergaben, Wolle, Hanf und Flachs in Baumhöhlen zu legen. Die Christianisierung zerstört die heidnischen Bräuche, vernichtet unbarmherzig alte Volkstraditionen. Selbst das Spielen auf dem Dudelsack oder der Bockspfeife, den bei den Letten beliebten Instrumenten, wird von den deutschen Pastoren verfolgt. Oft wird den Bläsern der Dudelsack weggenommen, wird verbrannt oder zerschnitten, und die Musikanten werden vom Abendmahl ausgeschlossen. Gepredigt wird Gottesfurcht und Arbeitsamkeit. Der Pastor spricht das, was den Gutsbesitzern nützt. Und der deutsche Pfarrer wird von den Letten gesehen wie der deutsche Gutsbesitzer, als gefürchteter Herr, als Herr über ihr Leben und ihren Tod.

Haß gegen die Deutschen ist die Folge. Der lettische und estnische Bauer kann im Deutschen nur einen Feind sehen, »sein Schicksal hat den Haß in seiner Seele geboren, er ist und bleibt in seinem Herzen ein Widersacher des Deutschen«. Saks tulleb, der Deutsche kommt, ist ein Schreckwort, mit dem der estnische Bauer sein schreiendes Kind einschüchtert. Jannau, der das schreibt, geht auch auf die Faulheit ein, die »würklich unserm Bauer eigenthümlich ist«. Die ist »nicht angeboren, sie ist durch die Strenge der Leibeigenschaft angeerbt. Bey solchen Umständen müßte die menschliche Natur nicht das mehr seyn, was sie ist, wenn nicht Ueberdruß entstehen, und sich schnell Faulheit erzeugen sollte.«

In dieser Welt der sozialen und nationalen Spannungen, des Hasses, wächst der Junge auf. Mit Angst sieht er die Letten, denn er ist der Sohn des Pastors, er ist ein Deutscher. Und immer wieder wird er die unbarmherzig geißelnden Worte des Vaters von der Kanzel der Dorfkirche herab hören. Die Letten werden des »fleischlichen Sinnes, des Unglaubens, der verderbten Neigungen, der Gier, der überviehischen Trunkenheit und schändlichen Wollust« angeklagt, eines »faulen und leeren Maulchristentums« beschuldigt. Da ist von Sünden, von Buße, von einem Strafgericht Gottes die Rede.

Will Gott, was geschieht, wenn die Kirchgänger unter dem Geläut der Glocken das Gotteshaus verlassen? Ein Dorfpfarrer in Livland, also auch Lenzens Vater, ist für den Vollzug vom Landadel gerichtlich verhängter Strafen an den lettischen Bauern verantwortlich. Und des Sonntags nach dem Gottesdienst geschieht das. »Wenn der Gemeine aus der Kirche gehet, wird der Verbrecher an einen Phal unweit der Kirche angebunden, sein Leib von oben entblößt; der sogenannte Kirchenkerl oder Glockenläuter verrichtet die Execution; indem er allezeit mit zwo frischen schmalen Ruthen, die den Spießen und Spitzruthen ähnlich sind, drymal den entblößten Rücken des Verurteilten schlägt, dann ein Paar frische ergreift.«

»Die kleinste Vergehungen werden mit 10 Paar Ruthen geahndet, mit welchen nicht nach der gesetzlichen Vorschrift, mit jedem Paar drymal«, schreibt Katharina in dem schon erwähnten Ukas, »sondern so lange gehauen wird, als ein Stumpf der Ruthen übrig ist, und bis Haut und Fleisch herunter fallen.«

Jakob muß Zeuge solcher Exzesse gewesen sein. Aber: Die Strafen sind von den Adligen, den Freunden des Vaters verhängt, ihr Vollzug wird vom Vater selbst beaufsichtigt, muß das Kind sie nicht für gerecht halten? Und was hört es nicht alles flüstern und sprechen, wenn Pastor und Gutsherren im Pfarrhaus zusammensitzen. Angegriffen worden seien Gutsherren von Bauern mit Stöcken und Prügeln, dort und dort sei ein Gutsherr zu Tode gekommen durch seine Leibeigenen, einen anderen Adligen hätten sie in Stücke gehackt, eine Gutsherrin sei von ihren Leibeigenen erstochen worden. Vorfälle, die Hupel in seiner Chronik überliefert. Wovon Jakob hört, ist Aufbegehren einer verzweifelten, gepeinigten Masse.

Der Nordische Krieg und die Pestjahre von 1710 und 1711 haben die Bevölkerung von Livland, Estland und Kurland um die Hälfte reduziert. Die Gutsherren suchen dem wirtschaftlichen Ruin des Landes mit noch härterer Ausbeutung entgegenzuwirken. Hatten die Leibeigenen nach dem alten Wackenbuche wöchentlich eineinhalb Tage mit Anspann und des Sommers ebensoviel zu Fuß bei den Herren zu frönen, so müssen sie nun viermal soviel frönen, das heißt die ganze Woche über, zugleich aber alle anderen Abgaben entrichten. Und immer neue kommen hinzu, Reparatur von Landstraßen und Wegen, Materialzufuhr und Arbeitsleistungen an Pastorats-, Postierungs- und Krongebäuden. Abfuhr der Regimentsfurage, Kornmahlen und Viehhüten. Aber ihr Leben wird nicht besser, all ihr Schweiß und Blut verrinnt sinnlos. Sie haben nichts zu verlieren. Durch Krieg, Katastrophen und steigende Ausbeutung dreifach gequält, beginnen sie, gegen den Druck der Leibeigenschaft aufzubegehren. Das estnische Volkslied »Klage über die Tyrannen der Leibeigenen«, das der in dieser Gegend lebende junge Johann Gottfried Herder später in seine Sammlung »Stimmen der Völker in Liedern« aufnimmt, wird im Volk nicht mehr nur heimlich, sondern lauter und lauter gesungen.

Tochter, ich flieh nicht die Arbeit,
fliehe nicht die Beerensträucher,
fliehe nicht von Jaans Lande:
vor dem bösen Deutschen flieh’ ich,
vor dem schrecklich bösen Herren.

Arme Bauern, an dem Pfosten
werden blutig sie gestrichen.
Arme Bauern in den Eisen,
Männer rasselten in Ketten,
Weiber klopften vor den Türen,
brachten Eier in den Händen,
hatten Eierschrift im Handschuh,
unterm Arme schreit die Henne,
unterm Ärmel schreit die Graugans,
auf den Wegen bläckt das Schäfchen.
Unsre Hühner legen Eier
alles für des Deutschen Schüssel …

Im Gebiet Wenden, dort, wo Pastor Lenz mit seiner Familie lebt, und in den anliegenden Kreisen, im Walkschen, im Dorpatschen, brechen in jenen Jahren Bauernunruhen aus. Auch in Rußland ist es so. Katharina versucht zunächst durch einige Maßnahmen dem zu begegnen. Eine solche Politik vertreten auch in Livland einzelne aufgeklärte deutsche Gutsbesitzer. Der Landrat Baron Schoultz zum Beispiel, der Reformvorschläge macht, das Römerhoffsche Bauerngesetzbuch entwirft und auf seinem Gut praktiziert. Aber das stößt schon auf den erbitterten Widerstand der Überzahl der Landadligen. Ebenso wie die in ähnliche Richtung gehenden Vorschläge des livländischen Generalgouverneurs Browne. Sie werden 1765 vom Landtag abgelehnt. Daß die Leibeigenschaft in Livland, heißt es in den Landtagsakten dazu, »nicht aus Barbarei, sondern aus dem natürlichen Genie der … Nation abzuleiten sei« und »sehr wohl neben der Humanität stehen könne«.

 

Lenzens Vater stellt sich in allen diesen Fragen – nach seiner späteren Karriere in der livländischen Kirchenhierarchie zu urteilen – schon sehr bald auf die Seite des reaktionären deutschen Adels. Sein Aufstieg zum ersten Mann der Kirche Livlands ist die Geschichte seiner Anpassung. Aus Halle, der Hochburg des Pietismus, kommt Christian David Lenz. Von dieser Bewegung ist er in den Jahren seines Studiums geprägt. Der Pietismus als ein letzter großer Ausläufer des Mystizismus ist mit seinem Christentum der persönlichen Religiosität und sittlichen Lebensführung gegen die starre Kirchenorthodoxie gerichtet. Er fördert Kräfte im Menschen, die der Rationalismus vernachlässigt: Gefühl, Phantasie, Gemüt, Herz. Er läßt den einzelnen seine Subjektivität entdecken, innerhalb des religiösen Bewußtseins ein neues Selbstwertgefühl entwickeln. Das Schreiben von Tagebüchern ist ein Ausdruck dafür. Auch Lenzens Vater schreibt als junger Mann ein solches.

Der Pietismus bringt auch eine radikale Bewegung hervor: die Herrnhuter. Und sie beginnen gerade in Livland eine große Rolle zu spielen. Sechs Jahre nach der Gründung der Sekte durch Graf Zinzendorf kommen 1729 die ersten Vertreter als Handwerker nach Livland, »um durch Beispiel und Belehrung auf das Landvolk einzuwirken«. 1736 unternimmt Zinzendorf eine Reise durch Livland und besucht seine Freunde. Die Ideen der Herrnhuter treffen auf die katastrophale Lage der Menschen, und in den vierziger Jahren finden sie einen gewissen Widerhall im estnischen und lettischen Volk. An einigen Orten sammelt sich sogar in der Bewegung der mährischen Brüder der Widerstand gegen die Grundbesitzer. Auch Pastoren schließen sich der Bewegung an. Radikale Führer treten offen gegen die Willkürherrschaft der Grundherren auf. Das führt 1743 – neben den ständigen Konflikten mit der offiziellen Kirche – zum direkten Verbot der Herrnhuter in Livland. Als der Vater von Lenz, zwanzigjährig, von der Universität Halle kommt, scheint er den sozialen Ideen gegenüber noch aufgeschlossen. Wie aus einem seiner Berichte an das Oberkonsistorium in Riga hervorgeht, setzt er sich für die Herrnhuter ein. Ein Jahr vor dem Verbot ist das. Bis er merkt, wie gefährlich und seiner eigenen Karriere hinderlich dieses Engagement ist. »Der schnelle Beyfall wurde durch ethliche Vorfälle, Untersuchungen usw. etwas gemildert«, teilt Hupel mit. »Einige, selbst Prediger, traten zurück. Zween Anhänger, den öselschen Superintendent Eberh. Gutsleff und einen andern dasigen Prediger, betraf wegen gewisser Anschuldigungen das Schicksal, daß sie im J. 1747 nebst zween andern Brüdern nach St. Petersburg geführt wurden, wo der erste im J. 1749 im Gefängnis starb; doch erhielt der zweyte im J. 1762 seine Freiheit.« Pastor Lenz distanziert sich auch öffentlich von den Herrnhutern. 1750 erscheint in Königsberg eine seiner Predigten. »Es war der Verfasser selbst unter die Herrnhuter geraten«, gesteht er, »da er aber den Urgrund ihres Wesens einsah, trat er von ihnen ab und schrieb die erwähnte Vorrede.« Diese will »der Reuertheologie der Herrnhuter die Larve abziehen«. Nun, da er selbst Pfarrherr ist und im Anblick von Armut und Elend der Bauern die Unversöhnlichkeit der Gegensätze ahnt, läßt er die sozialen Belange fallen. Seine Predigten werden immer orthodoxer, härter und unnachgiebiger. Man spürt kaum wirkliche Liebe zum Menschen, statt dessen aber fanatisches Eifern. So in einer Predigt, die Pastor Lenz 1751 veröffentlicht und die er drei Jahre zuvor, am 14. August 1748, im benachbarten Wenden hielt, kurz nachdem dort ein großes Feuer die Stadt verheerte, viele Häuser zerstörte und auch Menschenleben kostete. Durch ihre »schweren Sünden« hätten die Einwohner den »Zorn des Allmächtigen gereizt … Was Wunder, daß der Herr endlich seinen Grimm über euch ausgeschüttet hat?… Niemand hat je sein eigen Fleisch gehasset, sondern ernähret es und pfleget sein … Erstaunliche Sorglosigkeit! diese allein verdiente Sodoms Schwefelbrand«. Die Veröffentlichung der Wendener Predigt geschieht, so sagt Pastor Lenz in der Vorrede, da die Einwohner nach der Feuersbrunst ihr schändliches Leben fortsetzen und wieder »Holz zum Feuer tragen«. Das »Feuergericht in Wenden« sollen sie »als eine Stimme Gottes ansehen, die ihnen zuriefe: So ihr euch nicht bessert, werdet ihr alle auch also umkommen«. Ob solcher Beschuldigungen strengt die Stadt Wenden gegen Pfarrer Lenz einen Prozeß beim Oberkonsistorium und Hofgericht an und gewinnt ihn.

Pastor Lenz fährt dennoch mit seinen Straf- und Bußpredigten fort, Sonntag für Sonntag in seinem Kirchspiel Seßwegen.

Wir sehen den Knaben Lenz in der lutheranischen Dorfkirche in Casvaine sitzen. Die lettischen Bauern haben sie nach dem Krieg wieder errichtet. Aus rohen Holzbalken ist sie gezimmert, ein einfaches Schiff mit flacher Decke. Am Altar Christus am Kreuz, aus Holz geschnitzt. Im Raum selbst schwere Holzbänke, wie Abteile, mit Türen versehen, rechts die Frauen, links die Männer, am Eingang zu jeder Reihe Kerzenhalter. Der Fußboden ist aus viereckigen Ziegelsteinen. Der einzige Schmuck sind die farbigen Malereien auf dem Holz von Fenstern und Wänden, barocke Formen, Wandbespannungen vortäuschend. Die Kirchspiele sind arm, kaum eine Dorfkirche in Livland kann sich damals eine Orgel leisten. Eine Trommel, wie sie die Soldaten im Krieg mit sich führen, steht neben dem Altar, und beim Einsetzen und Singen der Kirchenlieder gibt der Trommler den Rhythmus an.

Der dumpfe Gesang, einzelne hohe Frauenstimmen sind herauszuhören. Die lettischen Bauern, die Leibeigenen sitzen in den Bänken, eine finstere, graue, gleichförmige Masse. Bis auf den letzten Platz ist die Kirche gefüllt, Pastor Lenz duldet keine Säumnisse im Kirchgang. Seine Rede (meist predigt er ein bis anderthalb Stunden) ergießt sich über die Gemeinde.

Der Vater auf der Kanzel, unnahbar, ein Richter, Gott selbst. Der Vater ist die absolute Autorität, der Welterklärer. Der Mächtige, den man lieben und fürchten muß. Davon wird Jakob Lenz sich sein ganzes Leben nicht befreien können. Die Vatergestalt bleibt immer übermächtig und erdrückend. Für den zwanzigjährigen, den dreißigjährigen, den vierzigjährigen Lenz, bis zu seinem Tode.

Das liegt in der Kindheit. Da ist es schon in seinen zerstörerischen Konsequenzen angelegt, aber noch nicht sichtbar. Noch ist es Schrecken und Süße, Furcht und Geheimnis für das Kind.

Und immer wieder während der endlos langen Gottesdienste mag Jakob nach oben gesehen haben an die Holzdecke. Sie wird, wie die meisten Dorfkirchen damals in Livland, einen naiv bemalten Himmel haben, blau über die ganze Fläche, darauf schwebende Engelsgestalten, die zur Ehre Gottes musizieren. Engel mit Geigen, mit Tuben, mit Flöten, mit Trommeln, mit Hörnern, Trompeten und Harfen. Noch niemals hat Jakob solche Instrumente wirklich gesehen, niemals ihren Klang gehört. Seine Phantasie entzündet sich. Und auch die biblischen Geschichten, die der Vater als Gleichnisse gibt, lösen sich ab von seinem kleinlichen Eifern, berühren in ihren großen poetischen und menschlichen Bildern die kindliche Phantasie.

Jene Geschichte von Jesus von Nazareth, den die Hohepriester und Ältesten des Volkes banden und abführten, von Judas Ischariot um dreißig Silberlinge willen verraten. Jesus von Nazareth, vom Volk mit Speichel bedeckt, die Kleider vom Leib gerissen und höhnisch in einen Purpurmantel gehüllt, eine Dornenkrone auf das Haupt gedrückt, der König der Juden. Jesus von Nazareth, vom Landpfleger Pontius Pilatus übergeben, schweigend gegen seine Ankläger, unschuldig zum Tode verurteilt. Unschuldig fließt sein Blut, unschuldig wird er ans Kreuz geschlagen. Eine gewaltige, erregende, das Kind wohl bis ins Innerste treffende Geschichte. Wie auch die Visionen der alttestamentarischen Propheten, die Offenbarungen Johannis. Seine ersten Gedichte werden es bezeugen.

Große, unauslöschliche Bilder der Bibel sind es, die neben die erschreckenden Bilder der Gegenwart Livlands treten. Geprägt aber immer wieder und verzerrt durch den Vater, moralischen Zwecken untergeordnet, Geboten, Verboten, Gottgefälligkeit, Sünde, Strafe, Buße. Vorstellbar die Angst des Kindes. Vor der Strenge des Vaters, seinen Strafen, die als die Gottes ausgegeben werden. Was ist Sünde, die kleinen Vergehen, Spielen mit lettischen Kindern, Sprechen mit den »Undeutschen«, der Überdruß, ewig auf die Geschwister aufzupassen, die Regungen des eigenen Körpers, fremd, unerklärlich; die Gier nach phantastischen Geschichten, nach Worten, Sätzen, Reimen, Rhythmus, nach den Büchern, die Sucht nach Einsamkeit, das heimliche Entfernen aus dem Pfarrhaus?

Wiederum Umrisse: der Achtjährige, auf irgendeinem lettischen Bauerngehöft. Er sitzt im Versteck in der Tenne, wenn das Dreschen beginnt, der Riegenkerl gewählt wird, der die Riege mit Strauchwerk beheizt und aufpaßt. Jakob sieht, wie das Getreide zunächst durch Feuer gedörrt wird. Dann die Roggengarben mit den Händen an die Wand geschlagen werden, bis die schweren Körner, die zur Saat taugen, herausfallen. Weizen, Gerste und Hafer werden erst mit den Füßen ausgetreten, ehe man mit dem Dreschflegel schlägt. Kornlaufen heißt es. Auf dem Boden der Tenne liegt das Getreide. Knechte und Mägde bewegen sich tanzend darauf. Der Dudelsack spielt. Die nackten Füße der Mädchen im wirbelnden Tanz auf der Tenne. In heller Erregung sitzt der Junge in seinem Versteck.

Ein anderes Bild: Jakob im Sommer, barfuß, im Leinenkittel, an einem der umliegenden Seen. Er sieht den russischen und polnischen Wanderfischern zu, die diese Seen befischen und mit ihren großen Netzen Rebsen, Hechte, Quappen, Stinte, Turben, Bleie, Barse und Füdchen fangen. Wortfetzen, fremde, Russisch, Polnisch. Und die Sprache der Letten im Dorf, auch sie fremd, doch manches geläufig, vom Vater gehört. Und ein drittes Bild: Jakob entdeckt in einem hohlen Baum Wolle, Wachs, Garn, Brot, Opfergaben der Letten für ihre Götter. Getrieben von Neugier, erlebt er eines ihrer heidnischen Feste. Im Freien unter großen Bäumen auf Hügeln wird es begangen. Geheim geschieht alles. Feuerschein und seltsame Gesänge, Tänze und Riten. Jakob in schrecklicher Angst hinter einem Strauch, entdecken die Letten ihn, den Pastorssohn, wird es schlimm, und erfährt der Vater davon, wird es noch schlimmer.

Jakob ist in den ersten acht Jahren der Kindheit in Casvaine sich sicher viel allein überlassen. Der Vater ist mit Pflichten im Kirchspiel überhäuft. Durch die Einwanderung in das fremde Land ist Lenz auch von der vorhergehenden Generation, der des Großvaters und der Großmutter väterlicherseits, getrennt. Die Eltern der Mutter wohnen in Neuhaus im gleichen Gebiet Wenden, nicht allzuweit entfernt, aber nicht nah genug für ständige Begegnungen. Der Großvater Neoknapp ist dort bis an sein Lebensende Pastor. Vielleicht gelegentliche Besuche. Wenn ein Kind geboren wird, kommt die Großmutter. Bleibt eine Zeit, jene skandalumwitterte Großmutter Marie von Rhaden, verheiratete Neoknapp. Märchen, Lieder, Musik, wenn sie da ist.

Wir wissen es nicht. Auch nicht, welchen Einfluß die Mutter auf die Kinder hat, besonders auf Jakob. Über ihr Äußeres und ihren Charakter ist nichts überliefert. Einen einzigen Brief von Dorothea Lenz an den Sohn gibt es. Ein kleines Schreiben voller orthographischer Unbeholfenheiten. Vierundzwanzig ist Lenz da und schon Jahre im Ausland. »Mein allerliebster Jakob«, schreibt die Mutter, »wie vergeblig habe ich nun so viele Jahre auf Deine Zu hause Kunft gewartet, wie oft habe ich nicht umsonst aus dem Fenster gesehn, wenn nur ein Fragtwagen ankam, ob ich Dich nicht erblickte, allein vergebens. Wie manche Tränen und Seufzer, habe ich nicht zu Gott geschickt, daß er Dich führen und leiten mögte. Ach wenn ich Dich auch noch einmahl sehen könnte, vor meinem Ende, und Dich segnen, ehedem ich sterbe, so wolte ich zufriden sein. Wie lange wiltu so herum irren, und Dich in solche nichtswürdigen Dinge vertifen, ach nimm es doch zu Herzen was Dein Vater Dir schreibt, es ist ja die Wahrheit, nimm es nur zu Herzen, und denke nach, was wil aus Dir werden? ich billige alles was Papa geschrieben hat.« Kein Vorwurf ist in ihrem Ton. Leiden, mütterliche Ängste. »Melde mir auch«, fährt sie fort, »ob Du jetzo ganz gesund bist mit Deinen Halse und Zähnen; ich bin Deinetwegen sehr besorgt gewesen.« Und am Schluß: »Uebrigens grüsse und küsse ich Dich zährtlig mein liebes Kind. Gott segne Dich und leite Dich auf seinen Wegen.« Die Mutter wird Jakob nicht wiedersehen, im Sommer 1778 stirbt sie, ein Jahr bevor er nach Livland zurückkommt. Von Kränklichkeit und Schwäche seiner Frau ist bei Lenzens Vater schon sehr zeitig die Rede, von nichts anderem. Auch Jakob äußert sich nicht über seine Mutter. Sicher spricht sie ihm die ersten Verse vor, singt ihm Kirchen- und Volkslieder. Sie ist in Livland aufgewachsen, kennt die schwermütigen und eigenartigen Gesänge der Esten und Letten. Zweistimmig gesungen, der Refrain besteht gewöhnlich aus den Wörtern Kassikenne, Kannikenne, mögen sie auf den Inhalt passen oder nicht. Die Neigung zur Musik, die Freude am Tanz mag die Mutter Jakob eingegeben haben. Bald wird der Junge Klavier spielen lernen (»Candid. Hoffmann, d. euch auf dem Claviere informirte« wird erwähnt), später lernt Lenz das Lautenspiel. Und Märchen mag die Mutter ihm und den Geschwistern erzählt haben. Vielleicht tut es aber auch eine alte lettische Magd, die es in den meisten deutschen Pastorenfamilien gibt. Sie berichtet Jakob, was sie selbst als Kind und junges Mädchen in der Korndarre oder an den langen Winterabenden in der Spinnstube hörte, da das Feuer wärmte und der Kienspan brannte. Die Märchen von Pikne Dudelsack, vom Galgenmännlein, vom Bäumling und Borkeline, von der schnellfüßigen Königstochter und der Aschentrine, die Geschichten von Kaval-Ants, dem schlauen Ants, und von den gewitzten Darren- und Tennenwarten und Riegenaufsehern, die Märchen von Vanatulu, dem Teufel, vom Tontlawald, dem Gespensterwald. Und von der Vogeltäuschung. Nach einem alten Volksglauben muß man gleich früh am Morgen einen Bissen essen, Vogelstimmen auf nüchternen Magen zu hören bringt Unglück.

Der Vater wird das alles nicht gern gesehen haben, und ganze Tage und lange Abende muß das Kind sicher in seiner Studierstube an den Hausandachten und Selbstbesinnungen teilnehmen, die pietistische Atmosphäre der Prüfungen, Tröstungen, Erleuchtungen, der Bußen von weltlichen Sünden in sich aufnehmen. Dort wird er, nachdem wohl die Mutter ihm die Anfänge des Lesens und Schreibens beigebracht hat, vom Vater den ersten Unterricht erteilt bekommen. Zusammen mit dem ältesten Bruder, den der Vater in seiner wenigen freien Zeit unterrichtet. Griechisch, Latein, Religionsgeschichte. Jakob ahmt nach, bekommt vom Vater sicher zuweilen eigene Aufgaben, löst sie überraschend, glänzt im Auswendiglernen.

Als der Bruder zwölf Jahre alt ist, verläßt er das Haus. General Berg bringt ihn nach Königsberg, dort soll er sich am Fridericianum auf das Theologie-Studium vorbereiten. Das ist 1758.

Anfang des Jahres 1759 gibt es große Bewegungen im Seßwegener Pfarrhaus. Unruhe. Flüstern, Sprechen der Eltern, Besuch vom Oberkonsistorium aus der Stadt. Vorstellung eines Nachfolgepastors. Lenzens Vater wird befördert. Eine Stadtpfarre in Südestland, in Dorpat, ist frei geworden. Pastor Lenz erhält sie. Im Januar wohl steht es fest. Ende Februar zieht die Familie um. Der mobile Hausrat wird verpackt. Viel ist es nicht, was ihnen gehört. Küchengerät, Töpfe, Bücher, Schreibsachen, Kleider, Bettzeug, die Wiege. Die Mutter erwartet das nächste Kind.

25. Februar 1759. An diesem Tag setzten sich vor dem Pfarrhaus die Schlitten in Bewegung. Beladen bis obenan, Körbe, Truhen, die Federbetten in Fässern. Die Kinder dick vermummt. Dorothea Charlotte zwölf, Elisabeth elf, Lenz acht, Johann Christian sieben. Der Pastor und seine Frau. Die lettischen Bauern stehen schweigend. Abschied. Hinter dem Dorf öffnet sich für Jakob eine Welt und eine zweite und eine dritte. Unendlichkeiten. Eine Schneelandschaft. Hügel an Hügel, eine sanfte Landschaft. Rechts und links der Wege kahle Erlen und Birken, die von der Bewegung des Gefährtes, auf dem er sitzt, willkürlich verändert werden, übergroß in der Nähe, in der Ferne sich verkleinernd, schließlich im Fluchtpunkt scheinbar vereint. Seltsames Spiel. Und der Himmel, der »braune Himmel Livlands« darüber aufregend und ruhelos, ein großer Himmel, der alle Erwartungen und Hoffnungen des Kindes birgt.

3
Schon ist die Silhouette von Dorpat erkennbar. Aber es dauert noch Stunden, bis die Schlitten die Stadt erreichen.

Dreitausend Einwohner zählt Dorpat, auch Tarbat, Tartu, Tarbeten, Dorpt oder russisch Jurjew genannt, im Süden Estlands gelegen. An der Straße nach Sankt Petersburg befindet sich die Stadt, ist von Riga 226 Werst, von Reval 185 Werst und von Narwa 174 Werst entfernt. Es ist die älteste Stadt überhaupt, älter als Riga und Reval. Wie das gesamte Baltikum hat das 1012 gegründete Dorpat eine schmerzliche und wechselvolle Geschichte. Eroberung durch den deutschen Orden, 1558 dann Einnahme der Stadt durch den Zaren Iwan Wassiljewitsch. Im siebzehnten Jahrhundert mehrfache Belagerungen durch die Polen, durch die Russen, durch die Schweden, vierzehn Belagerungen und elf Eroberungen insgesamt. Die Schweden sind die Sieger; lange lebt Dorpat unter schwedischer Herrschaft. Schließlich, am Ende des über zwanzigjährigen Nordischen Krieges fällt Estland und der nördliche Teil Lettlands an Rußland.

Im Krieg wird Dorpat 1707 durch »springende Minen beynahe zum Steinhaufen« gemacht. Ein Jahr danach werden vom Zaren Peter I. alle deutschen Einwohner Revals, Narvas und Dorpats nach Rußland verschleppt, da sie der Verräterei mit den Schweden beschuldigt werden. Sieben Jahre liegt Dorpat wüst und öde, nur wenige Letten sind in der Stadt, in den Ruinen leben Tiere, 1721, im Jahr des Nystädter Friedens, dürfen die Exilierten zurückkehren, Peter I. gibt der Stadt ihre Rechte und Privilegien wieder. Aber nur langsam erholt sich Dorpat, 1724 zählt die Stadt siebzehn neue Bürger, ein Jahr später kommen zehn hinzu.

Als Jakob Lenz mit seinen Eltern nach Dorpat zieht, sind überall die Narben des Krieges sichtbar. Die vier Stadttore, das deutsche und russische am Fluß Embach, auf der anderen Seite das Jakobs- und das Andreas-Tor, liegen in Trümmern. Von der auf dem Berge, dem Tommemägi, sichtbaren gotischen Domkirche Sankt Dionysi stehen nur noch die Mauern, vierundzwanzig starke Pfeiler, die das Gewölbe trugen, und ein Rest des Turmes. Auch die auf dem Hügel neben dem Domberg liegende Schloßkirche ist zerstört. Ebenso alle öffentlichen Gebäude, die Universität, vom schwedischen König Gustav Adolf gegründet und mit den gleichen Privilegien wie Uppsala ausgestattet. Das Rathaus, die großen Vorratskammern für Korn und Flachs, alles ist im Krieg vernichtet worden. Zögernd beginnt man in den dreißiger Jahren mit dem Wiederaufbau, die sechziger Jahre dann sind von einer umfangreichen Bautätigkeit belebt. Es sind die Jahre, da Lenz in der Stadt wohnt. Der Knabe, der Jüngling, fast zehn Jahre verbringt er in Dorpat. Es sind die Jahre des Schulganges, die Vorbereitungszeit auf das Studium. Acht ist er, als er mit den Eltern in die Stadt kommt, über siebzehn, als er sie verläßt.

Eine Stadt, aus Trümmern erwachsend, sich erhebend nach all dem Leid, eine Stadt voll Schmutz und Elend. Esten, Deutsche und Russen leben in der Stadt. Die Russen sind Kaufleute und Händler, auch Handwerker, Maurer und Gärtner. Die Deutschen sind Handwerker, zumeist aber sogenannte Gelehrte, Beamte, Pfarrer, Stadtschreiber, Notare. Sie bilden, gemeinsam mit den wohlhabenden russischen Kaufleuten, die Oberschicht. Besetzen Bürgermeisteramt und leitende Positionen, üben die Gerichtsbarkeit aus. Die Esten sind die unterdrückte Schicht, sind Hausbedienstete, Tagelöhner, entlaufene Leibeigene, der Pöbel. Die Nachkriegszeit aber gibt den Esten Aufstiegschancen. Die Handwerker nehmen auch in Ermangelung anderer estnische Burschen, die arbeiten sich hoch, werden Meister. Viele Esten sind freie Städter, Fuhrleute, Schiffer und Fischer. Aber sie haben nur zum Teil Stadt- und Bürgerrechte, werden schlecht behandelt. Alle Lasten der Stadt, Einquartierungen, Wege- und Festungsbau und sonstige Dienste werden ihnen aufgebürdet. Dorpat ist eine Stadt mit tiefen und unversöhnlichen sozialen und nationalen Gegensätzen. Die Deutschen hassen die »Undeutschen«, die Esten die Eingewanderten und die Russen. Spannungen zwischen Deutschen und Russen, Machtkämpfe. Alles im Schatten des vergangenen Krieges, im Schatten der Not. Eine Stadt mit ihrem Fleiß, ihrer Redlichkeit, ihrer Biederkeit, hinter der Habsucht lauert, ihrer Gelehrsamkeit, die oft Hohlheit ist, eine Stadt mit ihren Glaubensgrundsätzen und ihrer Unterdrückung Andersdenkender, ihrer Kleinlichkeit und Arroganz.

Diese baltische Kleinstadt wird nun für viele Jahre der Raum des Heranwachsenden. Auf dem Domberg wird er mit Schulfreunden und estnischen Jungen spielen, auf dieser kahlen Fläche, in den gespenstischen Ruinen, des Sommers und im Winter, da es in der Dämmerung einen besonderen Reiz hat. Er wird auf den Wiesen, Heuschlägen und Viehweiden diesseits und jenseits des Flusses zu finden sein, wird in der Vorstadt herumstreifen, alles erkunden, bis zur Bischofhoffschen Grenze hin, die Mühlen, den Neuen Kirchhof, den Rabenstein und den Jarmakrug, wo der Weg nach Luzia geht. Ja, bis zu den äußersten Enden der Stadt, wo die Rigische und die Pleskowsche und auf der anderen Seite die Petersburgische Straße in unbekannte Fernen führen.

Jakobs unmittelbares Zuhause aber ist die Gegend zwischen der Johannis- und der Ritterstraße, nicht weit vom Domberg. Dort ist die Stadtpfarrkirche, in der der Vater predigt. Die Kirche Sankt Johanni, ein riesiger dreischiffiger Backsteinbau aus dem Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, gotisch, mit spätromanischem Portal und glasiertem Kachelwerk. Auch diese Kirche ist im Nordischen Krieg zerstört und ausgeraubt, jahrelang muß der Gottesdienst in der Scheune eines nahe gelegenen Stadtgutes gehalten werden. Aber bald beginnt man mit der Restauration, in Lübeck wird Geld gesammelt, Kaiser Peter gibt hundert Dukaten, die Revaler Bürger dreiundvierzig, man schafft einen Kirchenkasten an und versieht ihn mit tüchtigen Schlössern. 1740 wird dann der Kirchturm wiedererrichtet und gedeckt, der Dorpater Kupferschmied Christian Brackmann arbeitet Knopf und Hahn kostenlos. Altar und Kanzel werden aus dem Pleskowschen herbeigeschafft, die Orgel wird repariert. Als Jakob mit seinen Eltern nach Dorpat kommt, erlebt er die Kirche so.

Ein gewaltiger Eindruck muß es gewesen sein.

Um die Kirche stehen die kleinen Häuser, nach dem Kriege notdürftig gebaut, die meisten einstöckig, nur wenige mit Mansarden, nicht mehr mit Stroh gedeckt, sondern mit Schindeln oder Ziegeln. Zwischen Johannis- und Ritterstraße, links vom Kirchenschiff, sind die Wohnhäuser vom Kaplan, Organisten, Kantor und Pastor, rechts das Armenhaus und andere Gebäude. In der Johannisstraße selbst, schräg gegenüber dem Hauptportal der Kirche, ist ebenfalls ein Wohngebäude für einen Pastor. Hier also oder an der Ecke zur Ritterstraße muß Pfarrer Lenz mit seiner Frau und seinen zahlreichen Kindern gewohnt haben. Der Vater klagt über den schlechten Zustand des Hauses, schreibt an die Herren Ämtermänner der Stadtgilde, daß er sie bitte, »einmal auf die Anbauung eines neuen Pastoraths für mich mit mehreren Ernst bedacht zu seyn, als bisher geschehen. Sie wissen es selbst wohl, wie alt und baufällig meine jetzige Wohnung als die dazu gehörigen Nebengebäude sind. Ich will Ihnen also nur noch zu Gemüthe führen, daß ich und meine arme kränkliche Frau in diesem Hause Leben und Gesundheit aufs Spiel setzen, und besonders letztere denen häufigen und gefährlichen Zugwinden in demselben ihre erstaunenden und anhaltenden Flüsse an Kopf und Zähnen zu danken hat. Jeder Fremde, der mich besucht, wundert sich, daß ich schlecht logirt bin, als vielleicht kein Prediger im ganzen Lande ist, und es wird insgeheim der ganzen Stadt zur Last gelegt, daß sie kein besseres Pastorat für mich besorge, da sie doch auf andere Ausgaben oft soviel verwende.« Aus welchem Jahr der Brief ist, wissen wir nicht. Aber es hat sich wohl nichts geändert, die ganzen zwanzig Jahre seiner Dorpater Amtszeit wohnt Pastor Lenz in diesem Haus. Für Jakob ist es zehn Jahre sein Zuhause.

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Der Junge wird zunächst noch für einige Zeit mit seinen Schwestern Dorothea Charlotte und Elisabeth in die Elementarschule gegangen sein, in die sogenannte Töchterschule, in der Mädchen und kleine Knaben von dem Lehrer Johann Daniel Krusen unterrichtet werden. Aber alles, was da zu lernen ist, hat ihm die Mutter wohl schon beigebracht, oder er hat es in Seßwegen mitbekommen, als der Bruder vom Vater unterrichtet wurde. Vielleicht finden die Eltern auch eine Winkelschule für ihn, wo die Stadthonoratioren in einem Wohnhaus vier oder fünf etwa gleichaltrige Knaben gemeinsam unterrichten lassen.

Dann endlich hat er das Alter, um die höhere Schule zu besuchen. Dorpat hat eine Lateinschule, eine »combinierte Kron- und Stadtschule«. 1731 ist sie nach der Zerstörung an Stelle des einst von Gustav Adolf gegründeten Gymnasiums wieder errichtet worden. Ein hölzernes Schulhaus, wie wir wissen, daneben zwei Gebäude, auch aus Holz, in einem wohnen auf Kosten der Krone Rektor und erster Lehrer, im anderen, von der Stadt besoldet, Subrektor und Rechenmeister. Vier Klassenstufen hat diese Schule, Quarta, Tertia, Sekunda und Prima, und sie besitzt den Status eines Gouvernements-Gymnasiums, ist zur Vorbereitung auf die Universität zugelassen, die Schüler müssen nicht nach Riga oder Reval reisen wie später in den neunziger Jahren, als man das Gymnasium in eine einfache Volksschule umwandelt und ihr den Status aberkennt. Der Grund: Schüler aus Dorpat gehen kaum zur Universität. Innerhalb von neun Jahren, zwischen 1749 und 1758, ist es niemand. Wie überhaupt die Stadtschule nach den Kriegswirren nur wenige Schüler hat, seit 1731 ist die Zahl in der Sekunda immer zwischen acht und dreizehn, zu Johanni 1749 ist kein einziger Schüler da, drei Jahre später sind es wieder zwei, in der Tertia befindet sich oft nur ein Schüler.

Als Jakob mit zehn oder elf Jahren an die Dorpater Lateinschule kommt, hat sich die Zahl der Schüler vermehrt. Jakob Lenz, so berichtet Konrad Gadebusch, Publizist und später Dorpater Bürgermeister, »genoß die Anführung des damaligen Rektors Martin Hehn«, und die Schule sei »in guten Stand, mit geschickten Lehrern hinlänglich besetzt«. Jakobs Vater hingegen, der auch das Amt des Schulinspektors innehat, findet die Zustände dort miserabel. Die Eltern hätten Furcht, »daß ihre Kinder entweder durch Schläge jämmerlich gemißhandelt, oder verflucht und durch die rauhen Bemerkungen des Teufels … ganz mutlos und blödsinnig gemacht werden«, schreibt Vater Lenz anklagend an Rektor Hehn. Und zu Jakob direkt: »So würde z. E. mein Jakob durch Härte und Schärfe nur betäubet, und so confuse gemacht werden, daß ihm hören und sehen vergehen, und dann nichts mit ihm auszurichten seyn würde.«

Dieser Martin Hehn hat in Halle studiert, dann als Hofmeister sein Leben gefristet, schließlich ist er Rektor. Die Lehrer werden schlecht besoldet, sind auf Nebenverdienste wie Nachhilfestunden, Orgelspiel oder Bartscheren angewiesen, bis sie endlich aufsteigen in ein kirchliches Amt. Hehn wird 1769 Diakon, wenig später Pastor auf Lebenszeit. Entlädt er die eigene Not des Schulmeisterdaseins, durch seine Schläge den Jammer der Kinder verdoppelnd? Wahrscheinlich tut er nur das Übliche, das, was alle tun.

Der vormalige Rektor Johann Heinrich Lau hat Lektionsverzeichnisse anfertigen lassen, aus denen in etwa der Unterrichtsstoff an der Dorpater Schule zu ersehen ist. In der Prima wird Theologie, Hebräisch, Griechisch und Latein gegeben. Theologie wird nach dem Lehrbuch von Freyling unterrichtet, und die Beweisstellen werden im ersten Kurs deutsch, im zweiten griechisch, im dritten hebräisch auswendig hergesagt. In Latein liest man Vergil, Ovids »Metamorphosen«, Julius Cäsar und hat Stilübungen und Anleitung zum »Versificiren, ließ Imitationes nach Cicer. Orat. machen, handelte Cellarii antiquitt. ab und las täglich ein Kapitel aus der Bibel«. In der Sekunda kommen Geschichte und Geographie hinzu und wieder lateinische Stilübungen. Sonnabends wird das Evangelium lateinisch und griechisch erklärt. »In Tertia wurden der angehende Lateiner, Langes Colloquia, die Declinationen und Conjugationen abgehandelt, die Religion vorgetragen und die Bibel gelesen.« Naturwissenschaften wurden überhaupt nicht unterrichtet, und auch Mathematik steht unten an. Der Rechenmeister lehrt in der Prima lediglich »Handels- und Haushaltungs-, auch Interessen-Rechnung, in Secunda Brüche und die Regula de Tri in gebrochenen Zahlen, in Tertia Brüche und die Regula de Tri in ganzen Zahlen, in Quarta die Elemente des Rechnens«.

Jakob in der Dorpater Lateinschule, im regelmäßigen Viereck des Schulzimmers, auf einer der erhöhten Bänke mit dem schmalen Fußstütz. Die Schultische beschmiert, zerschnitten, mit eingebrannten Löchern. Die Bankreihen. Tür. Ofen. Der Lehrertisch, auf ihm mehrere Stöcke, Ruten, Lineal, der Kantschu, Schweiß der Angst. Das Klassenzimmer. Religion, Didaktik, Rhetorik. Das fortwährende Repetieren der Vokabeln, griechische, lateinische, hebräische. Das Aufsagen der Folge der biblischen Bücher, vorwärts und rückwärts. Das Auswendiglernen. Das schnelle Aufschlagen der Bibelstellen. Nacherzählen von Abschnitten aus Historienbüchern im Wortlaut, das Abfragen des Kompendiums der Dogmatik. So oder ähnlich kann es gewesen sein.

Trotz allem, trotz der Stockschläge auf Hände und Rücken, trotz der Demütigungen eine ungeahnte, große Welt, die sich Jakob auftut, die Welt des Wissens. Lenz wird mit Begier eingetreten sein. Vergil, Ovid, Julius Cäsar. Und anderes. In der Schule befindet sich eine kleine Büchersammlung in einem extra dazu verfertigten Schrank, Rektor Lau hat sie 1748 aus Rigaer Spendengeldern anlegen lassen. In kurzer Zeit wird Jakob alles gelesen haben.

Die Auseinandersetzung des Vaters mit Rektor Hehn endet damit, daß Pastor Lenz seine Söhne aus der Schule nimmt.

Nicht mit »körperlichen Züchtigungen« solle man strafen, sondern mit »moralischen und schriftlichen Gründen«, teilt er Hehn mit.

Vater Lenz unterrichtet seine Söhne nun selbst. Für einen Hauslehrer reicht das Geld nicht. Und da er mit Amtsgeschäften überhäuft ist, findet er wenig Zeit. Nach einem Dreivierteljahr sieht er sich gezwungen, seine Kinder wieder in die öffentliche Schule zu schicken. Ein versöhnendes Gespräch, eine »Vereinigung« zwischen ihm und Hehn geht dem voraus. Der Schulrektor läßt es sich nun nicht entgehen, seinerseits Pastor Lenz anzugreifen. Er bezweifelt dessen Lehrbefähigung; der Pastor muß sich verteidigen, er weist von sich, daß seine Söhne »in den 3 Viertel Jahren, da sie bey mir gewesen, zu Hause nicht gelernt hätten. Wann hieran auch etwas wäre; so wäre es wol nicht zu verwundern, da ich mich, bey meinen unaufhörlichen Amtsarbeiten kaum 2,3 Stunden in mancher Woche mit ihnen beschäftigen können, daß sie im Ganzen bleiben, und das gelernte nicht wieder vergessen möchten, bis ich sie anderwärts unterbringen könnte, welches nun auch wenigstens mit Jakob gewiß würde geschehen seyn, wenn unsere Vereinigung nicht abermals meinen Entschluß geändert hätte. Indessen bin ich überzeugt, daß beide Kinder im componieren und copia vocabularum doch einige profectus gemacht, und Jakob manches in der griechischen Emphasiologie profitiret habe«. Das alles spielt sich um 1763/64 wohl ab.

Jakob und sein Bruder werden wieder Schüler der Kron- und Stadtschule, vielleicht sogar mit Freude, und mit allem, was das Schülerdasein mit sich bringt. »Pflichten, so Scholaren gegen sich und andere zu beobachten haben« heißt es in den Schulgesetzen und unter Artikel 5: »Wenn sie zu Hochzeiten und dergleichen Gelagen gehen wollen, muß solches mit Consens der Präceptoren geschehen, die ihnen einen Unterricht geben, wie sie sich, wie in allem aufzuführen, so auch insonderheit des Tanzens zu enthalten haben.« Und unter der Rubrik der »Pflichten, so Scholaren insonderheit in der Schule wahrzunehmen haben« steht: »Die Scholaren sollen sich zu rechter Zeit in der Schule einfinden und beym Singen und Beten seyn, damit sie nicht mit Stöcken herbey getrieben werden müssen.«

Jahre später wird Lenz ein Gedicht schreiben, an die »hochwohlweisen Herrn Philanthropins« gerichtet:

Die Proben eurer Lieb’ auf meinem Rücken
Verzeiht, sie können nicht mein Naturell ersticken
Ich bitte um ein Wort und sag’ ich mehr
So lächelt ein Welt von Prügel auf mich her …
Das werden Köpfe nur ihr lieben Herrn! auf Erden
Ach lauter Drahtmaschinen werden

Wie lange Jakob Lenz die Dorpater Lateinschule besucht hat, ist ungewiß. Von dem Vierzehnjährigen stammt eine Rede, gehalten am 1. Januar 1765, anläßlich einer Schulfeier. Vielleicht war es die Abschlußfeier. Zehn Seiten ist die Rede lang. »Über die Zufriedenheit« heißt sie.

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Ein halbes Jahr vor dieser Schulfeier wird in Dorpat die Zarin erwartet. Durch einen Staatsstreich zur Macht gekommen, ist Katharina am 28. Juni 1762 zur Kaiserin von Rußland gekrönt. Der Dorpater Bürgermeister Sahmen, der in Moskau zugegen ist, berichtet es. An den Beginn von Katharinas politischer Laufbahn knüpfen sich viele Hoffnungen.

»Der Staat ist eine tote Masse, die der Monarch erst belebt; eine stillstehende Maschine, die der Monarch erst aufzieht, richtet und ihr ganzes Triebwerk in Wirksamkeit setzt, die nicht eher wirkt als nach seinem Winke. Der Monarch lebt für den Staat, und der Staat lebt durch ihn«, schreibt Schlözer in seinem Buch »Neuverändertes Rußland«. Die Aufklärung nährt die Legende von der guten Herrscherin, und Katharina gibt sich als solche. »Nordische Semiramis« läßt sie sich gern nennen. Die Worte der Aufklärer macht sie zu den ihren. Montesquieus Werk bezeichnet sie als ihr »Gebetbuch«, mit Voltaire tauscht sie Briefe, nennt ihn ihren Freund. Auch mit anderen Philosophen und Schriftstellern steht sie in Briefwechsel. D’Alembert schlägt sie vor, seine Enzyklopädie in Petersburg zu beendigen. Denis Diderot folgt 1775 der Einladung der Zarin an ihren Hof.

Vielseitig und tatentschlossen ist ihre Politik in den ersten Jahren. Die Herausbildung einer eigenen Intelligenz fördert sie. Akademien, Universitäten, Gymnasien werden gegründet, die Erlaubnis zur Errichtung privater Druckereien erteilt. Die Zarin gibt persönlich die Anregung zur Herausgabe einer Vielzahl literarischer Zeitschriften, und sie übersetzt selbst und schreibt, elf Dramen und sieben Opern sind überliefert. Der Lieblingssatz der Zarin ist: »Alles geschieht zum Wohle aller und jedes einzelnen.«

1764, als sie zu der Reise in den westlichen Teil ihres Reiches rüstet, regiert sie gerade zwei Jahre. Die Hoffnungen in den baltischen Provinzen sind groß, denn Katharina ist Deutsche. Ausdrücklich bestätigt sie die von Peter I. bei der Kapitulation von Riga und Reval zugesicherten Privilegien der Deutschen.

Die Nachricht von dem bevorstehenden Besuch wird die kleine Stadt Dorpat in helle Aufregung versetzt haben. Hektisches Treiben herrscht. Auflagen werden erlassen. Das Schwarze-Häupter-Korps, dem alle unverheirateten Männer der Stadt angehören, bereitet sich vor, zu Pferde ihr entgegenzuziehen. Die Standarten werden auf Hochglanz gebracht. Die Armseligkeit der Stadt muß überdeckt werden. In Dorpat wird man, wie in Riga, für den Besuch der Zarin extra Gassen erweitern, Nebengebäude und Anbauten wegreißen, Straßen neu pflastern und schmücken, die Brücken mit roten Lehnen und die Bäume mit Girlanden versehen. Die Bauern aus der Umgebung müssen tagelang vorher die Straßen zur Dämpfung des Staubes mit Wasser benetzen. Der Stadtrat verordnet Absperrungen, unsichere Elemente, Bettler und Gebrechliche, Krüppel und Verunstaltete haben sich zu verbergen, der Zarin nicht unter die Augen zu kommen. Dennoch wird es einem Bürger gelingen, so ist überliefert, ein »selbstgemaltes Transparent« hoch zu halten, auf dem die von Mauern umgebene Stadt Dorpat zu sehen ist und vor den Toren eine Anzahl Menschen, die der Züchtigung eines Mannes zusehen. Darunter steht:

Allergnädigste Kaiserin!
Wir werfen uns zu Deinen Füßen
Um Huld und Gnade zu genießen
Denn unseres Rathes Richterwürde
Legt auf uns sehr große Bürde
Uneinigkeit und Zank herrscht unter dessen Geist
Drum liegt Gerechtigkeit und Polizei darnieder.

Die »Rigischen Anzeigen« verfolgen genau die Reiseroute der Zarin, unter dem Datum Montag, den 20. September 1764, ist der letzte Teil des Berichtes abgedruckt: »Beschluß des Reisejournals Ihrer Kaiserl. Majestät«. Danach näherte sie sich nach dem Besuch von Riga und Reval am 17. Juli Dorpat. »Nach eingenommener Mahlzeit ging der Weg Abends 7 U. weiter nach dem zwei Werste von Dorpt liegenden, und Sr. Erlaucht dem Krn. Oberhofmarschall Graphen von Siebers zugehörigen Gute Ropkoi, woselbst Ih. M. Nachts um 1 U. anlangten. Auf der letzten Station von Dorpt wurden Ih. K. M. von dem Generalfeldzeugmeister von Billbois bewillkomet, und vor der Stadt kamen allerhöchstdenenselben der Bürgermeister mit den vornehmsten von der Bürgerschaft entgegen, welche die Monarchin bis zu erwehnten Gute zu Pferde begleiteten. Das am Wege campierende Jaroslawitsche Infantrieregiment gab, unter der Abfeuerung seiner Feldstücke und Senkung der Fahnen, die gewöhnlichen Honneur ab … Den 18. als am Sonntag, versammelten sich auf gedachtem Gute vormittags um 10 U. alle in Dorpt befindlichen Generalspersonen, Staabs- und Oberoffiziere samt dem Magistrat und der Geistlichkeit, um I. M. zur glücklichen Ankunft alleruntertänigst zu gratulieren. I. M. kamen um 11 U. aus I. Apertements, und nachdem Sie die Vornehmsten zum Handkuß gelassen, erhoben s. allerhöchstdieselben zu Anhörung des Gottesdienstes nach der Stadt. Der Zug ging durch die von der Bürgerschaft errichtete Ehrenpforte, bei welcher einige junge Bürgertöchter in weißer Kleidung standen, die aus ihren Körben den Weg mit wohlriechenden Blumen bestreuten und unter Anführung zweier Pastoren in Deutscher Sprache Psalmen sangen. Während der Zeit wurden von den Stadtwällen die Kanonen abgefeuert.«

Jakob sieht die Zarin Katharina also ganz gewiß. Vielleicht geht er sogar mit dem Vater nach Ropkoi an jenem Sonntagvormittag, um den Zug der Zarin mit zur Stadt zu geleiten. Oder er steht in der Menge, weit vorn, neben dem Vater. Die Kutschen, Karossen, der rote Samt, die Pferde mit dem kostbaren Zaumzeug, die Kleider, der Glanz. Am Nachmittage dann tritt Pastor Lenz mit einer Rede vor die Zarin. »Nach dem Gottesdienste«, heißt es in dem Reisejournal weiter, »begaben s. Ih. M. wieder nach erwähntem Gut des Oberhofmarschalls, woselbst allerhöchstdieselben sämtliche Stabs- und Oberofficiere zum Handkuß liessen, und sodann an einer Tafel von 30 zu Mittage speiseten. Nachmittage um 5 U. war abermahl Kour, und gelangten zur Audienz und zum Handkuß: 1. Die Gemahlinnen der Generalität und der Staabs- und Oberoffiziere. 2. Die evangelische Geistlichkeit aus der Stadt u. vom Lande, wobei der Pastor Lenzen eine Glückwunschungsrede hielt. 3. Der Magistrat u. die Vornehmsten von der Bürgerschaft, bei denen der Bürgermeister Sahmen das Wort führte. 4. Die Russische nach Dörpt handelnde Kaufmannschaft. 5. Die Frauen der angesehnsten Bürger.«

Soweit der Bericht.

Noch lange wird man in der Familie des Pastors Lenz vom Besuch der Zarin Katharina in Dorpat sprechen. Der Dreizehnjährige liest zudem die begeisterten Huldigungsoden auf Katharina, die ein junger Dichter namens Johann Gottfried Herder in den »Rigischen Anzeigen« veröffentlicht. Auch Lenz wird sein erstes Gedicht der Zarin widmen, »an Ihre Majestät Catharina die Zweite, Kaiserin von Rußland«. Der Vater läßt ein in Seide gebundenes Exemplar der Zarin persönlich zukommen. Später verfaßt Jakob noch andere Gedichte auf sie, widmet sie ihr; noch als reifer Mann knüpft er Hoffnungen an sie, in einem seiner letzten Briefe spricht er von der »huldreichen Gnade der großen Monarchin«, als sich ihre Politik der schönen Worte längst als demagogische Phrase entlarvt hat. Diese Illusionen teilt Lenz freilich mit vielen seiner Zeitgenossen. Daß sie bei ihm so stark und ausdauernd sind, mag mit den Kindheitseindrücken zusammenhängen und damit, daß die Vorstellungen des Heranwachsenden über Macht, Regentschaft, Monarchie sich zu einer Zeit bilden, als die Politik der Zarin tatsächlich Anlaß zu Hoffnungen gibt.

 

Bei ihrem Besuch in Dorpat 1764 nimmt Katharina auch die Befestigungsanlagen der Stadt in Augenschein, findet sie in einem unzureichenden Zustand und ordnet ihre Erneuerung an. Diese Vorgänge sind eine weitere Erfahrung von Lenzens Jugend. Sein Interesse an den Kriegswissenschaften, besonders der Fortifikationslehre, hat hier wohl seinen Ursprung. 1767 wird in Dorpat eine Garnisonsschule eröffnet, in der in russischer Sprache Ingenieur- und Kriegskunst unterrichtet wird. Alle technischen Details des Festungsbaus kennt Lenz, und in Straßburg wird er zeitweise junge Offiziere Fortifikation lehren; sein Wissen darüber später in Sankt Petersburg als Chance einer Anstellung am Kadettenkorps betrachten. Der Junge muß zugesehen haben beim Bau dieser Wehranlagen. Jener schon erwähnte Generalfeldzeugmeister von Villebois leitet das Ganze. Er läßt die Türme der alten Schloßruine abtragen und die Steine zum Wehrbau verwenden. Der Wall, der die Stadt zur einen Seite begrenzt, erreicht in den nächsten Jahren eine ansehnliche Höhe.

Jakob muß auch die Menschen gesehen haben, die diese Arbeit tun. Wie Sträflinge werden sie gehalten, zum »Festungsbau nöthige Arbeitshäuser« errichtet man innerhalb der trostlos ragenden Ruinen des alten Rathauses, hölzerne Verschläge, dort vegetieren die Leute. Auch Soldaten, ganze Regimenter werden zu der Arbeit herangezogen.

Ein anderes Erlebnis, das in Jakobs Kindheit fällt, ist die Dorpater Messe. Dorpt ist Stapelstadt für Rußland. Vom Hafen Baltischport führt der Weg nach Sankt Petersburg durch die Stadt. Der Krieg hat viel zum Erliegen gebracht, aber langsam erholen sich Handel und Gewerbe. Viele Dorpater Bürger leben von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, Zimmervermietung und Beköstigung Fremder bringen Nebeneinnahmen. Dreimal im Jahr findet der Jahrmarkt in Dorpat statt, zu Mariä Himmelfahrt, zu Jakobi und zu Michaelis. Die größte Messe ist im Winter, am 7. Januar wird sie eröffnet und dauert den ganzen Monat über an. Von Riga und Narwa kommen russische und deutsche Kaufleute, Viehhändler und Eisenkrämer und Händler mit Waren aller Art. Salz, Heringe, Wein, Flachs, Tuche, wollenes Zeug, Spitzen und Kattune werden angeboten. Sensen, Ellenkram, Glas, Gewürze, Nürnberger Kram, Tobak liegen in den Buden nebeneinander. Da der Absatz der Krämer klein ist, versucht jeder von den »begehrigen Sachen etwas zu halten«. Mit Schiffen und Booten kommen die Waren über den Embach, aus dem Pleskowischen Balken, Holz, Flachs, Talg, Teer und dergleichen, aus der Peipus und der Werzjew Fische, aus dem Oberpahlschen das Brennholz, das bis unter die Stadt geflößt wird.

Jakob auf dem Jahrmarkt. Das ist die Welt, fratzenhaft häßlich und geheimnisvoll schön zugleich. Unverwandt wird der Junge in die Gesichter blicken, die verzerrten, die leidvollen, die überlegenen. Die Gesten der Menschen, ihre Art miteinander umzugehen, das Feilschen, das Handeln. Stimmengewirr in verschiedenen Sprachen, Schreien, Rufen der Händler und Käufer, das Gedränge, die Ausdünstungen, die Gerüche, verlockend und abstoßend. Die Esten in ihren Röcken und Winterpelzen aus schwarzbrauner Wolle, Männer- und Frauenkleider vom gleichen Schnitt, die russischen Kaufleute in ihren Kaftanen, die Kaufmannsfrauen mit den modisch schwarz angemalten Zähnen. Später im Elsaß wird Lenz die Kleidung der Esten, Letten und Russen Pfarrer Oberlin aufzeichnen, wird von ihren Bräuchen und Lebensgewohnheiten sprechen.

Nach den Jahrmärkten fällt die Stadt Dorpat wieder in ihre kleinliche Gemächlichkeit zurück. Der Zunftstreit gewinnt wieder die Oberhand. Register endloser Händel über die Grenzen der Befugnisse. Da verklagen die Bäcker einen Koch, der Torten bäckt, die Große Gilde prozessiert mit dem Rat darüber, ob die Buchbinder zur Großen oder zur Kleinen Gilde gehören, da beschweren sich die Kaufleute über den Hutmacher Vogel, weil er sich Vitriol hat kommen lassen, da fangen die Fuhrleute mit einem Offizier Händel an, weil er Rigische Waren führt, »ein Ruß, welcher sich mit Aschirkassischen Taback hier eingefunden hatte, durfte denselben an Niemand als hiesige Kaufleute veräußern« und so fort.

Sind die Jahrmärkte vorbei, geht man wieder zu den Dorpatern einkaufen, in Peukers Bude zum Beispiel, einer der kleinen russischen hölzernen Verkaufsstände, die überall in der Stadt sind. Oder man geht zu Johann Rosenthal, dem wohl angesehensten Kaufmann der Stadt. Er annonciert seine Waren sogar in den »Rigischen Anzeigen«. Unter dem Datum des 2. Dezember 1762 bietet er »frisch Harlemmer Öl in Gläsern zu 35 und 50 Cop. als Medizin bei Gicht, Podagra und Steinschmerzen«.

Überhaupt die »Rigischen Anzeigen«. Als Jakob zehn Jahre ist und schon lesen kann, werden sie im ersten Jahrgang herausgegeben. »Rigische Anzeigen von allerhand Sachen, deren Bekanntmachung dem gemeinen Wesen nöthig und nützlich ist.« Wöchentlich, alle Montage, erscheinen sie. Ukase, gouvernementliche Verordnungen, Beförderungen, Todesfälle, Verkauf beweglicher und unbeweglicher Güter, Nachrichten über entlaufene Leute, Personen, die ihre Dienste antragen, Preise, Wechselkurse, ein- und auslaufende Schiffe. »Schiffer Jefim Peteroff nach Pillau mit Proviant, Schiffer Illia Issakoff dito; Schiffer Frericks Lammerts nach Amsterdam mit Balken und Holzwaaren, Schiffer Hans Tanch von Stockholm mit Ballast und Schiffer Negotie, mit Theer, Porcellain, zinnerne Leuchter, Kuchenpfannen, eiserne Platen, papierne Tapeten, irdene Schüsseln, Thee- und Tischkesseln, eisernen Nägel«. Schiffer Nanne Abbes aus Amsterdam bringt »Caffee, Candiszucker, Cardustabak, frische Heringe, Perlgraupen, Weinessig, Mallaga Wein etc.«.

Die Angaben über die entlaufenen Leute. »Dem Herrn Major von Buddenbroch zu Planhoff ist am 11. Jun. dieses Jahres ein von dem Gute Karoben erblich gekaufter Estland. Junge namens Hindrich entlaufen. Selbiger ist 18 bis 19 Jahre alt, von mittelmäßiger Größe, breitem Gesicht, stumpfer Nase, kleinen grauen Augen und schlecht hellbraunen Haaren, geht in Bauernkleider, versteht etwas vom Tischlerhandwerk, macht Violinen, spielt auch etwas darauf und versteht Brandwein zu brennen. Für die Einlieferung dieses Häuptlings werden 10 Rubeln versprochen.« Oder: »Dem Herrn Oberleutnant Matwej Murawjew vom Rigischen Garnisons-Regiment in Pernau ist ein ihm erblich überlassener Bauernjunge von dem Gute Lesse, Namens Juri, am 29. verwichenen Monats entlaufen. Selbiger ist 30 J. alt, von mittelmäßigem Wachstum und länglicher Nase, hat rotbraune Haare, einen abgeschorenen Bart, länglich Gesicht mit eingefallenen Backen und herunterhangenden Augenbrauen, geht in einem schwarz-braunen Bauerrock von Wattmal mit einer breiten schwarz lederen Mütze auf dem Kopf u. an den Füssen wollene Strümpfe und Pasteln. Für die Einlieferung desselben verspricht man zehn Rubel.«

 

Andere Ereignisse, die nachweislich in Jakobs Kinderjahre fallen, sind die Verheerungen der Stadt Dorpat durch Feuer und Wasser. Fast jedes Jahr im Frühjahr, wenn der Schnee zu schmelzen beginnt und der Eisgang einsetzt, wandelt sich der durch Dorpat fließende Embach in einen reißenden Strom. Kommt das Frühjahr schnell, mit Föhn und Winden, ist die Katastrophe besonders groß. Über Nacht kann es geschehen. Weite Teile der Stadt und der Vorstadt werden überschwemmt, vieles wird vernichtet, und oft sind auch Menschenleben zu beklagen.

1763, als Lenz zwölf Jahre alt ist, wird er in Dorpat Augenzeuge eines großen Brandes. Schon 1755 hat eine Feuersbrunst viele der gerade nach dem Krieg wieder errichteten Häuser zerstört. Jetzt bricht das Feuer in der Vorstadt aus und legt zahlreiche kaum beendete Neubauten in Schutt und Asche. Der ganze Stadtteil ist von den Flammen erfaßt, glutrot der Himmel. Das Kind sieht die schreienden, sich und ihre Habe rettenden Menschen. Über Stunden. Das Feuer bespringt die Stadt. Danach verkohlte Balken, fliegende Asche, Obdachlosigkeit, Not.

6
Vom Strafgericht Gottes hat der Vater gesprochen, als in Wenden das Feuer ausbrach. Was werden nun für bittere vorwurfsvolle Worte von der Kanzel der Dorpater Johanniskirche auf die Gemeinde fallen?

»Laß den Herzen seinen Vortrag lauter Spieß und Nägel seyn« erbittet Sohn Jakob für den Vater von Gott. Im kindlichen Wunsch spiegelt sich die väterliche Auffassung. Predigten müssen die Seele geißeln. In einem Neujahrsgedicht für die Eltern stehen diese Zeilen Jakobs. Die ersten Verse, die überliefert sind. In Riga werden sie aufbewahrt. Zwölf Jahre ist Lenz da. In gotischen Buchstaben mit klaren, schönen Schriftzügen schreibt er das Gedicht auf einen Foliobogen, das Titelblatt verziert er mit Ornamenten in Grün, Gelb und Rot und zeichnet rechts und links trompeteblasende Engel.

Wir sehen ihn, wie er dasteht, schüchtern und wichtig, in der guten Stube, inmitten der Geschwister zu Silvester 1763/64. Die Familie Lenz hat sich in den Dorpater Jahren vergrößert. Im September neunundfünfzig ist Karl Heinrich Gottlob geboren. Ein Jahr später Jakobs dritte Schwester Anna Eleonora. Im August 1761 der letzte Sohn der Familie Lenz, Benjamin Gottfried. Acht Kinder sind sie, das älteste ist schon in Königsberg, sieben leben im Haus. Auswendig sagt Jakob sein Gedicht her: »Neujahrs Wunsch an meine hochzuehrende Eltern von dero gehorsamsten Sohn Jakob Michael Reinhold Lenz«:

Seegne meiner Eltern Paar. Seegne Vater, meinen Vater,
In der künftgen Jahreszeit. Sey sein Licht und sein Berather,
Flösse immer seiner Seele deine heilgen Triebe ein,
Laß den Herzen seinen Vortrag lauter Spieß und Nägel seyn …
Hilf auch, Jesu! meiner Mutter, seegne sie in diesem Jahr,
Wende von ihr Not und Schmerzen, Hilf ihr doch auch in Gefahr.
Reich ihr deiner Hilfe Hand, will das Glaubens-Schifflein sinken,
Laß sie, wenn ihr Herze dürr, sich recht satt an Gnade trinken …

Die Autorität des Vaters wächst wohl zunächst in den Augen des Kindes in Dorpat. Der Vater ist ein wichtiger Mann in der Stadt, predigt vor einer großen Gemeinde, übt Gerichtsbarkeit aus, ist Beisitzer im Konsistorium. Die Freunde des Vaters sind der Herr Bürgermeister, der Herr Syndikus, der Herr Notär, der Herr Polizeibürgermeister, die Ratsherren. Einer gemeinsamen Tafelrunde gehören sie an.

Die Predigten sollen für den Heranwachsenden der Maßstab der Dinge sein, die Weltsicht des Vaters die seine. Das wird er fordern und erwarten. Aber: Eine heimliche Emanzipation des Sohnes von der Gedankenwelt des Vaters muß schon in den Dorpater Jahren stattgefunden haben. Zwei Dinge sind dabei entscheidend: Der ständige Krieg, den Pastor Lenz mit dem Stadtrat und den Gilden von Dorpat führt, und der Einfluß der Freunde des Vaters auf den Jungen.

 

Die Streitigkeiten mit der Stadt dauern die zwanzig Amtsjahre von Pastor Lenz an. Sie beginnen schon 1761, als er kaum zwei Jahre in Dorpat ist. Da sprechen ihm die Dockmänner Georg Geisendörffer, ein Hutmacher aus Franken, der Sattler Schumann und der Schustermeister Diedrich Kiens das Mißtrauen aus; sie weigern sich, bei ihm zur Beichte zu gehen, verlangen als Beichtvater den Diakonus Reichenberg. Pastor Lenz gelingt es zu diesem Zeitpunkt noch, das Stadtkonsistorium für sich einzunehmen. Eine Resolution zu seinen Gunsten wird am 29. Oktober 1761 verfaßt; die drei Handwerker erhalten einen Verweis wegen »frechen Frey- und Rottengeistes, hämischer Ausdrücke und niederträchtiger Angriffe« auf den Pastor.

Später gibt es keinerlei Belege mehr, daß sich die Stadt für ihn einsetzt, im Gegenteil, die Große, die Mariengilde, in der die Kaufleute vereinigt sind, die Antoniusgilde der Handwerker und der Stadtrat wenden sich wiederholt gegen Lenzens Vater.

Im Lenzschen Familienarchiv in Riga sind viele seiner wütenden Verteidigungsschriften an die Stadt Dorpat aufbewahrt. Sind auch die Umstände im einzelnen nicht mehr zu klären, da die Schriften der Gegenpartei fehlen, so wird doch in der Tendenz sichtbar, daß Pastor Lenz in seinen Dorpater Amtsjahren ständig die Eigenschaften probt, die ihn dann beim Umschwung der Katharinäischen Politik zur offenen Adelsreaktion zum ersten Mann der Kirche Livlands machen.

Ein Beispiel: sein Kampf gegen die Dorpater Herrnhuter. Geheime nächtliche Zusammenkünfte werden 1762 angezeigt, der estnische Küster Ignatius und der Dorpater Arzt Schmidt sollen die führenden Leute sein. Dem Esten wird unter anderem vorgeworfen, daß er sich nicht nur von »Undeutschen«, sondern auch von Deutschen die Hände hat küssen lassen. Wenig später geht Pastor Lenz gegen die Dudelsackpfeifer vor, zwingt die Stadtleitung, »mehrere Sackpfeifer und verschiedene Mezen am 2. Ostertage zum Teil zu verjagen, zum Teil ins Gefängnis zu bringen«. – »Sabbaths- und Festgreul schlimmster Art«, eifert er von der Kanzel der Stadtkirche am Ostersonntag, hätten »die Sackpfeifer und einige Schenckwirte« angerichtet.

»Rebellen und Meutereymacher« nennt Pastor Lenz die Dorpater Bürger immer wieder.

Ihre Klagen nun gegen den Stadtpfarrer Lenz sind unterschiedlicher Art. Daß die Predigten unpünktlich beginnen, die Kinder nicht katechisiert werden, die Bibel- und Erbauungsstunden nichts taugen, er den Armen keine Leichenpredigt halten wolle, die Kranken nicht oft genug besuche, bei Taufkindern, Leichen und Brautpaaren keine Zeiten festsetze, und immer wieder der Vorwurf, seine Predigten seien zu lang. »Haben nicht Jesu und seine Apostel auch öfters lange gepredigt?« entgegnet er darauf. Was auch im einzelnen gewesen sein mag, diese Klagen sind ein Indiz, daß er als Seelsorger nicht das Vertrauen der Dorpater Bürger hat. Die Kinderkatechisationen werden 1768 eingestellt, weil kein Kind kommt, Jahre später die Bibelstunden. »Unordnung in den Amtsverrichtungen« wirft die Stadt ihm vor, und die Konflikte spitzen sich so zu, daß die Kaufmannsgilde und die Handwerkergilde mit Klageschriften wider den Pastor auftreten, ihm »alle das oberheitliche Amt verkleinernde Ausdrücke auf der Kanzel« verboten werden. Pastor Lenz verfaßt eine Verteidigungsschrift, die in den Gilden verlesen wird: »Habe ich nicht den Armen das Accidens immer gar geschenket? Habe ich auch nicht als ein redlicher Patriot vor Ihre Kayserlichen majesté theurestem Antlitz gestanden, und in der Rede an Allerhöchst Dieselben das Elend und Armuth der Stadt auf’s dringendste vorgestellet und sie Ihrer hohen Gnade empfohlen? Habe ich nicht selbst nach dem Brande von 1763 an die Verunglückten 60 Rubel aus meinem Beutel ausgetheilet, und mich dadurch so erschöpft, daß ich kaum einen Rubel in cassa behalten? Wohlan siehe! gegen einen Mann, der so viele Verdienste für das geistliche und leibliche Wohl der ganzen Stadt hat, gegen einen so arbeitssamen und unermüdeten Lehrer, gegen einen so eifrigen Patrioten verfährt man so hart, den prostituiret man so in einer öffentlichen Schrift vor den Ohren beyder löblicher Gilden-Glieder, gegen den suchen meine Gegner die ganze Stadt aufzureizen, den bedrohen sie und heischen wider ihn die Strafe und Rache seiner lieben Obrigkeit. O schreyende Undankbarkeit!« Dieses Schreiben von Pastor Lenz ist vom 13. Mai 1768.

Da ist Jakob schon sechzehn, wird bald die Stadt verlassen. Aber die ganzen Jahre über ist er Zeuge dieser Auseinandersetzung zwischen seinem Vater und der Stadt. Hinzu kommen die ständigen Reibereien des Vaters mit seinen Amtsbrüdern Lange und Reichenberg, mit »lieblosen Katechismuspredigten« greifen sie sich von der Kanzel aus an. Die Atmosphäre in der Familie wird davon beeinträchtigt werden. Die Familie wird der letzte Hort der Rechthaberei des Vaters sein.

Mit Randglossen von Gadebusch ist die handschriftliche Verteidigung des Vaters versehen. Dieser Gadebusch, seit 1750 in der Stadt, seit 1766 Syndikus und später viele Jahre Bürgermeister in Dorpat, Freund des Pastors Lenz zuerst, dann zunehmend Gegner – gewinnt Einfluß auf den heranwachsenden Jakob. An der Emanzipation des Sohnes vom Vater hat Gadebusch ganz gewiß einen entscheidenden Anteil.

 

Friedrich Konrad Gadebusch ist einer der interessantesten livländischen Aufklärungsschriftsteller. 1719 in Altefähr auf der Insel Rügen geboren, Jurastudium, Hofmeister, Reisebegleiter, nun in Dorpat. Dieser Gadebusch hat Kontakt zu einem geistig sehr aufgeschlossenen Kreis in Riga, der sich dort um Kaufmann Behrens sammelt und dem der junge Herder und Hartknoch, der spätere Verleger Kants, angehören, den Hamann aus Königsberg öfters aufsucht. Gadebusch ist Mitarbeiter an der von Friedrich Nicolai in Berlin herausgegebenen »Allgemeinen Deutschen Bibliothek«, später an der von Bacmeister in Petersburg erarbeiteten »Russischen Bibliothek«.

Er ist es auch, der 1767 von der Zarin Katharina als Vertreter Dorpats in die »Gesetzgebende Kommission« berufen wird, die vom August des Jahres bis zum Dezember 1768 arbeitet und einen bedeutenden, wenn auch letztlich scheiternden Versuch darstellt, den russischen Feudalstaat an neue Gesellschaftsprozesse anzupassen. Er wird Lenz davon erzählt haben.

An diesen Gadebusch ist der erste Brief gerichtet, den wir von dem dreizehnjährigen Jakob besitzen. Ein Schreiben voller konventioneller Phrasen. »Hoch Edelgeborner Hochgelehrter Herr Secretair Verehrungswürdigster Gönner! Ew. HochEdelgeb. haben mich durch die neue Probe von Dero schätzbaren Gewogenheit außerordentlich beschämt. Meine Feder ist zu schwach, Denenselben die regen Empfindungen meines Herzens darüber zu schildern. Ich weiß Ew. HochEdelgeb. meine Dankbegierde auf keine andere Art an den Tag zu legen, als daß ich meine gestrigen Wünsche für Dero Wohlseyn wiederhole, und die gütige Vorsicht um die Erhörung derselben anflehe. Der Herr überschütte Dieselben und Dero werthes Hauß in künftigen Jahr mit tausend Seegen und Heil. Er erhalte Ew. Hoch Edelgeb. bis zu den spätesten Zeiten im ersprießlichen Wohlergehen.« Und so weiter.

Hinter der Konvention steht eine menschliche Beziehung. Jakob muß sich oft in Gadebuschs Haus aufgehalten haben. Dort ist eine große Bibliothek, zu der hat er Zugang. Viele Neuerscheinungen hat Gadebusch als Mitarbeiter von Nicolais »Allgemeiner Deutscher Bibliothek«. Da Lenzens Vater kaum Bücher aus Deutschland bezieht, auf denen wegen der langen See- und Landfracht hohe Zölle liegen, es in Dorpat weder eine öffentliche Bibliothek noch einen Buchladen gibt, die Lesegesellschaft, in der sich Prediger, Rechtsgelehrte und Adlige zusammentun, dort erst zehn Jahre später gegründet wird, ist Gadebuschs Bibliothek für Jakob wichtig. Viele Stunden und Tage wird er dort gewesen sein. Entronnen den Lektürevorschriften des Vaters, den staubtrockenen Kompendien von Rambach, Heilmann, Baier und Dieterikus. Entronnen den Verboten des Vaters, über die er später sarkastisch schreibt: »Bei unseren leichtsinnigen Zeiten fürchtete er nichts so sehr, als daß sein Sohn, sobald er dem väterlichen Auge entrückt würde, auf den hohen Schulen von herrschenden freigeisterischen und sozinianischen Meinungen angesteckt werden möchte. Denn ob er gleich den Sozinus nie gelesen und nur aus Walchs Ketzerliste kannte, so hatte er doch einen solchen Abscheu vor ihm, daß er alle Meinungen, die mit seinen nicht übereinstimmten, sozinianisch nannte.«

Gadebusch mag die Wißbegier des Jungen und seine Sensibilität gespürt haben. Und Jakob beeindruckt der Zuschnitt dieses Mannes, seine Toleranz und Großzügigkeit.
Eine Ahnung dessen, was in der geistigen Welt Europas vor sich geht, muß dieser Gadebusch dem jungen Lenz vermittelt haben, der da in jener öden Kleinstadt mit ihren kleinlichen Händeln unter dem Regime eines kleinlich denkenden Vaters lebt.

1762 ist Rousseaus »Émile« und sein »Contrat social« erschienen, 1764 kommt Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Altertums«, 1766 veröffentlicht Lessing seinen »Laokoon«, ein Jahr später »Minna von Barnhelm« und die »Hamburgische Dramaturgie«. Ebenfalls im Jahr 1767 erscheint in deutscher Sprache Lawrence Sternes »Tristram Shandy«, ein Jahr später »Yoricks empfindsame Reise«.

Im benachbarten Riga veröffentlicht Johann Gottfried Herder 1766 die Schrift »Über die neuere deutsche Literatur, Fragmente«, 1769 seine »Kritischen Wälder. Oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften, 1.–3. Wäldchen«. Lenz wird es sicher lesen. Wie er auch schon sehr zeitig Friedrich Gottlieb Klopstocks erste drei Gesänge des »Messias« gelesen haben muß. Dies vielleicht sogar unter den Augen des Vaters. Für Pastor Lenz ist es ein frommes Erbauungsbuch, das er unbesorgt in die Hausandacht einbeziehen kann. Für Jakob, den Sohn, aber ist es Dichtung. Poesie als Religion. Religion als Poesie, als Sehweise der Welt, so faßt er Klopstocks »Messias« offenbar auf. Er verschlingt das Buch, macht daraufhin eigene Versuche, ahmt Klopstock nach. »Der Versöhnungstod Christi« heißt sein erstes Gedicht. Auch Edward Youngs »Nachtgedanken« und Lyrik von Ewald von Kleist muß er gelesen haben. Spuren davon in eigenen Versuchen bezeugen es.

Gadebusch wird ihn dazu ermuntert haben und auch ein anderer Freund des Vaters, Theodor Oldekopp, Prediger der estnischen Gemeinde in Dorpat. Er ist es, der Jakobs erste Veröffentlichung vermittelt. »Ich mache mit vielem Vergnügen« heißt es in den »Rigischen Anzeigen« vom Jahr 1766, »dieses Gedicht bekannt, welches von einem fünfzehnjährigen Jünglinge allhier verfertigt worden. Ein Paar kleinere Gedichte von ihm entdeckten mir seinen dichterischen Geist. Ich vermuthete, daß er in der höheren Dichtkunst einen Versuch mit glücklichem Erfolg würde wagen können. Ich muntere ihn dazu auf, und hier ist der Versuch, der seinem glücklichen Genie Ehre macht. Ich versichere, daß dieses Gedicht seine eigene Arbeit sey, sowohl der Plan als auch die Ausführung … Anweisungen in der Dichtkunst hat er weder gelesen noch gehört. Kenner werden bald bemerken, daß die Klopstockische Muse ihn begeistert habe. Er ist wahr, er hat mit Empfindung gelesen, aber nicht ausgeschrieben. Ein solch seltenes Genie verdient alle Aufmunterung. Ich hoffe die Leser werden mit mir wünschen, daß die dichterischen Gaben dieses hoffnungsvollen Jünglings sich immer mehr zu Ehren unseres Vaterlandes entwickeln und erhöhen mögen.«

Und ein dritter muß für Jakob von Wichtigkeit gewesen sein. Die persönlichen Beziehungen zu ihm sind nicht belegt. Er lebt und arbeitet damals in der Nähe von Dorpat, ist Pastor wie Jakobs Vater. August Wilhelm Hupel, kaum dreißigjährig, geboren in Buttelstedt bei Weimar, Studium in Jena, dann Auswanderung; in Ecks, dreieinhalb Meilen von Dorpat Prediger, hernach in Oberpahlen, auch in der Nähe der Stadt Dorpat. Dort bleibt er sein Leben lang, trotz anderweitiger Berufungen. Lenz wird immer mit Hochachtung von Hupel sprechen, wird ihn von Moskau aus als Professor für die neu zu gründende Dorpater Universität vorschlagen. Lenz muß ihn schon als Junge gekannt haben, zumal sein Vater einige Zeit im Schloß Oberpahlen bei Baron Münnich predigt und Jakob als Fünfzehnjähriger an einer Hochzeit in Oberpahlen teilnimmt. August Wilhelm Hupel ist insofern von großem Interesse, da er als livländischer Aufklärungsschriftsteller den stärksten sozialen Gestus hat, sich nicht nur mit Topographie und Landeskunde, Gerichtsbarkeit und Geschichte, sondern auch mit der Lage der Ärmsten befaßt, mit der der Soldaten vor allem. Das tut er unter einem sehr merkwürdig erscheinenden Aspekt. Er sieht in der Sexualität eine dem Menschen, vor allem dem zur Enthaltsamkeit gezwungenen Soldaten auferlegte Qual, eine Versklavung. Als Lösung schlägt er die Kastration vor, plädiert aber gleichzeitig für die Heirat. »Vom Zweck der Ehen oder dem Versuch, die Heirat von Castraten zu verteidigen« heißt eine Publikation, eine andere »Origenes oder die Verschneidung«. Diese widersinnigen Vorschläge erwachsen aus der Unmenschlichkeit und Unnatur der gesellschaftlichen Verhältnisse im damaligen Livland. Der junge Lenz wird mit diesen Auffassungen konfrontiert worden sein, als ernsthafte Vorschläge ernsthafter Menschen erlebt er sie.

Gadebusch und Hupel lenken Lenz auf soziale Zusammenhänge. Die Tatsachen selbst hat er vor Augen. In Casvaine damals die Lostreiber, die Leibeigenen mit den Strohkränzen; die, die vor der Kirche ausgepeitscht wurden. In den Dorpater Jahren verschärfen sich die Gegensätze, wenn Jakob sie auch nicht mehr so unmittelbar erlebt. Der »große Bedruk der Bauern« nimmt zu. Alle Reformvorschläge werden vom Adel abgelehnt, 1765 das Römerhoffsche Bauerngesetzbuch von Schoultz, im gleichen Jahr die Vorschläge des livländischen Generalgouverneurs Browne. Ein einziges Zugeständnis des livländischen Landtages: Die Leibeigenen erhalten das Recht, bei den Gerichten Schutz gegen die Willkür der Gutsbesitzer zu suchen. Das ist formal, bleibt doch alle Gewalt in den Händen der Gutsbesitzer. Aber 1765 wird es als große Errungenschaft in ganz Livland in lettischer und estnischer Sprache von den Kanzeln herab verkündet.

 

Im gleichen Jahr ereignet sich in der Nähe von Dorpat ein in den Augen der Herrschenden ungeheurer Vorfall. Ein Diener begehrt gegen seinen Herrn auf. Es ist ein deutscher Bediensteter, den Baron Johann Reinhold von Igelströhm, aus dem Siebenjährigen Krieg kommend, nach Livland mitbringt. Der Herr schlägt den Diener, dieser greift ihn daraufhin mit dem Degen an. Verwundet ihn offenbar nur leicht, denn am 16. Juli 1766 passiert es, einen Monat später, am 25. August, feiert Igelströhm schon auf dem Schloß seines Schwiegervaters in Oberpahlen seine Hochzeit. Jener Diener aber wird gebrandmarkt und lebenslänglich nach Sibirien verbannt. Er wäre sofort gehängt worden, aber in Livland ist gerade in den Jahren die Todesstrafe abgeschafft worden. Hupel berichtet 1774 den Vorfall als Beispiel einer fortschrittlichen Gesetzgebung, »nur wenige Länder können sich solcher der Menschheit zur Ehre gereichender Criminaleinrichtungen rühmen«.

Jakob erfährt es, hört das Urteil. Das Ereignis muß in Dorpat in aller Munde sein. Auf dem Marktplatz in Dorpat wird der Verbrecher öffentlich auf einem Holzpodest am Schandpfahl ausgestellt und vor den Augen der Einwohner gebrandmarkt. Igelströhm sieht vom gegenüberliegenden Balkon aus zu.

Igelströhms sind mit Pastor Lenz bekannt, wir erinnern uns eines gleichen Namens unter den Taufpaten Jakobs. Die Einladung zur Hochzeit ergeht auch an Lenzens Vater. Und an Jakob. Er erhält vielleicht den Auftrag, die Hochzeitsgesellschaft mit Versen zu erfreuen.

Fast fünfzig Jahre nach Lenzens Tod wird ein Freund der Familie unter seinen Papieren die Handschrift eines kleinen Dramas hervorholen, das ebenjene Ereignisse mit Igelströhm und dem Diener behandelt. Ein Rührstück nach dem Muster der französischen Comédie larmoyante ist es. Viel Nachahmung, Konvention. Aber Lenz läßt den Diener, den Verurteilten seine Tat erklären. Sein Motiv ist die Verteidigung der persönlichen Freiheit. Als er nach zwei Tagen unerlaubter Entfernung auf das Gut des Barons zurückkehrt, sagt er, sein Herr dürfe nicht wagen, ihn wegen seines Ausbleibens »anzurühren«. – »Meine Ehre soll er nicht angreifen.« Als der Baron ihn dennoch schlägt, entgegnet er: »Es ist meine Pflicht, meine Ehre zu retten – und sollte ich selbst darüber unglücklich werden.« Im vollen Bewußtsein, sich als freier Mensch nicht erniedrigen zu lassen, führt er die Tat aus.

Das ist eine ungewöhnliche Sicht. Hier haben wir den Beleg, wo Jakob seine Augen hatte.

Die Annahme, das Stück sei am Vorabend der Hochzeit auf Schloß Oberpahlen aufgeführt worden, dürfte kaum zutreffen. Wahrscheinlich trägt Jakob ein Gedicht vor, das den gleichen Gegenstand behandelt. »Festlied« heißt es. In anakreontischer Manier wird das Liebesglück von Braut und Bräutigam nach dem überstandenen Schreck ausgemalt. Der Diener aber ist ein »Ungeheuer«, ein »schwarzer Mörder«, Gottes Auge erblickt und straft ihn. Das wird den Beifall der Gäste und den des Vaters finden.

Bei dem Drama aber würde das Lachen im Halse steckenbleiben. Wie der Sohn auf solche Gedanken kommen kann. Ja, wie? Er entfernt sich von der vorherrschenden Denkweise. Auch sein in Dorpat begonnener großer Gedichtzyklus »Die Landplagen« zeigt es. Krieg, Not, Zerstörung, Vergewaltigung, Gewalt, Mord an Kindern sind die Gegenstände. »Furchtbar« nennt er den »Stoff« seiner Dichtungen, »traurig« seine »Muse«. Das Unglück seines Vaterlandes beschreibt der Sechzehnjährige aus eigener Erfahrung. Mit harten, kompromißlosen Worten, eindringlichen Bildern. Die Kritik des Provinzblattes wird schreiben, daß man den jungen Dichter wie die Heuschrecken selber zu den Landplagen zählen müßte. Realismus ist nicht gefragt.

 

Sechzehn ist Lenz. Siebzehn wird er. Es ist Zeit zum Studium. Theologie bestimmt der Vater. Sind es Geldsorgen, Warten auf den jüngeren Bruder, die den Vater den Sohn so spät auf die Universität schicken lassen? Mehrmals richtet Pastor Lenz Gesuche an die Stadtleitung, bittet um finanzielle Unterstützung für das Studium seiner Söhne. Die Stadt lehnt ab, die Kassen seien leer.

Sommer 1768 wird es werden.

Ein Jahr zuvor, zum Winteranfang, macht Jakob eine Reise. Friedrich David, sein ältester Bruder, erhält nach Studium und drei Jahren Hofmeisterdasein ein Pastorat im Kirchspiel Tarwast, sechzig Meilen von Dorpat entfernt. Jakob darf den Bruder begleiten und ihm bei der Einrichtung seiner Haushaltung behilflich sein. »Nach einer langsamen und ziemlich beschwerlichen Reise«, schreibt er am 9. November 1767, »sind wir endlich am verwichenen Mittwoch Nachmittag um zwey Uhr glücklich und gesund in Tarwast angekommen. Der Weg ist fast inpassabel, und die ersten Tage hatten wir ungemein starke Stürme und Regen.« Die Landstraßen sind aufgeweicht, kaum noch zu erkennen, allein die Werstpfosten markieren sie. Von Dorpat in westlicher Richtung, nach der Abbiegung von der Pleskower Chaussee, gibt es keine Werstpfosten mehr. Von »scharfem Frost«, von »Schnee und Sturm«, spricht Jakob am 24. November.

Fast zwei Monate verbringt Lenz in dem Dorf Tarwast. Seine ersten ausführlichen Briefe stammen aus jener Zeit. Er berichtet Alltäglichkeiten, schreibt, sie werden zum »vor und nachmittäglichen Kaffee und zur Mahlzeit« oft von Leutnant Krüder von Arrohoff oder vom Rittmeister Pietsch »hereingebeten«, weil der Bruder »mit seiner Wirtschaft noch nicht völlig im Stande ist und wir erst mit dem Anfange der künftigen Woche unsere eigene Menage anfangen wollen«. Über die Frau des vorigen Pastors heißt es: »Die Wittwe ist eine simple Frau mit der der Umgang ziemlich langweilig wird: aber die Kinder sind rechte Unholde, und ich habe sie noch in meinem Leben so ungezogen nicht gesehen. Die jüngere Tochter strich ohne uns zu grüßen mir wie ein Wirbelwind vorbey und nahm ihren Weg gerade nach dem Tisch zu, auf den sie mit einem Satz sich heraufschwung und die Aelteste machte es eben so, nur mit dem Unterschied, daß sie bey jedem Schritt eine Art von Kniks machte, wie ihn ihr die Natur gelehrt hatte. Bey Tisch schreyt alles so untereinander, daß wir stumm seyn müssen, weil wir unser Wort nicht hören können.«

Jakob hat viel Zeit. Er reitet, geht spazieren und ist »so vergnügt, wie man es in der Einsamkeit seyn kann. Ich lese, oder schreibe, oder studire, oder tapeziere – oder purgiere, nachdem es die Noth erfordert.« Von einer Kur, die er in Tarwast macht, berichtet er seinem Vater, die ihm »gut bekommt … außer der kleinen Unbequemlichkeit«, die ihm »Diät, das Warmhalten, das Laxieren u. dgl. machen«. Als erstes Zeichen seiner zukünftigen Krankheit ist das gedeutet worden. Wahrscheinlich hat es sich um eine Wurmkur gehandelt, in Livland, wo man viel Fisch ißt, ist diese Infektion verbreitet.

Den zur Neige gehenden November und den Dezember verbringt Lenz in Tarwast, die Heilige Nacht und die Jahreswende 1768/69. Strenger Winter, Schneeflächen, zugefrorene Seen. Lenz an den Vater: »eine Bitte, gütigster Herr Papa! zu der mich die Noth und Dero väterliche Gewogenheit berechtigen. Ich habe bey der neulichen Herreise empfunden, wie wenig ein bloßer Roquelor bey Reisen in kühler und windiger Witterung vorschlage. Ich kann mir also leicht vorstellen, wie es anziehen muß, wenn man im Winter im bloßen Mantelrock reiset. Ich weiß wirklich nicht, wie ich einmal nach Derpt zurückkommen oder falls des Bruders Hochzeit im Januar seyn sollte, zu der er mit seiner Equipage mich mitnehmen will, wie ich die Reise dorthin werde thun können. Ueberdem ist mir ein Pelz allezeit nöthig: ich nehme mir also die Freyheit, Sie ganz gehorsamst zu bitten, ob Sie mir nicht können für 3 Rubel das Futter dazu, nemlich einen Sack schwarzen Schmaßchen aus den Russischen Buden ausnehmen lassen. Das Oberzeug darf nur Etemin seyn: und da Sie sich in dieser Zeit ohnehin ausgegeben haben, so daß ich mich billig gescheut haben würde, mir von Denenselben was gehorsamst auszubitten, wenn mich nicht die Noth zwänge: so könnte es ja solange in Peukers Buden auf Conto gesetzt werden, bis es Ihnen weniger beschwerlich fiele, das Geld dafür zu bezahlen. Ich überlasse dies übrigens ganz Ihrer eigenen gütigen Disposition und werde mich auch alsdann zufrieden geben, wenn die Umstände es für dismal nicht erlauben sollten.«

Die Reise nach Reval im Winter wird Jakob machen. Am 24. Januar findet in der Stadt am Finnischen Meerbusen die Hochzeit des Bruders statt. Ausgiebig wird gefeiert; in Livland sind die Zahl der Gäste und die Menge der Spirituosen vorgeschrieben. Ein Haakenbauer zum Beispiel darf »8 Tonnen Bier und 4 Stoof Brantewein« haben, einem Bürger in Reval bestimmt das Gesetz, wie viele Gerichte er auftragen darf. Bei der Hochzeit des Bruders Friedrich David mit Christine Margarethe Keller, Tochter des Superintendenten von Reval, muß sich Lenz wohl gefühlt haben. Er braucht nicht, wie die Dorpater Schüler, den »Consens des Präzeptors« einzuholen und sich auch nicht »insonderheit des Tanzens zu enthalten«. Ausgelassen wird er gewesen sein, getanzt haben, das liebte er sehr, wie wir aus späteren Jahren wissen. Er wird jenen estnischen Hochzeitsgesang mitsingen, an den er sich noch kurz vor seinem Tode erinnert, in südestnischem Dialekt, zweistimmig, die eine Zeile immer wiederholend, die der andere singt. Neitsikenne norarenne – kasike – kanike. Jungfräuchen, sehr junges, Kätzchen, Stiefmütterchen, wildes.

Und er träumt sich in die Rolle des Bräutigams, Anlaß zu überschwenglichen Versen über die Liebe ist die Heirat des Bruders jedenfalls. Wenig später verläßt dieser mit seiner jungen Frau Reval und fährt nach Tarwast. »Mein liebes junges Paar«, schreibt Lenz nach dort. »Wie sind Sie angekommen? Wieviel Glieder und Sinne haben Sie noch übrig? (denn Ihren Leuten wird wohl Verstand und alle Sinne erfroren seyn). Wie habens Sies zu Wasser und zu Lande gehabt? Sind sie auch geirret? Und haben Sie alles zu Hause gefunden? … Und wie gefällt Ihnen, meine liebe junge Frau das einsame Tarwast?« Lenz verliert die Steifheit, ist heiter, übermütig, ironisch den Konventionen gegenüber. »Zum anderen befinden wir uns alle so«, schreibt er, »wie Sie uns verlassen haben. Papa ist Papa, und Mamma ist Mamma, und Moritz und seine Frau und alle übrigen sind gesund und vergnügt, und ich, ich sey Jakob. Zum dritten, vierten und zehnten habe ich auch die Ehre zum Geburtstag zu gratulieren und zu wünschen mmmmmm und wieder der Herr mmmmm und wieder der Heiland mmmmm und wieder dito.«

Eine ungebundene Zeit ist es in Tarwast und in Reval, der Stadt am Meer. Dann kehrt Lenz nach Dorpat zurück. Frühjahr und Sommer sind ausgefüllt mit Vorbereitungen auf einen neuen Lebensabschnitt.

Zweites Kapitel

7
Mit siebzehn Jahren verläßt Jakob Lenz seine Heimat. Nach Deutschland zum Studium der Theologie schickt der Vater ihn. Auf die Livland nächst gelegene Universität nach Königsberg.

Im Sommer 1768 fährt Lenz mit seinem um ein Jahr jüngeren Bruder Johann Christian von Dorpat aus nach Norden. Sie erreichen die Küste. Im August verabschieden sie sich im Hafen von Reval. Die Brüder besteigen eine kleine Barke, die sie zu dem auf Reede liegenden Segelschiff bringt. Jakob erlebt die offene See zum erstenmal. Den ruhenden Punkt verlassen. Bewegung, fortwährende. Luft, Wind, die Wellen, der Meeresgrund. Das Geräusch der flatternden Segel, die Schiffssprache, Kommandorufe und das Wecken, das Stundenansagen. Der Wechsel von Tag und Nacht. Noch eine zweite Schiffsreise wird Lenz in seinem Leben machen, Jahre später, von Travemünde nach Riga. Einer seiner Brüder berichtet darüber: »Das große Schauspiel von Himmel und Wasser, von Auf- und Niedergang der Sonne fesselten meinen guten Bruder die mehreste Zeit auf dem Verdeck.« Wie muß dann der erste Eindruck gewesen sein; der weite unendliche Luftkreis und alles Erwartung. Finnischer Meerbusen, die Inseln Dagö und Ösel, Rigaer Bucht, Kurische und Frische Nehrung. Schließlich das Haff, dann der Fluß Pregel.

Ankunft in Königsberg. Verlassen des Schiffes. Königsberg gehört zu Preußen, zum Herrschaftsgebiet der Hohenzollern. Auf deutschem Boden befindet sich Lenz nun. Fünfzigtausend Einwohner hat Königsberg. Gleich Leipzig, Frankfurt oder Hamburg ist es eine große und lebhafte Stadt. Umfangreiche Industrien befinden sich hier. Tuchfabriken, Mühlen, Gerbergewerke, Wollmanufakturen, Fayence- und Steingutfabriken, Brauereien und Bleichfabriken, große Werftanlagen und deutsche, englische und französische Handelshäuser.

»Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angrenzenden Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten, einen Verkehr begünstigt – eine solche Stadt wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis gewonnen werden«, meint Immanuel Kant, der hier lebt und wirkt.

Weniger die äußeren Abenteuer dieser Stadt – das Treiben in den Hafenanlagen, Speicherstraßen, Handelshäusern, auf dem Pferde- und Fischmarkt, auf dem in der Nachbarschaft der Universität im Königsgarten gelegenen großen Exerzierplatz – beeindrucken wohl Lenz. Es sind die geistigen Abenteuer, die ihn faszinieren, verändern. Menschen- und Weltkenntnis wird der Student Lenz tatsächlich in den zweieinhalb Jahren seines Aufenthaltes in Königsberg erwerben, und das nicht zuletzt durch Kant, seinen Universitätslehrer.

In die Herbst-Matrikel 1768 der Alma mater Albertina der Königsberger Universität schreiben sich Lenz und sein Bruder ein. Letzterer in die der Juristischen Fakultät, Jakob, wie vom Vater befohlen, in die der Theologischen Fakultät. »Alle studierenden Theologen«, heißt es in der Universitätsanordnung, »sind verpflichtet, halbjährlich der Fakultät ihren Namen, Wohnung, Alter, die Collegien, welche sie gehört haben und noch hören wollen u. s. f. anzuzeigen.«

»Ich werde dieses halbe Jahr, außer den Philosophischen und andern Collegiis, von theologicis das Theticum bey D. Lilienthal und ein Exergeticum über die Ep. Pauli an die Römer bei D. Reccard hören«, teilt Lenz im Oktober 1768 seinem Vater nach Dorpat mit. Daß er die theologischen Vorlesungen wirklich hört, ist kaum anzunehmen. Selbst dem strengen Vater gegenüber macht er sehr frühzeitig keinen Hehl daraus, daß ihn dieser ganze Lehrbetrieb nicht interessiert, die »Akademie wenig oder gar nichts werth« sei, wie er schreibt. Mit Ausnahme weniger Lehrer, fügt er hinzu, und bald wird es nur noch ein einziger sein, den er hört. Ein Kommilitone, der aus Königsberg gebürtige Johann Friedrich Reichardt, der spätere Komponist und königliche Kapellmeister in Berlin, bezeugt es. Lenz habe die theologischen Kollegia nicht besucht, wenn er in die Universität ging, dann nur, um die Vorlesungen Kants zu hören.

 

Kant ist zu der Zeit noch nicht jener berühmte Philosoph, dessen Schriften Hegel, Schelling und Hölderlin heimlich im Tübinger Stift lesen, die für sie – wie für Schiller und später für Kleist – eine Offenbarung werden. Die »Kritik der reinen Vernunft« wird erst zehn Jahre später geschrieben. Als Lenz nach Königsberg kommt, ist Kant vierundvierzig Jahre. Er ist Privatdozent, und seit fünfzehn Jahren läßt ihn die Universität auf eine Professur warten. Längst hat er die königliche Verordnung erfüllt, nach der kein Privatdozent zum Professor aufrücken darf, der nicht mindestens dreimal über eine gedruckte Abhandlung öffentlich disputiert hat. Kant muß als Unterbibliothekar an der Königsberger Schloßbücherei arbeiten. In zwei gemieteten Zimmern im Hause des Professors Krypke lebt er. Das eine dient ihm als Hörsaal. Fünf Vorlesungen, insgesamt sechzehn Wochenstunden, hält er im Wintersemester 1766/67. Seine Vorlesungen finden ungewöhnlich großen Zuspruch, vor allem am Anfang des Semesters kommen fast hundert Studenten. Der Raum kann sie nicht fassen, sie stehen in der Nebenstube, im Treppenhaus, auf der Vortreppe. Lenz unter ihnen. Als Immanuel Kant 1769 Professuren in Erlangen und Jena angeboten werden, fühlt sich seine Vaterstadt Königsberg endlich verpflichtet. Sie beruft ihn zum Professor. Am 21. August 1770 verteidigt er die Schrift »Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen«, in der er zum erstenmal öffentlich einige später in der »Kritik der reinen Vernunft« ausgearbeitete Grundprinzipien andeutungsweise entwickelt.

Die Studenten feiern die Ernennung Kants zum Professor für Logik und Mathematik. Jakob Michael Reinhold Lenz ist es, der ein Huldigungsgedicht »Im Namen aller studierenden Cur- und Liefländer« verfaßt. Bei dem Königlich-Preußischen Hofdrucker Daniel Christoph Kanter läßt er es auf weißem Atlas drucken. Fünfzehn Kommilitonen von Lenz unterschreiben. Ein Reichsfreiherr von Bruinink, ein Hugenberg, ein Pegau, ein Meyer, zweimal steht da »von Kleist aus Kurland«. Das Gedicht wird überreicht mit der Widmung »Als Sr. Hochedelgeborenen der Herr Professor Kant, den 21. August für die Professor-Würde diesputierte«.

Der Menschheit Lehrer, der, was er sie lehret,
Selbst übt und ehret:
Des richtig Auge nie ein Schimmer blend’te,
Der nie die Torheit kriechend Weisheit nennte,
Der oft die Maske die wir scheuen müssen.
Ihr abgerissen.
… Aber die Verächter
Des schlechten Kittels und berauchter Hütten
Samt ihren Sitten
Sahn staunend dort, sie, die den Glanz der Thronen
Verschmähet, dort die hohe Weisheit wohnen,
Die an Verstand und Herzen ungekränket,
Dort lebt und denket.
Schon vielen Augen hat er Licht gegeben,
Einfalt im Denken und Natur im Leben …
Ihr Söhne Frankreichs! Schmäht denn unser Norden,
Fragt ob Genies je hier erzeuget worden:
Wenn Kant noch lebet, werd’t ihr dies Fragen
Nicht wieder wagen.

Kant liest über Moral und Metaphysik, über Naturwissenschaft und Anthropologie. Alle Gebiete berührt er. Da sind die Anregungen, die ungeahnten Weiten des Himmels und der Erde, Gesetze der Natur und der Menschheit, in die der Lehrer führt. Und Bücher, die für Lenz zur Offenbarung werden. Jean Jacques Rousseau zum Beispiel.

Vor allem aber ist es das Mutmachen zum eigenen Denken. Herder, der wenige Jahre vor Lenz Kants Vorlesungen hört, sagt: »Mit eben dem Geist, mit dem er Leibniz, Wolff, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte und die Naturgesetze Newtons, Keplers, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Rousseaus, seinen Émile und seine Héloise, sowie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf den moralischen Wert des Menschen. Menschen-, Völker-, Naturgeschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung waren die Quellen, aus denen er seinen Vortrag und Umgang belebte; nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgültig; keine Kabale, keine Sekte, kein Vorurteil, kein Namensehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf und zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war seinem Gemüte fremd.«

»Aufklärung«, wird Kant ein Jahrzehnt später formulieren, »ist Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen …« Diese Haltung aber vermittelt er schon früh seinen Studenten, Lenz unter ihnen. Gierig wird es Lenz aufnehmen.

 

Was das für Lenz bedeutet haben mag! Väterliche Mahnung und Autorität sinken in ein Nichts. Lenz schüttelt die Kleinheit seiner Erziehung, die pietistische Dumpfheit ab, öffnet sich den neuen Ideen. Kant schärft – wie Jahre zuvor in Herder – in Lenz den kritischen und analytischen Geist. Die religiöse Weltsicht wird gesprengt, Lenz entdeckt sich und die Welt als weitgehend ratlos, in Zwänge gepreßt, voll Fatalität. Und zugleich wächst in ihm die Ahnung von der Möglichkeit des Menschen; eine sehnsüchtige Vorstellung, wie der Mensch leben könnte, überfällt ihn.

Der Student Lenz in Königsberg. Er sitzt im Lesezimmer, das zur Druckerei und zum Buchladen Daniel Christoph Kanters gehört. Alles ist da zu bekommen. Rousseau, Kant, Young, Pope, Ossian, Macpherson, Shakespeare. Lenz liest, schlingt es in sich hinein. Lenz in einem alten, engen Haus in einer der Gassen Königsbergs, in einem Haus, wo über und unter ihm Studenten aus Kur- und Livland wohnen. In einer kleinen Stube, die er gemeinsam mit dem Bruder bezogen hat. Das Notdürftigste ist darin. Tisch, Bett und Stuhl, abgenutzt und alt. Das Haus ist Tag und Nacht vom Lärm randalierender, trinkender und Karten spielender Studenten erfüllt. Lenz macht wohl keinen Hehl daraus, daß er die Zerstreuungen und Torheiten der großen Masse der Studenten fad findet. Er wird zum Außenseiter, wird verlacht und gehänselt, gewaltsam in den Kreis der ausgelassen Feiernden gezogen. Reichardt, der Kommilitone, erinnert sich: »Aber auch mitten im Lärm der Gelage blieb Lenz oft in seine poetischen Gedanken vertieft und gab durch seine Zerstreuung rüden Burschen zuweilen Veranlassung zu bösartigen Scherzen, die er mit bewundernswerter Geduld ertrug.« Und: »Eine sehr vermischte Lektüre und eigne poetische Ausarbeitungen beschäftigten ihn ganz, so oft er in seiner kleinen Kammer allein sein konnte.«

Was er im einzelnen während des Studiums geschrieben hat, wissen wir nicht genau. Den Gedichtzyklus »Die Landplagen« bringt er wohl fertig mit nach Königsberg, veröffentlicht ihn dort; im Anhang dazu weitere Gedichte. Was ihn beschäftigt, sind vermutlich erste Szenen zum Drama »Der Hofmeister«. Sein eigenes Problem ist es, das Gespenst seiner Zukunft, mit einer scharfsinnigen Sucht nach Realismus, nüchtern und ungeschminkt gesehen.

Nicht nur das Gespenst der Zukunft, wahrscheinlich die Gegenwart schon. Lenz muß als Student für einige Zeit als Hofmeister angestellt gewesen sein. Ein Zettel im Nachlaß, eine Notiz, die er, als das Drama erscheint, in die »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« einrücken läßt: Man habe ihn in »verschiedenen öffentlichen Blättern als Hofmeister« bezeichnet, dafür sei er dem Publikum »ein für allemal die Erklärung schuldig«: »Auf der Akademie in Königsberg nahm ich einen Antrag von der Art auf ein halbes Jahr an; weil meine Ueberzeugung aber oder mein Vorurteil wider diesen Stand immer lebhafter wurden, zog ich mich wieder in meine arme Freiheit zurück und bin nachher nie wieder Hofmeister gewesen …« In welchem Haus in Königsberg das war, was er dort erlebte, wissen wir nicht. Wie so vieles in seiner Studentenzeit liegt auch das im dunklen.

Andere Arbeiten, die er in Königsberg begonnen haben muß, sind Übersetzungen aus dem Englischen, zum Beispiel Popes »Essay on criticism«. Pope ist neben Haller Kants Lieblingsschriftsteller. Der Einfluß des Lehrers wird wohl die Wahl bestimmt haben. Und Shakespeares Drama »Love’s Labour’s Lost« (»Verlorene Liebesmüh«) übersetzt Lenz. Vielleicht regt ihn Georg Hamann, der Königsberger, dazu an. Der »Magus aus Norden«, der als erster in Deutschland die Lehre von der Genialität vertritt, der sich für Volkspoesie begeistert und in Shakespeare den großen Gestalter der menschlichen Leidenschaft sieht, den Dramatiker, der alle Regeln verwirft, alle Fesseln der Schulpoesie sprengt. Unter Hamanns Leitung las der Student Herder in Königsberg Shakespeare. Lenz und Hamann werden später Briefe wechseln. Ob ihre persönliche Bekanntschaft in Jakobs Königsberger Studentenzeit fällt, ist nicht nachzuweisen.

Wie auch die direkten Beziehungen zu Immanuel Kant kaum belegt sind. Das Huldigungsgedicht könnte der Anknüpfungspunkt der persönlichen Bekanntschaft gewesen sein. Daß sie existiert haben muß, wissen wir aus einem Brief von Lenzens Vater. Jakob wendet sich Kant zu, befragt ihn um Rat für seine Zukunft, seine beruflichen Pläne, bittet ihn – gegen den ausdrücklichen Willen seines Vaters – um die Vermittlung einer Anstellung in Deutschland. Immanuel Kant hat es getan, hat dem Studenten Jakob Michael Reinhold Lenz entweder ein Empfehlungsschreiben gegeben oder eine Stelle verschafft bei einem Herrn Resident Rehbinder in Danzig. Vielleicht hat er ihm auch vorher jene Hofmeisterstelle in Königsberg vermittelt. Daß Lenz dem Vater die Pläne, nach Deutschland zu gehen, selbst mitteilt, ist kaum anzunehmen. Man wird sie Pastor Lenz anderweitig hinterbracht haben. Der Vater reagiert mit aller Entschiedenheit.

8
August 1770. 1768 hat Lenz das Studium begonnen. Noch ein Jahr gibt der Vater ihm. Er drängt auf Studienabschluß. Michaelis 1771 sei der äußerste Termin.

Sein Drängen hat vor allem finanzielle Gründe. Der Vater kann das Studiengeld für die Söhne nicht länger aufbringen. Die Unterstützungen sind verbraucht. Briefnotizen des Vaters an die beiden Königsberger Studenten geben darüber Aufschluß. »Art u. Weise, wie sie zusammen geflossen. Fick 20 Rbl. – Treuer 20 Rbl. – Stryck – 10 Rbl. – Raths-Stipend. – 20. Rbl. – 3) Distributio. a) Jacob Fick – 10 Rbl. – Raths-Stip. – 10 Rbl. – S. 20 Rbl. b) Christian Fick – 10. Treuer – 20. Stryck – 10. Raths-Stip. – 10. S. 50 Rbl. II. Hiermit aber sind auch nun die vorigen Quellen verschlossen. Jacob hat Boks u. der Baronne Wolf Stipendia weg – Fick sagte 50 Rbl. habe er destinirt, 30 Rbl. hätte er vorher gegeben, nun die letzten 20. – Treuer ein vor alle mal – das Raths-Stipendium für dich geschlossen, tritt nun So … jun. an. Stryk auch aufs letzte Jahr. – Auf mich gar keine Rechnung zu machen. Denn da meine Erntezeit nichts getragen u. ich also fast in allgemeinen Schulden sitzen bleibe, so ist auf die übrigen Teile des Jahres wenig zu rechnen: U. es wird e. Wunder-Gnade Gottes seyn, wenn noch so viel zusammen soll, als bis Michaelis nöthig ist.« Von jenem Ratsstipendium ist auch in Gadebuschs Chronik die Rede. Es ist eine Unterstützung der Stadt Dorpat. »Der junge Bresinskis und des Hrn. Propstes Lenz Sohn«, heißt es da, »geneusst ein Stipendium. Ein jeder hat drey Jahre und also 60 Rubel genosen … Es wird allezeit aus den Armenkassen bezahlet.«

Vater Lenz zieht die Schlußfolgerung aus der Lage, teilt den Söhnen mit: »Porismata hieraus, daß sie 1) durchaus nicht länger als bis gegen Michaelis sich ihren Terminum Academicum setzen, denn es wird ohnehin schwehr genug seyn, sie noch so lange zu unterstützen 2) sich nicht in Schulden einfressen, sonst sich so vest fressen, da ich sie unmöglich lösen können u. da wären sie ganz verloren denn ich könnte nicht, wenn sie auch ins Carcer kämen 3) daß sie mittlerweile sehr fleissig seyn pp.«

Die Söhne aber sehen die Sache ganz anders. Sie bitten den Vater immer wieder um Geld. »Vergeben Sie unser öfteres unverschämtes Geilen nach Geld: die Noth lehrt hier beten und betteln«, schreibt Jakob Lenz im Oktober 1769 an den Vater. Und: »So sehr ich Ihnen für die gütige Besorgung eines Theils meines jährlichen Fixi verbunden bin, so sehr sehe ich mich genöthigt, Sie nochmals gehorsamst um die so viel mögliche baldige Beförderung dessen, was Ihre Gütigkeit zu unserer Kleidung bestimmt hat, zu bitten. Praenumeration ist nothwendig, wenn ein Student gut wirtschaften will und also ist ihm im Anfange des Jahrs immer Geld unentbehrlich. Noch einige Ausgaben habe Ihnen schon vorhin specificiren wollen, für die ich gleichfalls von Ihrer Gewogenheit einigen Ersatz hoffe, wenn es Ihre Umstände zulassen.« Lenz bittet unter anderem um die Rückgabe des Betrages, den er für das in Seide gebundene Widmungsexemplar der »Landplagen« für Katharina II. aufbringen muß. Auch der Bruder Christian bittet den Vater in einem Brief gleichen Datums dringend um Geld. Sie könnten ihre »vom vorigen Jahr herkommenden Schulden nicht zahlen«. Der Vater solle sie »nicht in der Verlegenheit lassen, länger ohne Geld zu leben«.

Auf den Gedanken, daß er sich selbst in Königsberg etwas dazuverdienen kann, sehen wir von jenem halbjährigen Hofmeisterdasein ab, kommt Jakob Lenz nicht. Sein Verhältnis zum Geld wird sich zeitlebens nicht ändern. Er verläßt sich auf andere, jetzt auf den Vater, dann auf Freunde und Bekannte. Er borgt, kann nicht zurückgeben. Er scheint aber das alles gar nicht wahrzunehmen, nicht darüber zu reflektieren.

Viele seiner Kommilitonen verdienen sich Geld. Auch Herder tut das. Vom Vater erhält er keinerlei finanzielle Unterstützung, lediglich vom Mohrunger Magistrat bekommt er eine kleine Summe; so verdient er sich Unterkunft und Verpflegung durch Unterricht. Am Collegium Fridericianum gibt er jüngeren Schülern Stunden und macht sich dadurch bei Vorgesetzten und Professoren beliebt. Sie fördern ihn, verhelfen ihm zu einer Stelle, nachdem er in der kurzen Zeit von nur zwei Jahren sein Theologie-Studium mit dem Prediger-Nachweis abschließt.

Auch für Jakob hätten Fleiß, gute Führung im Studium, ständiger Kollegienbesuch, Abschreibe- und Hilfsarbeiten bei den Magistern, Beaufsichtigung und Examinierung jüngerer Schüler im Livländischen Seminar die materielle Sicherheit, eine begehrte Wohnung auf dem Collegio Albertino oder freien Mittags- und Abendtisch gebracht. Eine Vielzahl von privaten und öffentlichen Gönnern gibt es in Königsberg.

Lenz bemüht sich offenbar um nichts. Er hat keine Zeit, lebt ganz seinen schriftstellerischen Arbeiten und Ideen hingegeben. Und sie bestimmen auch seine Zukunftspläne. Nach dem Westen, in die Länder der Freiheit drängt es ihn, nach Deutschland, nach Frankreich.

Das wird der tiefere Grund seiner Bitte an Kant gewesen sein. Danzig – das ist zwar nicht weit entfernt, aber von da aus weiter, weiter …

Es wird sich finden. Nur nicht nach dem öden Livland, unter die väterliche Autorität zurück.

Für den Vater aber ist die Verfügungsgewalt über den Sohn eine Selbstverständlichkeit. »Nachricht, so ich gehöret, daß Prof. Cant ihn nach Rehbinder in Danzig recommendiret«, notiert er. »Vorläufige Bestrafung, daß er nicht mit mir solche Sachen communicire, böses Gewissen: … daß du nicht eben … in deinem Vaterlande Gott und deinen Nächsten, ihnen zu Ehre und Freude nützl. seyn wilst – Zeigt wenig patriotismus an.«

Er fordert seinen Sohn Jakob Michael Reinhold zur sofortigen Rückkehr in die Heimat auf: »Ergo plane dissuadeo ut amicus, at si non vis, befehle ich dir als Vater, daß du dies Project fahren lassest u. mit deinem Bruder hereinkommst.«

Und dann eine Flut von Vorhaltungen, Ratschlägen. Was wolle er denn bei dem Herrn Resident Rehbinder in Danzig machen? »Erst Hofmeister … dann Secretair. Ein schlechter wol nicht, damit er dich abdanken könne. – Nein e. gut., folgl. e. ewiger Secretair, so wie dein Mutterbruder Neoknapp, e. ewiger freier Unterthan s. Hauses, der nie s. eignes anfangen, nie heiraten, nie selbst e. Wirtschaft führen kann, immer die Füsse unter e. fremden Tisch stecken muß.« Dieser Resident in Danzig, hält der Vater dem Sohn vor, würde ihm nie zu einer Pfarrstelle in der Stadt verhelfen. »Nun wo dann hin? Aufs Land, aufs Dorf. 1) kannst du das hier auch u. viel besser haben: denn wir haben hier 10mal bessere Land-Pastorate, als die dortigen Dorf-Pfarren sind, wo die armen Prediger fast den Hungertod fressen … da du dort fremd u. unbekannt bist: hier aber (da dein Vat. überall und du auch schon zieml. weit und breit bekannt bist) dir das ganze Land offen steht.«

Der Sohn solle nicht glauben, daß der Vater ihm aus Eigennutz riete, nein, nein, »so affenliebisch bin ich nicht«, es sei um Jakobs »wahren Vorteil« willen.

Er hat ja recht, der Vater, wie alle Väter recht haben, die nur das Beste für ihre Kinder wollen. Schrecklicher Erziehungsgrundsatz, ihm entspringt die Anpassung. Oder, wie bei Jakob Lenz, das Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn, lebenstief, demütigend und grausam für Jakob, weil er das andere darstellt, die Alternative, den Ausbruch – der Vater aber das Normale, Gängige, Durchschnittliche. Seinen begabten und sensiblen Sohn Jakob liebt Pastor Lenz vielleicht besonders, um so verheerender wirkt seine Gewalt, mit der er seine Lebensnorm dem Sohn aufzwingt.

Er beschafft Jakob eine Hofmeisterstelle in Livland. Der Beginn einer Karriere, so war es bei ihm, so wird es beim Sohn sein. Die Bedingungen sind günstig, er teilt sie Jakob nach Königsberg mit: »D. H. Obrister Bok bey mir, hat e. Schwester in Lettland, nomen nescio hat noch klein. Kind., fordert nur den ersten Unterricht im Bstabieren, Lesen, Schreiben, Rechnen u. sonderl. im französischen, offerirt selbst nicht das Salarium: du solst es fixiren. Ich meine im ersten Jahre, da die Kind. klein 150 rthl. Alb. (weil dort im lettischen Alberts-Tahler) so nach Rubeln doch zum allerwenigstens 180 Rbl. ausmachen, und dabei 20 Rthl. zu freyem Thee und Zucker. – Im andern Jahre wenn du bleiben wilst und kanst, aber 200 rthl. Alb. welches zum allerwenigstens 240 Rbl. ausmacht, u. abermal 20 rthl. Thée und Zucker … Wer weiß, wo dieser Gönner auch wegen s. grossen Bekanntschaft mit den Größten des Hofes u. Einfluß bey d. Majestät selbst dir hier noch beförderl. seyn könte? Antworte bald. – Das Salarium däucht mir convenable. Man darf den Bogen nicht zu hoch spannen …«

9
Jakob Lenz verläßt daraufhin im Frühjahr 1771, ein halbes Jahr vor dem vom Vater festgesetzten Termin, die Universität und die Stadt Königsberg in Richtung Westen. Sein Weggang gleicht einer Flucht.

Er flieht, muß fliehen, sonst wäre er, ehe er beginnt, als Dichter verloren. Hundertfünfzig Rubel oder zweihundert, zwanzig extra für Tee und Zucker oder nicht – die Kleinlichkeit des Lebens, das ist nicht sein Problem. Die Vorstellung, irgendwo in Livland Hofmeister zu werden, muß Grauen in Lenz erweckt haben. Nur das nicht.

Zwei Jahre vor ihm ist ein anderer ebenso plötzlich und alle Brücken hinter sich abbrechend aus Livland geflohen: Johann Gottfried Herder. Sein Ziel ist Frankreich. Auf dem Seewege reist er von Riga über Helsingör und die Niederlande nach Paris.

Das Motiv seines Aufbruchs ist die Furcht, »an einen toten Punkt angeheftet« zu werden, der »Studierstuhl in einer dumpfen Kammer, der Sitz an einem einförmigen, gemieteten Tisch, eine Kanzel, ein Katheder« kann das sein. »Wie klein und eingeschränkt wird da Leben, Ehre, Achtung, Wunsch, Furcht, Haß, Abneigung, Liebe, Freundschaft, Lust zu lernen. Beschäftigung, Neigung – wie enge und eingeschränkt endlich der ganze Geist.« Herders Flucht aus Livland erwächst aus der Ahnung, auf der vorgeschriebenen Bahn ein »Tintenfaß von gelehrter Schriftstellerei«, eine »träge, lache Seele« zu werden, die »sich nicht erkennet … Ich gefiel mir nicht«, schreibt er auf dem Schiff, »als Gesellschafter … Ich gefiel mir nicht als Schullehrer … Ich gefiel mir nicht als Bürger, da meine häusliche Lebensart Einschränkungen, wenig wesentliche Nutzbarkeiten und eine faule, oft ekle Ruhe hatte … Alles also war mir zuwider. Mut und Kräfte gnug hatte ich nicht, alle diese Mißsituationen zu zerstören und mich ganz in eine andere Laufbahn hineinzuzwingen. Ich mußte also reisen, und da ich an der Möglichkeit hiezu verzweifelte, so schleunig, übertäubend und fast abenteuerlich reisen, als ich konnte.«

Ebenso ergeht es wohl Lenz. Aber während der vierundzwanzigjährige Herder bereits Prediger an zwei Rigaer Hauptkirchen ist und eine feste Anstellung an der Thurmschule hat, der russische Hof ihm, um ihn in Riga zu halten, das Rektorat des Livländischen Lyzeums und das Pastorat der St.-Jakob-Kirche anbietet, ist der zwanzigjährige Lenz noch nichts. Nicht einmal sein Studium hat er abgeschlossen. Die Verlockung der Reise läßt ihn alles vergessen. Von einem Tag zum anderen entscheidet er sich vielleicht. Überstürzt, hastig. Innerlich aber ist er lange vorbereitet, dieser Aufbruch. Es ist die Sehnsucht, alles zu sehen, zu erfassen, was in den Ländern vor sich geht, aus denen die Ideen kommen, die Lenz in den Büchern faszinieren. Und warum nicht Kants Ermutigungen, sich seines Verstandes zu bedienen, auf das eigene Leben beziehen?

Die Umstände der Reise sind dabei nur Zufall, Nebensache. Zwei Kommilitonen von Lenz, junge Adlige, die Barone von Kleist, entfernte Verwandte jenes von Lenz so verehrten Dichters Ewald von Kleist vermutlich, wollen sich im französischen Straßburg in einem deutschen Regiment als Offiziere ausbilden lassen. Lenz muß davon gehört haben. Er bietet sich als Reisebegleiter an. Ohne ein Gehalt zu fordern oder irgend etwas, was einem Vertrage ähnelte. Freie Kost und Logis, selbstverständlich wohl, sind das einzige, was er jemals von ihnen erhalten wird.

Mit welchen Vorstellungen er losfährt, mit welchen Plänen für seine Zukunft, nie wird Lenz sich dazu äußern.

Herder aber hat es getan auf seiner langen Schiffsreise von Riga nach Frankreich. »Livland haben die Fremden«, schreibt er, »bisher nur auf ihre kaufmännische Art, zum Reichwerden, genossen«, ihm, Herder, aber sei es »zu einem höhern Zwecke gegeben, es zu bilden!« Nach Livland werde er zurückkehren als ein »zweiter Zwinglius«, als ein »Calvin« dieser Provinz. »… habe ich dazu Anlage, Gelegenheit, Talente?« befragt er sich, »was muß ich tun, um es zu werden? was muß ich zerstören? … Unnütze Kritiken und tote Untersuchungen aufgeben … das Zutrauen der Regierung, des Gouvernements und Hofes gewinnen, Frankreich, England und Italien und Deutschland in diesem Betracht durchreisen … alles praktisch zu denken und zu unternehmen mich angewöhnen, Welt, Adel und Menschen zu überreden, auf meine Seite zu bringen wissen … ich habe alle Groß- Gut- und Edeldenkende, gegen ein paar Pedanten, auf meiner Seite: ich habe freie Hand.« Herder ist sich der Gnade der russischen Kaiserin Katharina gewiß. »Alles muß sich heutzutage an die Politik anschmiegen, auch für mich ist’s nötig, mit meinen Planen.«

Jugendlicher Überschwang. Zukunftspläne. Sie werden Schicht um Schicht von der Realität selbst des aufgeklärtesten Absolutismus abgetragen, und die große Hoffnung der Französischen Revolution bleibt Hoffnung im Reiche des Geistes. Quälend die Tatenlosigkeit. »… jedes Datum ist Handlung; alles übrige ist Schatten, ist Räsonnement«, schreibt der vierundzwanzigjährige Herder, als er aus Livland flieht. Später, im kleinen deutschen Fürstenstaat Weimar-Eisenach, wird er von der »verworrenen Schattenfabel« seines äußeren Lebens sprechen, sich in einer »gespenstvollen Einöde« finden, »eingeklemmt in das einsame Wirrwar und geistige Sisyphus-Handwerk«. Nie wieder ist von Hoffnungen auf die Zarin Katharina, nie wieder ist von einer Rückkehr nach Livland die Rede.

Und wäre Herder zurückgekehrt, so wäre Lenzens Vater sein Vorgesetzter gewesen. Zum Generalsuperintendenten ganz Livlands wird Pastor Lenz im Juni 1779 ernannt. Welch ein Spielraum für Herders Ideen, denkt man noch hinzu, daß Lenzens Vater schon in den Dorpater Jahren, als der junge Herder in Riga zu veröffentlichen beginnt, ihn mit seinem Haß verfolgt. Probst Lenz gehört zur Partei von Klotz, die Herder heftig angreift. Einen »socinianischen Christen«, eine der »Bestien der Freygeisterei« sieht er in Herder. »Sie thun Herdern unrecht«, wird Jakob dem Vater schreiben, »er ist kein socinianischer Christ. Lesen Sie doch bitte seine Urkunde …«

Pastor Lenz wird seinem Sohn nie verzeihen, daß er sich Herder anschließt, wie er auch dem Sohn nie verzeiht, daß er gegen seinen Willen und Befehl Livland verläßt. Es ist ihm, dem autoritären, an Machtausübung gewohnten Mann, in seinem bisherigen Leben nicht vorgekommen, daß jemand das Recht eines selbständigen Weges für sich in Anspruch nimmt. Und das tut sein eigener Sohn, der geliebte, der redebegabte, auf den er als Theologe so viel Hoffnung setzt.

Jakob Lenz flieht.

Ohne diesen Ausbruch wäre er nie der Dichter Lenz geworden. Er mußte sich vom Vater lösen.

»Die Kleinheit deiner Erziehung, die Sklaverei deines Geburtslandes, der Bagatellenkram deines Jahrhunderts … hat dich eingeschränkt, dich so herabgesetzt, daß du dich nicht erkennest«, schreibt Herder 1769 und fragt sich, wie vielleicht ebenso der Student Jakob Michael Reinhold Lenz, der da aus Königsberg in Richtung Westen flüchtet: »Wann werde ich so weit sein, um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören und nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne und glaube.«

10
Lenzens Reise geht quer durch Deutschland. Ostpreußen zunächst, Westpreußen, Pommern. Von Königsberg aus nach Elbing. Sie berühren sicher Danzig, denn sie reisen an der Küste entlang. In Köslin und Kolberg ist Lenz nachweislich mit den Baronen von Kleist gewesen. In einem späteren Brief bedankt er sich für die freundliche Aufnahme dort. Köslin ist die Geburtsstadt seines Vaters. Die Großeltern leben vielleicht noch. In dem Brief spricht er nur von Vaterbrüdern und deren Kindern.

Die Barone von Kleist drängen zur Weiterfahrt. Stargard. Die Landschaft ist immer noch gewohnt, nördlichslawisch. Bis an die Oder. Der Oderübergang bei Küstrin wäre denkbar. Dort schon die Befestigungen und Kasematten. Überall Garnisonen, Soldaten, Offiziere. Die preußischen Uniformen nehmen zu, dunkelblau, hellblau und grün, mit roten, weißen und orangefarbenen Aufschlägen. Dann durchfahren sie die Mark Brandenburg. Die Erwartung Berlin. Die Postkalesche bringt sie bis zum Tor der Stadt. Am Tor Fragen nach Namen, Beruf, woher, wohin, beabsichtigte Unterkunft in Berlin, Länge des Aufenthaltes. Dasselbe dann noch einmal im Gasthof, im Quartier. Die Polizei vergleicht es, prüft so den Wahrheitsgehalt der Aussagen.

In Berlin müssen sie sich eine Zeit aufgehalten haben. Tiergarten, die Straßenzüge Berlins, Unter den Linden. Promenieren, Besehen des Neuen, Ungewohnten. Paraden, Aufzüge. Die anders gekleideten Menschen, ihre Art, sich zu geben, zu leben. Und die vielen »lüderlichen Weiber«. Die Interessen der Barone und Lenzens werden unterschiedlich gewesen sein.

Lenz drängt es vor allem ins Theater. Er ist nicht verwöhnt. In Dorpat wird erst Jahre nach seinem Weggang in einer leerstehenden Kupfermühle in der Vorstadt das erste feste Theater gegründet. Als Kind wird er in seiner Heimatstadt wohl Possenreißer und Gaukler auf dem Jahrmarkt, auch Marionettentheater und die eine oder andere Vorstellung einer wandernden Theatertruppe gesehen haben, die auf dem Weg nach dem russischen Sankt Petersburg, kommt ihr Schiff in Libau an, in Mitau und Dorpat haltmacht. Oder er erlebt eine Schauspielertruppe, die von Reval aus einen Umweg in Kauf nimmt. In Königsberg dann freilich ist es anders, die bekannte Schauspielertruppe, das Kochische Theater, gastiert dort. Da die Briefe aus dieser Zeit an den Vater gerichtet sind, schweigt Jakob selbstverständlich über solche Art verbotener Erlebnisse. Auch über seine Theaterbesuche in Berlin auf der Durchreise von Livland nach Frankreich gibt es aus anderen Gründen keine Zeugnisse. Ganz sicher wird Lenz ein Stück oder mehrere gesehen haben. Und er will natürlich die literarischen Größen kennenlernen. Dazu bleibt ihm Zeit während des Aufenthaltes in Berlin. Karl Wilhelm Ramler sucht er auf, den Aufklärer, Freund Lessings und des so früh verstorbenen Ewald von Kleist, Ramler, der mit Lessing Sammlungen älterer Poesie herausgab und dessen pathoserfüllte Oden nach Horaz weit verbreitet sind. Ob Lenz ihn nicht antrifft, ob er abgewiesen wird? Es ist üblich, daß die Gelehrten einen jeden empfangen. Wahrscheinlich bezieht sich Ramlers Ablehnung nur auf das von Lenz angebotene Manuskript seiner Übersetzung aus dem Englischen. Er wäre schon bei ihm gewesen, wird Lenz einem anderen Schriftsteller sagen, der ihn an seinen Kollegen, eben an Ramler verweisen will. Es ist der große Christoph Friedrich Nicolai, zu dem Lenz nun geht und zu dem er auch vorgelassen wird. Nicolai, dessen Verlag und Buchhandlung, dessen Haus das geistige Zentrum in Berlin in jenen Jahren ist. Seit 1765 gibt der Autor die »Allgemeine Deutsche Bibliothek«, die wichtigste Zeitschrift der deutschen Aufklärung heraus. Er ist sich seiner Bedeutung bewußt, seines Einflusses, dieser Literaturpapst. Die Begegnung zwischen Nicolai und dem jungen Lenz muß sehr unglücklich verlaufen sein. Für Lenz. Noch nicht im repräsentativen Haus in der Brüderstraße 13 findet sie statt, wohin dann so viele Dichter und Gelehrte kommen – das Haus kauft Nicolai erst 1787. Lenz, der Theologie-Student ohne Abschluß, schüchtern und linkisch und doch selbstbewußt; Sätze über Nicolais Dorpater Mitarbeiter Konrad Gadebusch, eine Empfehlung von Kant vielleicht stammelnd – vor dem Literaturpapst. Er bietet – zweiter Versuch – seine Übersetzung nun Nicolai zum Druck an. Auf dessen Einwurf, er solle zu Ramler gehen, antwortet Lenz, dort sei er gewesen und abgewiesen worden. Laune, Zufall, Arroganz – bei diesen Worten fällt Nicolai (später, 1795, berichtet er es selbst, möglicherweise schon gefärbt, da ist er giftig gegen alle) ein Offizier ein, der nie zahlte und daher von einem Gastwirte zum anderen gewiesen wurde, und er bricht in ein schallendes Gelächter aus. Damit ist die Audienz beendet. Lenz ist natürlich tief verletzt. Das sind seine ersten Begegnungen mit den Leuten der Literatur im preußischen Berlin.

Dann wieder Aufbruch, Passieren eines anderen Stadttores; in Richtung Südwesten nach Leipzig. Mit der Postkutsche dauert die Reise von Berlin nach Leipzig zwei Tage, etwas mehr, etwas weniger, je nachdem, ob sie, die Barone Kleist und ihr Begleiter Lenz, mit der ordinären oder der Extra-Post reisen. Die preußischen Postkaleschen sind gegenüber den russischen spartanisch, lange Fuhrwagen mit zwei Sitzen ohne Riemen und Federn. Die Grobheit der preußischen Postillone, das Warten auf den Stationen, bis Post- und Schirrmeister ihren Korn getrunken haben, neue Pferde angespannt sind. Lenz vielleicht auf dem hinteren Sitz, Mantelsack oder Felleisen unter sich, um die harten Stöße zu mildern; ein schlechter Platz da hinten, aber immerhin kann er die Füße bequem ausstrecken.

Leipzig. Das Klein-Paris. Hier bleibt wohl nicht so viel Zeit wie in Berlin. Keine Zeugnisse über Jakob Lenzens Aufenthalt dort. Im Brief eines Freundes später eine einzige Äußerung, der Name eines Mannes, der Lenz von Leipzig her kennt.

Leipzig, die Stadt der Handelsleute, der Verleger und Buchhändler. Ob er Zeit hat, sie aufzusuchen, in die Universität zu gehen: Oeser, Platner, Gellert oder sonstwem seine Aufwartung zu machen? Vielleicht besuchen die Barone, die Empfehlungen haben, Klubs, Soupers und Bälle, die die reichen Kaufleute in Leipzig so zahlreich veranstalten. Vielleicht auch ist Leipzig nur eine Poststation wie andere für sie. Durchreise.

Sachsen bleibt hinter ihnen, sie nähern sich dem Thüringischen. Die liebliche Saale, die weite Ebene, in der die Stadt Naumburg liegt. Weiter. Eine fast gebirgige Gegend um Eisenach. Manchmal wohl steigen sie aus der Postkutsche aus, laufen einige Meilen zu Fuß, wenn die Kutsche an Hängen oder langen Steigungen im Schrittempo fährt.

Schließlich und endlich Frankfurt am Main. Von hier führen zwei Wege nach dem zu Frankreich gehörenden Straßburg, der eine über Darmstadt, Heidelberg und Karlsruhe, der andere durch die Pfalz. Sie müssen sich für einen entscheiden. Nach weiteren Tagen sind sie am Rhein. Kehl am rechten Ufer des Rheins, Straßburg direkt gegenüber, ist die letzte deutsche Poststation. Wieviel Grenzen von deutschen Kleinstaaten haben sie durchfahren. Ewiger Wechsel, das Land ist zerstückelt. Nun zum letztenmal der deutsche Visitator, er durchsucht Felleisen, Mantelsäcke und Koffer. Sie können passieren.

Auszug aus: Sigrid Damm, Vögel, die verkünden Land. Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4418. © Insel Verlag Frankfurt am Main 1989

Mit freundlicher Genehmigung der Suhrkamp Verlag AG 2023

Extracts from Part One: Now That It’s Broken, House of Exile – The Life and Times of Heinrich Mann and Nelly Kroeger-Mann (Giramondo, 2009)

The brothers were tied by bonds of love and jealousy. There were fallings-out, short and long periods of not speaking to each other, followed by peace. Tidal forces of affection. During one of the family’s summer holidays in Travemünde, a seaside resort 15 kilometres from Lübeck, to cut the ice, Heinrich raced Tommy to the shore and deliberately fell over in the sand to let his brother win. Then they both dipped their toes into the blue-green water – measured in degrees of coldness, even on the hottest day – and daring one another, they both plunged into the waves.

Two hundred fifty rivers drain into the glacial basin of the Baltic Sea; as the largest volume of brackish – in some parts almost fresh – water on the planet, it contains only about a quarter of the salt of oceans. It was once a lake and has been a sea for a scant 7,000 years; now it is related to the North Sea, and distantly, to the North Atlantic, via narrow straits. Sudden wind changes and violent storms have always made it hazardous for ships; on its bed there are more rotting, rusting wrecks than in any other sea on Earth. Heinrich told his younger brother, as they dived into the viridescent waves, about a marine landscape of ships’ hulls, broken masts, treasure chests and cannon balls, crusted with shells, flagged with fluorescent algae. He said that the Baltic was a cemetery. That swimming further out, they must be careful not to touch the bottom with their feet, for fear of kicking up old bones. That the water of the Baltic tastes like blood.

In Los Angeles, in the not yet broken darkness before dawn, Heinrich cast pencil markings across a new page of his sketchbook: 1886, he calculated, May or June, when their mother began to read Anna Karenina to them, for soon afterwards they were on holiday, and the book, unfinished, had been left at home.

Travemünde in July and August was a place of milk-washed skies, sand like silk against the skin, shells picked up and left randomly on windowsills and gateposts. Everyone rose early and retired late; with a Nordic thirst for light and warmth, accumulated over too many months of winter, they lavished themselves with sun. At the water’s edge was the familiar line-up of bathing machines which one entered clothed and exited by a short ladder, temporarily amphibian, for health from sea water and sea air. From the promenade, and from a pathmaze of manicured gardens, with the crunch of pebbles underfoot, came bursts of laughter and sounds of calling to acquaintances, in a great variety of dialects and languages. Holidaymakers wearing mostly white, men with straw hats, women twirling parasols, strolled, or gathered with contagious leisure, against the backdrop of the hardly incongruous row of picturesque Swiss chalets, or the Musiktempel, or the Kurhaus where one sipped salt water. On the beach children chased raucous seagulls, and with Lilliputian spades built forts and castles; with their bare hands they dug wet sand, urgently, to make channels and as the water rushed in and out, and the walls threatened to collapse, they hurried to secure them; if someone wilfully destroyed these masterworks, there were slaps, kicks, howls, tears.

A youth carrying a book might slink towards the dunes to read or daydream, unsure of his status in society, while others of his age rehearsed the arts of courtship in every little way. Two or three young people walked in the direction of the lighthouse and the Brodtener Steilufer, a cliff from which great chunks, trees even, sometimes fell into the sea; at its base was a narrow strip of sand, a renowned treasure trail for fossil hunters, leading between Travemünde and the fishing-village of Niendorf.

Along slowly darkening paths some who stayed out late followed the rituals of glow worms – wingless female beetles, Lampyris noctiluca – that lit up their bodies to attract the unilluminated flying males.

Like many others, the Manns probably hired an open carriage for excursions to villages further along the coast, Niendorf, Timmendorf, Scharbeutz, where they would eat freshly smoked fish for lunch, herring, sprats, or eel. They stopped to buy berries from a farmer’s stall, and the old coachman took a nap while they picked great bunches of blue lupins that grew beside the road, and strawflowers from a whitegold carpet covering the dunes. As they headed back to Travemünde for dinner, fields on one side, sea on the other, Lula coughed from the dust kicked up by the horses, and Heinrich noticed that Carla was almost asleep against his chest, that Tommy was sunburnt.

Light and shade flickered hypnotically as the carriage rolled through a forest of beech trees. The coachman told stories. Not only amber washed up on these shores, he said, but people too, the living and the dead. He recounted the terrible storms he’d experienced in his lifetime. The worst by far were the winds that caused the great flood of November 1872, when it seemed as if in the wild black of night, the sea would altogether claim the land. Trees bent like straw, buildings were destroyed, others filled with sand, people and animals drowned, those who had managed to climb onto rooftops felt walls collapse below and were set adrift. As the water subsided, survivors were found in treetops and boats were stranded on meadows far from the shore.

Going further back in time, the coachman thought it was the summer of 1837, he was a young man then, courting the innkeeper’s daughter, and he remembered that travellers on their way by ship to other Baltic ports had to wait for the wild weather to abate before continuing their journeys. The wind was so powerful that a beehive was tossed high into the air, and with its swarm intact it was carried to an island. For days the inn was full of restless people, pacing, smoking, drinking; not a rowdy bunch at first, but they grew irritable as the weather worsened. The storyteller remembered one man going to Riga, who was increasingly impatient with the delay, intolerant of the crowded space, red with anger; how the volume of his voice rose from his chest, producing rapid streams of curses; how he slammed the wooden benches with his fist. To calm him, the innkeeper showed him a book which absorbed the man so completely, he was seen musing, making notes, tapping rythms on the table, and when the storm passed and it was time to continue their journey, his wife had trouble rousing him from his concentration. The fellow’s name, the coachman revealed as he pulled up at the hotel entrance, was Wagner.

And the book the innkeeper had brought him was Till Eulenspiegel, which he’d immediately thought would be a perfect subject for a quintessentially German comic opera. Richard and Minna Wagner were going to Riga, where he was to take up the position of musical director at the German Theatre. The Wagners’ return journey in 1839, with their Newfoundland dog, was even more eventful. Minna was pregnant, and having lived beyond their means in Riga, they were travelling in a great hurry across borders, without visas, to escape their creditors. At one point their coach overturned, and as if the trickster Eulenspiegel himself was at work, Wagner landed in a pile of dung. Man, woman, and dog crawled through high grass to reach the dinghy that would take them to their ship. Minna later found she had miscarried. They expected to be in London in a week, but the trip took almost a month. Tempestuous weather blew the small merchant vessel far off course; it was driven onto rocks that tore off its figurehead, and the sailors, familiar with the legend of the fleeing Dutchman, suspected that the Wagners might be the harbingers of great misfortune. The opera based on this experience premiered in 1843. It was a great success.

In early September 1886 the Manns arrived back in Lübeck, bright-eyed and tanned...

 

.... 1889 or 1890, only a few steps from the Holstentor – via the Puppenbrücke, the bridge of dolls – Lübeck’s Lindenplatz became a site of yearning for Thomas Mann. This neighbourhood was the home of his schoolfriend, Armin Martens, the son of a timber merchant. In the novella Tonio Kröger (1903), portraying Martens as Hans Hansen, Tonio (who was Thomas) named what he loved best: the fountain, the old walnut tree, his violin and the sea in the distance, the dreamlike summer sounds of the Baltic Sea. He loved his dark, fiery mother, who played the piano and the violin so enchantingly. And he loved Hans Hansen, and had already suffered a great deal on his account. For it seemed that whoever loves the most is at a disadvantage and must suffer...

 

... Thomas Mann later claimed that he and his brother were strongly influenced by the shadowy atmosphere of Lübeck, where twisting Gothic alleys and hidden corners seemed to be haunted by something very old and pale, emotionally deformed, spiritually diseased, a remnant of the hysteria of medieval times. He said Lübeck was the city of The Dance of Death. Hans Christian Andersen, who visited St. Marien in 1831, thought he detected ironic smiles on the skeletons’ faces, and was moved to write a story about a boy called Christian who asked for paper reproductions of figures from The Dance of Death to play with. Most likely, for the Mann children, those images in all their tricky ambiguity would have provided rich material for theatrical productions and night terrors. The church fresco was destroyed in the bombing of 1942 ...

© Evelyn Juers, 2009

https://www.theguardian.com/books/2011/jun/24/house-of-exile-evelyn-juers-review

Es ist allzu bekannt, daß nur wenige seiner Zeitgenossen, mit denen Strindberg in Berührung kam, auf die Dauer vor seinem überkritischen Blick bestehen konnten. Mit bedrückender Zwangsläufigkeit schien Freundschaft in Feindschaft, Liebe in Haß umschlagen zu müssen, und Elemente der Kontinuität bildeten in seinen persönlichen Beziehungen eher die Ausnahme.

Nicht viel leichter hatten es die Großen der Vergangenheit, die Anerkennung des genialen Egozentrikers zu finden, und als wirkliche Vorbilder kommen nur äußerst wenige in Betracht.

Zu nennen wäre hier sicher Goethe, den Strindberg bewunderte und dem er sich in mancher Hinsicht ähnlich fühlte.¹ Auch wenn er ihn auffallend selten namentlich erwähnt, ist sein Schatten doch so häufig gegenwärtig. Konstatierend, daß er genau 100 Jahre nach Goethe geboren ist, liebäugelt er einmal sogar scherzhaft mit der Möglichkeit einer Wiedergeburt² – insgesamt ein etwas problematisches Verhältnis, das sicher einmal eine nähere Betrachtung verdiente.

Offener zutage liegt die Bedeutung Swedenborgs für Strindberg, der seinen Landsmann irnoischerweise erst in Paris, durch Balzacs Roman Séraphita, kennenlernte – eine Entdeckung, die er nach seinen Schilderungen damals geradezu als lebensrettende Offenbarung erlebt haben muß.

Viel früher begann dagegen Strindbergs Beziehung zu einer anderen bedeutenden Gestalt der schwedischen Geistesgeschichte, zu Carl von Linné. Ihre Bedeutung, die den Gegenstand dieser Skizze bildet, hat in der Vergangenheit das Interesse der Biographen und Forscher nur in geringem Maße auf sich ziehen können. Dies muß verwundern, denn es ist doch gerade Linné, der Strindberg aufs Ganze seines Lebens gesehen am nächsten gestanden haben dürfte – als unbestrittene Autorität, als erfolgreiches Vorbild, aber auch als Mensch, in dem er eigene Erfahrungen, Eigenschaften und Ideen wiederfand.

Daß er schon im Hause seiner Kindheit präsent war – in Gips, auf dem Sekretär seiner Mutter – beweist eine Schlüsselszene der Teilautobiographie Tjänstekvinnans son. Als der Dreizehnjährige am Sterbebett seiner Mutter sitzt, fällt sein Blick auf der Suche nach etwas Tröstlichem auf diese Statue:

Hur skulle det bli när mamma ej fanns mer? Ödsligt, tomt. Ingen tröst, ingen ersättning. Det var bara ett tjockt mörker av olycka. Han spanade efter en enda ljuspunkt. Ögat faller på modrens byrå, där Linné sitter i gips med en blomma i handen.

(SS 18, S. 89 f.)³

Möglicherweise war dies ja eine verkleinerte Kopie der Linnéstatue in Humlegården, von der Strindberg viele Jahre später eine Ansichtskarte an Marie Uhl schickte (27.4.1900; XIII, 272).

Wir erfahren aus der zitierten Stelle nicht, was den heranwachsenden Strindberg mit Linné verband, vor allem nicht, welche seiner Bücher er damals schon kannte.4 Den Verzeichnissen über den Buchbesitz seiner späteren Jahre, über den wir recht gut informiert sind, entnehmen wir jedoch, daß in seinen verschiedenen Bibliotheken auch immer Werke von Linné vertreten waren.5

Ein Beispiel dafür, was diese Werke ihm bedeutet haben, liefert eine Briefstelle von 1896:

Hittade på vinden min gamla Linnés Gotlandsresa ... Emellertid har Linnés resa i Gotland stärkt min tro, och hade jag bara Linnés Skånska Resa skulle väl jag få in bräckjärnet.

(XI, 345)

Strindberg hatte mit Linné viele Interessen gemeinsam: auch er war ein großer Naturfreund und liebevoller Gärtner6, verstand sich als Naturforscher, reiste nach Linnés Vorbild und auf seinen Spuren durch die schwedischen Provinzen, bemerkte auch sehr wohl Parallelen in ihren Lebensläufen. Ein besonderer Berührungspunkt lag aber in einem Problembereich, der für beide eine existentielle Bedeutung hatte, in der Frage nach dem Ursprung des Bösen, dem Sinn des Leidens und der gerechten Weltordnung.

Ehe wir uns aber diesem Kernbereich und der Nemesis divina zuwenden, soll wenigstens in Umrissen skizziert werden, wie uns Linné sonst in Strindbergs Briefen und Werken entgegentritt.

Erste Dokumente einer intensiven Beschäftigung Strindbergs mit Linné enthält sein frühes historisches Werk Svenska folket von 1880/82, also aus der Zeit seiner Anstellung an der Königlichen Bibliothek, wo ihm der Zugang zu den Quellen offenstand. In diesem Werk würdigt er ausführlich Linnés Einsatz bei der Beschaffung von naturwissenschaftlichem Material durch schwedische Chinahändler, zitiert seinen Wahlspruch (tantus amor florum) und einen besonders schönen Brief, in dem Linné, von Freude ganz überwältigt, einem Kapitän dankt, daß er ihm eine lebende Teepflanze mitgebracht hatte.7 An späterer Stelle dieses Werkes setzt Strindberg Linné ein Denkmal als dem Ideal eines Hochschulwissenschaftlers:8

Carl von Linné uppenbarar sig vetenskapen först och störst såsom folkvänlig, en gudarnas gåva åt alla, som skänkes genom vetenskapsmannens händer åt alla. Vetenskapen var icke för honom en partisak, en kotteriangelägenhet, som handhades endast för ägarens skull; hans uppgift var icke att, insvept i ett misstänkt skyddandes mörker, hålla hopen på avstånd i en underdånig dyrkan; han skickade icke sina lärjungar kring hela världen att samla material, varav han sedan ensam skulle skörda äran, utan han uppmanade dem själva att utgiva sina samlingar, vilka han ofta beledsagade med uppmuntrande inledningsord. Linné var tidevarvets och Sveriges lärdaste och snillrikaste man; han sjönk icke ner i småaktigt detalj-samlande, utan han genomskådade alla dessa massor av individer ur naturriket och såg deras inbördes sammanhang; han ordnade kaos och inblåste en levande anda i de torra herbarierna, de uppstoppade och spritlagda djuren, de döda stenarne.
Allt skapat tilltalade honom, och han såg i det lilla ett stort, som han gav gamla folkliga namn för att bli bättre förstådd, och att bli förstådd var hans ära.

Wenige Jahre später, nämlich 1888, setzt sich Strindberg in dem Stück Blomstrens hemligheter aus den Blomstermålningar och djurstycken mit Linnés Pflanzensystematik auseinander. Kritisch, was seine logische Begründung und praktische Anwendbarkeit angeht, aber insgesamt doch voller Bewunderung steht er diesem Gedankengebäude gegenüber. Freilich macht er kein Hehl daraus, daß ihm bei Linné die phantasievolle Spekulation, z.B. über den Zusammenhang zwischen Farbe und Geschmack der Pflanzen, mehr zusagt als sein Staubgefäßezählen (SS 22, S. 269 f.). 1894 wird er Lidforss in einem Brief anvertrauen:

... jag funnit Linnés system icke en bit dummare än de andras, eller lika dumt som de andras, ty system ges ej i naturen.

(11.3.1894; X, 33)

Wenn Strindberg Linné gegenüber also keineswegs ganz ohne Vorbehalte ist, hat seine Autorität für ihn doch große Beweiskraft, besonders wenn sie ihm geeignet scheint, seine eigenen Thesen zu stützen. Dies geht z.B. aus einem Kapitel über die angebliche Überwinterung von Vögeln unter dem Eis hervor. (En blå bok I, S. 306 f.)

Höchst eigenwillig ist die Akzentsetzung, mit der Strindberg Linné in den Blomstermålningar einführt:

På 1700-talet föddes en stor poet, som ägnade sig åt naturvetenskaperna.

Seine Phantasie war es, die Linné nach Strindbergs Auffassung zum Poeten machte:

Med poet menar jag en herre, som har fantasi, det är förmåga att kombinera företeelser, se sammanhang, ordna och gallra.

Ganz offensichtlich zielt diese Charakterisierung auch auf Strindberg selbst, und wenn er noch einmal pointiert wiederholt: "Linné kunde, som sagt, se, där andra intet sågo" kündigt sich hier bereits ein Bild Linnés an, das für Strindberg in seiner Infernozeit wichtig wird – das des Mystikers. So schreibt er im Juni 1896 in einem Brief an Hedlund, in dem er dem Atheismus absagt:

Jag är naturalist-ockultisten, som Linné, min store lärare. Först fysiken, så meta-. Jag vill se med mina utvertes ögon först och sedan med de invertes.

(XI, 219)

Als sich Strindberg im Sommer 1896 zum Tode verurteilt glaubt, macht er noch einmal einen Spaziergang durch den Jardin des Plantes, um der Schöpfung Lebewohl zu sagen. Abschied nimmt er auch von den großen Naturwissenschaftlern, deren Namen dort in goldenen Buchstaben auf dem Tempelfries eingeschrieben sind, und hofft, sie bald wiederzuschen:

Och I store män, Bernardin de Saint-Pierre, Linné, Geoffroy Saint-Hilaire, Haüy, vilkas namn äro ristade i guld på tempelfrisen – farväl! nej: vi träffas snart!

(SS 28, S. 96)

Mit besonderer Freude registriert Strindberg Ende September desselben Jahres die Würdigung, die Linné in der Welt findet, und benutzt den Anlaß zu einem erneuten Loblied:

Linné er för mig och verlden eljes en bland de största siare som lefvat, I ett franskt biografiskt lexikon i vintras sattes han som myt, en heros-ande invid Aristoteles. Ja, ty då var specialismen eller ingeniörsvetenskapen ej påfunnen, hvilken medförde den Babyloniska förbistringen då det gick så långt att en mineralog ej förstod en zoolog – hvilket nu er fallet. Och han hade fantasi, som nu saknas och derför fördummar en hel generation eller två.

(25.9.96 an Hedlund; XI, 346)

Auch hier wird Linné wieder als Kronzeuge gegen die zeitgenössische Fachwissenschaft und damit indirekt für Strindbergs eigenen universalen Wissenschaftsbegriff aufgerufen.

Anläßlich seines zweihundertsten Geburtstages 19079 prophezeit Strindberg Linné eine Renaissance:

När nu Linné skall jubileras, kommer väl hans ande att stå upp igen, Liksom Swedenborgs stod upp mitt i förra sekelslutet. Då få vi nog se botaniken bli levande igen efter sin hundraåriga dekadens ...

(Linné står upp. En blå bok I. SS 46, S. 312 f.)

Er nimmt ihn in Schutz vor seinen Kritikern, die ihn als trockenen Systematiker verketzert und den Meister nicht dort gesucht hätten, wo er zu finden sei: in seinen herrlichen Reisen, seinen Reden, Briefen und in gewissen Abhandlungen:

I resorna ser han över hela naturen i dess tre riken, stenarnas, växternas och djurens; och han behandlar dom som levande varelser; han är biolog, anatom, fysiolog, men han är även läkaren, medicine doktorn och apotekaren i en person.

(SS 46, S. 315)

Aber nicht nur durch seine Vielseitigkeit in Fragestellung und methodischem Ansatz hebt sich Linné nach Strindbergs Überzeugung von der "perversen modernen Dekadenzwissenschaft" ab, die zwar Mikroskop und Teleskop erfunden, aber nur dumme und falsche Schlüsse gezogen habe, sondern vor allem auch dadurch, daß er frei war von der modernen "teofobi" etwa eines Ernst Haeckel:

Och överallt ser han skaparens hand, den mätande och räknande skaparen, som han likt Moses fick se på ryggen, och hisnade.

(SS 46, S. 315)

So rückt er ihn in die Nähe der Pythagoräer und Swedenborgs ("Linné står närmare pythagoreerne och Swedenborg än man tror", S. 314) und reiht ihn ein in die Gruppe derer, die keinen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion gesehen hätten:

Newton, Leibnitz, Kepler, Swedenborg, Linné, de största, voro fromma, gudfruktiga män... Ödmjuka och renhjärtade fingo de skåda Gud, under det våra dekadenter bara fingo se en apa uppvaktad av mikroskopisk ohyra.

(En blå bok I, SS 36, S. 30)

Diese Auswahl von wesentlichen Urteilen beweist nicht nur die eminente Bedeutung Linnés für alle Lebensphasen Strindbergs, sondern auch, daß dieser ein erstaunlich tiefes und facettenreiches Linnébild besaß und als ein wirklich guter Kenner dieses großen Forschers gelten darf.

Wie Linné sah sich auch Strindberg selbst als Naturwissenschaftler. Er glaubte sich in den Spuren seines Vorbildes und fühlte sich als sein legitimer Erbwalter. So richtete er große Erwartungen auf eine Ehrung anläßlich der Feier, die zu Linnés 200. Geburtstag in Uppsala geplant war. Nahrung erhielt diese Hoffnung, als seine Tochter Greta ihm mitteilte, er sei für die Ehrendoktorwürde vorgeschlagen worden (Ockulta Dagboken, 17.4.1907, S. 256) Bekanntlich wurde nichts aus dieser Ehrung, und so erlebte Strindberg an einem Tag, der die Krönung seiner Beziehung zu Linné hätte werden sollen, eine seiner bittersten Enttäuschungen. Von seiner Betroffenheit zeugt die karge Notiz am 23. Mai ("Linné-dagen. Ensam, tungt", ebd., S. 262) ebenso wie der Ausbruch viele Wochen später:

Ensam! Erinrar i dag Linnéfesten i Upsala i Maj. Hackel, som är Linnés värsta motståndare kröntes till Linnés ära. Promotor f.d. B Trs älskare utdelade kransarne, bl. a. åt dem som inte visste ett dyft om Linné och ingen naturvetenskap kunde. Åsnefesten! Det var "kamorran", Svarta Fanorna i Domkyrkan! Ap-messan! Svarta messan i Upsala Domkyrka.

(ebd., 19.7.1907, S. 267)

Strindberg wußte, daß das Bild vom "botanischen Wunderkind", vom "Glücks- und Schoßkind der Natur" so nicht zutraf!10, zu dessen Verbreitung Linné selbst durch seine in hellen Farben gemalten autobiographischen Äußerungen am meisten beigetragen hatte. Früher als andere und mit besonderer Aufmerksamkeit registrierte er, daß auch Linnés Leben, wie das seine, nicht frei von ernsten Krisen und dunklen Phasen war. In welcher Richtung aber Linné eine Lösung seiner Probleme gesucht hat, geht am deutlichsten aus seinem Werk Nemesis divina11 hervor, mit dem sich Strindberg immer wieder und mit unterschiedlichem Ergebnis auseinandergesetzt hat.12

Es ist dies sicher das eigenartigste Werk der schwedischen Aufklärungszeit, eine Sammlung von gut 200 losen Blättern, nie zur Veröffentlichung bestimmt, lange verschollen13, der Öffentlichkeit in Auszügen erst 184814, vollständig dann 187815 zugänglich gemacht. Es enthält, in kaum geordneter Folge, zahlreiche Aufzeichnungen, vor allem biographischer Natur, Schicksalsstenogramme von Menschen, in deren Leben Linné Beweise für Gottes Vorsehung und eine ausgleichende Gerechtigkeit erblickte.

Die beiden Kernelemente der Nemesis-Lehre sind folgende:
1. Jede Schuld findet schon auf Erden ihre unausweichliche Vergeltung. Sie wird gerächt am Täter oder allenfalls einem seiner Nachkommen, wodurch das Gleichgewicht der göttlichen Weltordnung wicderhergestellt wird.
2. Die Strafe korrespondiert in ihrer Form in mehr oder weniger deutlicher Weise mit dem Vergehen, wodurch sie als Schrift Gottes für den Menschen lesbar wird.

Ein kurzes Beispiel aus Linnés Werk möge das Gesagte illustrieren:

Tornskiöld
Danska ammiralen Tornskiöld, samme som tog Marstrand från oss. Han skiöt en poike med en pistol långt up i masten, för det han tyckte ej nog skynda sig.
Af en swänsk blef skuten i duelle uti Hamburg.

(Malmeström/Fredbärj, S. 192)

Das Motiv des ius talionis, wie Linné die Nemesis auch nennt, erscheint hier gleich doppelt: die Pistole als Werkzeug von Schuld und Sühne, und – etwas unauffälliger: die Schweden als Geschädigte und ein Schwede als Werkzeug der Vergeltung. Die Gesetzmäßigkeit der Nemesis divina erlaubte, nach Linnés Überzeugung, bei Kenntnis eines Verbrechens bereits gewisse Rückschlüsse auf die Art der späteren Ahndung, andererseits aber auch Vermutungen auf die Tatsache und die Art einer verborgen gebliebenen Schuld, wenn jemand dem Anschein nach von einem Strafgericht betroffen wurde. Linné sammelte auch Beispiele für eine ausgleichende Gerechtigkeit im positiven Sinne, doch sind sie in der Minderzahl.

Ihre Wurzeln hat die Nemesis-divina-Vorstellung vor allem in der Welt des Alten Testaments, in der griechisch-römischen Antike und im Volksglauben, Aus diesen Bereichen stammt ein großer Teil der Beispiele, daneben finden sich aber auch Beobachtungen aus der jüngsten schwedischen Geschichte und aus dem Umkreis seiner Zeitgenossen und Hochschulkollegen.

Obwohl die Entstehung des Nemesis-Glaubens bei Linné durchaus auch mit aktuellen Ereignissen seiner Biographie in Verbindung zu bringen ist und auch eine Antwort auf bestimmte persönliche Probleme darstellte, ist dieser Gesichtspunkt doch nicht der allein herrschende. Denn auf einer allgemeineren Ebene wird die Nemesis divina im Zusammenhang mit der Frage nach der Theodizee überhaupt diskutiert und fungiert hier als ein Garant für die Ordnung und Gerechtigkeit in der Schöpfung. Sie wird als ein System des Gleichgewichts und der Korrespondenzen dargestellt und als eine metaphysisch begründete sozial-moralische Analogie zur Ordnung im Reich der sichtbaren Natur.

Strindberg setzt die Akzente anders. Ihn interessiert vornehmlich die Frage, von der einst auch Linné ausgegangen war: gibt es eine Instanz, die eine Bestrafung seiner persönlichen Feinde garantiert und ihn selbst der Notwendigkeit der Rache enthebt? Der gläubige Linné hatte die Frage eindeutig beantwortet und 1734 im Vertrauen auf die göttliche Nemesis allen Ansprüchen auf Rache oder auch nur Verteidigung abgeschworen. Rachsucht sah er als Wurzel alles Bösen an und versuchte sich selbst der Nemesis durch die Befolgung der Maxime "Innocue vivito. Numen adest" zu entzichen.

Strindberg vermochte ihm in seiner atheistischen Phase – etwa zwischen 1885 und 1895 – auf diesem Weg nicht zu folgen. In dieses Jahrzehnt nämlich fällt seine erste und ausführlichste Auseinandersetzung mit Linnés Lehre: der Essay Nemesis divina, zuerst 1887 anläßlich von Linnés hundertstem Todestag in der dänischen Zeitung Politiken veröffentlicht. Die Haltung Strindbergs ist hier eigentümlich ambivalent. Er zeigt sich beeindruckt von den Beispielen und bekundet, er könne den Gedankengang Linnés sehr gut nachvollziehen.

Liksom alla framstående personligheter, vilka efter mycken kamp kommit upp på livets ärofulla platser och förvånade blicka tillbaka på de övervunna svårigheterna, så kom även Linné på den tanken, att han stod under en guds mäktiga och speciella beskydd. Ur denna översats drog hann sedan den slutföljden, att samme gud, som skyddade honom, även måste nedgöra hans fiender.

(SS 22, S. 163)

Diesen Gedanken spielt Strindberg nun am Beispiel seiner eigenen Biographie durch und kommt zu dem Ergebnis, alle solchen Schlüsse auf eine Nemesis beruhten auf psychologisch verständlicher, aber dennoch unzulässiger Interpretation von Zufällen als Ursache-Wirkung-Bezügen. Post non propter! Daß er aber so oft wiederholt, wie leicht er selbst auf Grund seiner Erfahrungen auf den Gedanken an cine Nemesis hätte kommen können, deutet bereits an, daß er sich seiner Sache keineswegs so sicher ist. Hier spürt man zwischen den Zeilen, daß er mehr gegen sich selbst als gegen Linné argumentiert, und tatsächlich steht diese sauber rationalistische Stellungnahme ziemlich isoliert da. Während ihrer Gültigkeit hingegen führte sie bei Strindberg zu der Auffassung, die Rache an seinen Feinden selbst in die Hand nehmen zu müssen. Dem Schauspieler Schiwe drohte er im März 1889: "Jag sköter nemligen min Nemesis Divina sjelf sedan jag blifvit ateist." (VII, 298) und Lidforss kündigte er 1894 sogar den Tod an: "Och nu skall han dö!... Nemesis humana ha vi qvar fastän vi strukit divina." (1.6.1894; X, 72) 1907 wird er im ersten Blaubuch übrigens eine ganz negative Einstellung zur Nemesis humana bekunden.

Aber selbst in der atheistischen Phase überwiegt die Vorstellung von einer übermenschlichen Exekutive, die seine Feinde heimsucht. Zum erstenmal hatte er in einem Brief vom 30. 6. 85 mit Genugtuung die Schicksalsschläge aufgelistet, die viele seiner wirklichen oder vermeintlichen Feinde getroffen hatten (V, 119 f.). Ähnlichem begegnen wir danach öfter, z.B. in Briefen vom 22. 8. 88 (VI1, 107) und vom 1. 8. 94 (X, 182). Ein interessantes Beispiel dafür, wie Strindberg die Nemesis divina in seinen Atheismus herüberrettet, enthält Le plaidoyer d'un fou. Hier erteilt Strindberg als Axel seiner Frau eine Lektion: auch wenn es keinen Gott gebe, blieben doch Unrecht und Verantwortung und die Rache des Schicksals bestehen. Eine Fehlgeburt Maries bzw. Siris interpretiert er ganz in Linnés Sinne als Beweis für ihren Ehebruch:

Am Tag darauf und an den folgenden Tagen spricht sie entzückt davon, wieviel Spaß sie in Finnland gehabt habe. Wie im Rausch erzählt sie, auf dem Dampfer einen Ingenieur kennengelernt zu haben. Er sei ein aufgeklärter, moderner Mann, der sie überzeugt habe, daß es in der Welt keine Sünden gebe und daß alles von den Gegebenheiten des Schicksals abhänge. "Sehr schön, mein Liebling, aber alle Handlungen bringen gleichwohl Konsequenzen mit sich. Und selbst wenn man zugibt, daß es keine Sünde gibt, weil es keinen persönlichen Gott gibt, so bleibt man doch verantwortlich gegenüber den Menschen, denen man ein Unrecht angetan hat; und trotz des Fehlens der Sünde bleibt das Verbrechen, solange das Gesetz in Kraft ist; und trotz der Abschaffung des theologischen Sündenbegriffs bleibt die Vergeltung bestehen, die Rache, wenn du so willst, an dem, der uns geschadet hat."

Ende des Monats hat sie eine Fehlgeburt! Der Ehebruch scheint mir bewiesen!
16

Betrifft es Strindberg freilich selbst, erkennt er eben diese "Beweisführung" nicht an. So schreibt er im Nachwort zur französischen Ausgabe desselben Werks:

Die Gütigen, die ihre mittelmäßige Rache unter dem schönen Ausdruck ‘Göttliche Gerechtigkeit' verbergen, haben meine 'Beichte' im Namen ihrer Nemesis divina verurteilt, indem sie nach falschen Beweisen behaupten, ich hätte den Gatten der ersten Ehe hintergangen.17

Der Gedanke, die Nemesis könnte ihn selbst treffen oder getroffen haben, hat in Strindberg während der Infernozeit (1894-96) schwere Angstzustände hervorgerufen. Er versuchte, diesen Gedanken wegzurationalisieren und gab sich in einem Brief vom Juli 1896 folgende Antwort auf die Frage, wer die Nemesis sei:

När Linné väntade något godt eller fått något godt var hann rädd att tala om det: Ne audiat Nemesis! skref hann efteråt. Hvem är Nemesis? De andres hat, afundshat, som har kraft att tillintetgöra min framgång. Jag har alltid varit rädd i medgången, ty mina närmaste ha hatat mig ...

(18.7.1896, XI, 269)

Zwei Jahre vorher, als er das Thema der Nemesis in französischer Sprache behandelte, hatte er sich deutlicher ausgedrückt:18

En effet j'ai peur! ... Et je suis au point de retourner à la vieille interprétation superstitieuse de Nemesis.

Einen neuen Impuls, sich mit der Nemesis divina zu beschäftigen, bedeutete für Strindberg die Bekanntschaft mit den Lebenserinnerungen Meir Aron Goldschmidts von 1877, die er Ende 1898 machte.19 Im Verlauf seiner kritischen Auseinandersetzung mit Linnés Nemesis divina im zweiten Band, der diesen Bezug andeutend auch den Titel Nemesis trägt, stellt der dänische Autor die Frage, ob man nicht an Linnés eigenes Schicksal ebenfalls die Maßstäbe seiner Nemesislehre anlegen sollte:20

Under et Udbrud af Vrede blev han ramt af et Slag, hvorved hans Tunge lammedes, og han døde langsomt og sørgelig i henved fem Aar. Han kunde en Tidlang Iæse i sine egne Skrifter og græd da over, at Nogen havde skrevet saadan. Skulle vi nu, idet vi staa overfor dette Liv og denne Død, anvende samme Maal og Udtryksmaade, som han selv anvendte paa Tordenskiold, og sige, at fordi han i sin Ungdom ville dræbe Rosén, derfor kom endelig Nemesis og dræbte ham langsomt, eller at Nemesis formedelst hans Hidsighed kom og slog ham ligesom hin af ham selv anførte Professor?

Strindberg nimmt im ersten Blaubuch von 1907 gerade auf diesen Punkt in Goldschmidts Werk Bezug. Wie bei seiner Einstellung zu Linné zu erwarten, äußert er sich freilich noch viel zurückhaltender als jener über eine eventuelle Schuldzuweisung, zumal er auch eine Parallele zu seinem eigenen Schicksal sieht:

Att den fromme Linné fick sitta sina sista år i en stol, lam efter slaganfallet, och även han pinad av en grälsjuk hustru är bekant, men orsaken vet endast Gud allena.

(SS 46, S. 389)

Hier lag für Strindberg offenbar ein Kernproblem, das ihn immer wieder dazu trieb, außerhalb der Nemesis-Vorstellung andere Erklärungsmodelle für die Existenz des Leidens ins Auge zu fassen. Die Nemesis divina erlaubte ja nur eine Interpretation: jedes Leiden war Strafe, für ein eigenes Vergehen oder allenfalls für das eines Vorfahren. Eine frühe literarische Verwirklichung dieser Vorstellung stellt übrigens das Drama Gillets hemlighet von 1880 dar.

Von Linné selbst mag Strindberg die Rechtfertigung dafür bezogen habe, die Nemesis divina nicht als erwiesene Wahrheit, sondern als durch das Experiment erst zu verifizierende Arbeitshypothese zu betrachten. Der naturwissenschaftliche Ansatz ist jedenfalls bei Linné von Anfang an deutlich. Schon seine erste Erwähnung der Nemesis geschieht 1747 in der Form "Nemesis divina experimentalis” (Wästgötha-Resan, S. 227) und in einer seiner späteren Autobiographien schreibt er über sich:

Han hade samblat et stort föråd af egna observationer de Nemesi divina, ..., som han kallade Theologia experimentalis ...

(Vita IV; Malmeström/Fredbärj, S. 11)

Dieser Gedanke der Theologia experimentalis hatte eine große Bedeutung für Strindberg, der sein Leben lang Weltanschauungen bis zur letzten Konsequenz im Selbstversuch erprobte. "Min Ateismus var ett experiment", schreibt er 1896, "som utföll så: att jag aldrig kommer tillbaka dit mer!" (21.6.96; XI, 219), "började ställa sig experimenterande på en troendes ståndpunkt" erklärt er 1898 im Nachwort zu den Legenden21, und 1900 schreibt er an Schering: "Experimentiere mit Standpunkte und Anschauungen, Laborator und Experiment-Objekt auf dem selben Mal." (XIII, 262) Rückblickend bricht er dieses Modell eines Selbstversuchs auf und öffnet ihm die metaphysische Dimension:22

Ob der Dichter wirklich, wie er zuweilen glaubte, mit Standpunkten experimentiert ... oder ob eine gnädige Vorsehung mit dem Dichter experimentiert hat, mag für den aufgeklärten Leser aus den Texten hervorgehen.

Hatte Strindberg für das Leiden seiner Feinde mit der Nemesis divina eine akzeptable Erklärung, so sträubte er sich doch, diese auf sein eigenes Leiden anzuwenden. Dieses Problem stellte sich um so dringender, als er – im Gegensatz zu dem optimistischeren Linné – sein ganzes Leben als vom Leiden überschattet empfand. Um nur einige aus unzähligen ähnlichen Äußerungen zu zitieren: "Leben ist Leiden, sogar Freuden bereiten uns die allergrößten Elenden" (XII1, 58), "Det är ett elände så gränslöst att jag icke vet om jag skall göra slut på mina lidanden eller fortfara!" (VIII, 49), " - jag lidit mer än beskrivas kan" (VIII, 18). Eine befriedigende Antwort auf seine Frage: "Hvad menar Försynen med dessa oerhörda lidanden och pröfningar den ålagt oss?" (I, 321) konnte er bei Linné nicht finden. So suchte er Hilfe bei anderen und fand sie u.a. bei Swedenborg. Einige der Erklärungsmodelle, die für ihn am wichtigsten waren, seien hier wenigstens kurz umrissen; sie lassen sich übrigens nicht präzise mit bestimmten Lebensabschnitten zur Deckung bringen, sondern überschneiden und durchdringen sich stark.

Wohl die wichtigste Antwort Strindbergs auf Fragen, die von der Nemesis divina nicht beantwortet wurden, ist seine Vorstellung vom stellvertretenden Leiden. Er prägte dafür den Ausdruck "Satisfactio vicaria". Ihre bedeutsamste literarische Ausformung hat die Satisfactio vicaria, die stark von Swedenborg geprägt ist, im Drama Påsk von 1900 gefunden. Im Zusammenhang mit der Lehre vom stellvertretenden Leiden sind auch die Rollen des Sündenbocks und des Opferlamms zu sehen, in denen sich Strindberg häufig darstellte.

Überzeugt von seiner eigenen Unschuld sah Strindberg sich auch gerne als Hiob, als Märtyrer, als leidenden Titan. In diesem Kontext bedeutete ihm Leiden eine Bewährungsprobe und einen besonderen Gunstbeweis Gottes: "O, säll är den man som Gud straffar!" (XI, 289). Verwandt damit ist die Gestalt des mit Gott ringenden Jakob, in der er sich im dritten Teil seines Infernobuches mit dem Titel Jakob brottas verkörpert. Elemente dieser Jakobs-Gestalt finden wir auch später in der Zentralfigur des Dramas Den stora landsvägen. Das Motiv des Leidens als Auszeichnung begegnet uns übrigens schon in dem frühen Stück Mäster Olof.

Beeinflußt vom Glauben an die Seelenwanderung und an das fernöstliche Karma diskutiert Strindberg in Auseinandersetzung mit den Theosophen die Möglichkeit des Leidens für Vergehen, die man in einer vorhergehenden Existenz begangen hat. Schon in Tjänstekvinnans son heißt es einmal: "Livet var en straffanstalt för brott, begångna innan man var född ..." (SS 18, S. 39) und später in einem Brief: "Vi äro i Inferno för synder begångna i en föregående existens." (XI, 376) Nur so vermag er das Leiden unschuldiger Kinder mit der göttlichen Gerechtigkeit in Einklang zu bringen: "... den gudomliga rättvisan låter oss ana, att det är på grund av brott, begångna före ankomsten till denna värld." (Inferno, SS 28, S. 196)

Strindberg erkannte schließlich sehr wohl, daß viele seiner Leiden auf ihn selbst zurückgingen. Auch dies versuchte er gerne damit als unverschuldetes Leiden zu interpretieren, daß er sich unter dem fluchhaften Zwang sah, anderen Übel zuzufügen, oder unter der Pflicht, andere zu bestrafen.23

Im dritten Blaubuch argumentiert er sogar, die Betroffenen müßten ihm dafür dankbar sein. (SS 48, S. 873 f.)

Besonders in seinen letzten Jahren mehren sich aber auch Aussagen, die sich von dem "oupphörlig kurragömmalek med hans egen skuldkänsla"24 deutlich entfernen. So schreibt er z.B. Weihnachten 1896 an Marie Uhl:

Ich gestehe offen, dass ich leide was ich persönlich verdiene und ich schiebe keine Schuld auf Adams Sünde oder so was. Ich predige auch nicht, strafe nicht, trage mein Kreuz und hilfe wenn ich kann die Mitschuldige Ihres Kreuz zu tragen. Punkt!

(23.12.96; XII, 26)

Und im September 1897 an dieselbe:

Ich habe wie Kant meine kategorische Imperativen formuliert um leben zu können: Ich habe was ich verdient, und damit hört das Räsonnieren auf.

(XII, 163)

Auch wenn diese Versuche, im Interesse eines Modus vivendi das theologische Experiment abzubrechen, etwas abrupt klingen, läßt sich Strindbergs Leben mit gewissem Vorbehalt am Ende doch unter eine Formel stellen, die er zu Beginn seiner Infernozeit schon einmal so gefaßt hatte: "vom Leiden durch Wissenschaft zur Buße".

Auf diesem Weg hat er sich Zeit seines Lebens an Linné orientiert, und wenn er auch immer deutlicher erkannte, daß dessen Hypothese von der Nemesis divina in einer Aporie endete, so hat ihn die Idee doch offenbar bis in seine letzten Jahre nicht losgelassen. Dies zeigen zwei Berichte im dritten Blaubuch, die von ihrem Charakter und ihrem Stil her nahtlos in Linnés Fallsammlung hineinpassen würden.

Der eine Text, unter dem Titel Trådlös kallelse, berichtet u.a. von jemandem, der Strindbergs Neurasthenie einst als "delirium tremens" verspottet hatte, jetzt selbst an dieser Krankheit litt und später in einer Anstalt für Alkoholiker zu Grunde ging. (SS 48, S. 945 ff.)

Die zweite Geschichte unter dem Titel En kort historia, men komplicerad lautet so:

En hustru följde sin i lungsot dödsdömde man till en badort. Mannen kom sig; men frun återvände sjuk i lungsot och dog. Mannen gifte om sig. Efter några år uppstod ovilja mellan honom och frun, så att han till sista sommaren reste ensam med en bror till badort. Återkommen därifrän, dock ej fullt frisk, skulle han en söndag gå i kyrkan, men föll utanför en restaurang, där han bars in och dog,

(SS 48, S. 929)

In der anschließenden Spekulation über die Vorfälle, ganz im Stil Goldschmidts übrigens, sieht es Strindberg u.a. als sicher an, daß die erste Frau ihrem Mann den Tod gewünscht hatte. Einige Zeit vorher, im ersten Blaubuch hatte Strindberg noch einmal eine neue, von seinen früheren deutlich abweichende Definition der Nemesis divina formuliert, in der diese geradezu die Funktion des inneren ethischen Verhaltensregulativs zugewiesen bekam:

Nemesis divina ... det är den immanenta utövaren av gudomlig rättvisa som varje människa bär inom sig som ett hämningsorgan att stävja det onda.

(SS 46, S. 155)

So zeigt sich am Beispiel der Nemesis divina besonders eindrucksvoll, wie fruchtbar und dynamisch Strindbergs lebenslange Auseinandersetzung mit der Gestalt, den Beobachtungen und Vorstellungen Linnés verlief.

Anmerkungen

1 "Man är ej sämre då man är som Goethe", schreibt er 1902 (X1V, 223). Strindbergs Briefe werden mit Band- u. Seitenzahl zitiert nach der Ausgabe: August Strindberg, Brev. Utg. av Strindbergssällskapet (T. Eklund). Bd. I-XV. Stockholm 1948-1976.

2 Jag är född den 22 Januari 1849 ... jemt 100 år efter Goethes födelse (tro nu inte att jag är Goethe)" (27.4.1896; XI, 76)

3 SS = August Strindberg, Samlade skrifter. Hg. von J. Landquist. 55 Bde. Stockholm 1912-20.

4 Allan Hagsten hat nachgewiesen, daß Strindberg nur wenige Bücher aus seiner Jugendzeit über den Konkurs von 1879 herübergerettet hat (Den unge Strindberg. Bd. III. Lund 1951. S. 40 ff.)

5 Im einzelnen registriert Hans Lindström (Strindberg och böckerna. I. Biblioteken 1883, 1892 och 1912. Uppsala 1977) folgende Werke und Sammlungen:

Carl Linnæi skånska resa år 1749. 1751 – Carl Linnæi wästgötha-resa förrättad år 1746. 1747 – Carl von Linné, Svenska arbeten, i urval och med noter utg. af Ewald Ährling. 1-2. 1878-80 (Bibliothek von 1883) – Carl von Linné, Amoenitates academicae 1-7. 1749-69 – ders., Hortus Upsaliensis. 1748 – ders., Svenska arbeten ... – E. Fries, Botaniska utflygter 1-3 1843-1864 (Bibl. von 1892) – Carl Linnæi gothländska resa. 1890 – E. Fries, wie oben (Bibl. von 1907)

6 Zu Strindberg als Gartenfreund und Naturkenner auf Linnés Spuren vgl. Walter Johnson: August Strindberg. Boston 1976. S. 66 ff.

7 Svenska Folket. II. SS 8, S. 224-226.

8 ebd., S. 383 f.

9 Sogar in Australien, schreibt er an Mörner, gebe es einen guten Grund, Linnés Geburtstag zu feiern – schließlich sei ein Kap in der Nähe von Sydney nach einem seiner Schüler benannt worden. (7.4.1907; XV, 358)

10 Vgl. Elis Malmeström: "Det är alltsä en vanföreställning, att Linné alltid var den obeskyggade ljusgestalten, ett naturens lycko- och skötebarn. Tvärtom är hans liv under den länga tiden av 30 är i djupet förstämt." (Linnés religiösa åskådning. Theol. Diss. Upsala 1926. S. 90).

11 Carl von Linné: Nemesis divina. Utgiven av Elis Malmeström och Telemak Fredbärj. Stockholm 1968.

12 Der Einfluß der Nemesis-Lehre Linnés auf Strindberg ist ein Punkt, auf den in der Literatur immer wieder hingewiesen wurde. Zum erstenmal geschah dies offenbar durch Nathan Söderblom in einem (mir nicht zugänglichen) Aufsatz Linné, Strindberg och makterna, dessen Gedanken er weiterführte in Strindberg och makterna. For Kirke och Kultur XVI. Kristiania 1909. S. 129-135. Ohne Kenntnis dieser Arbeiten griff Axel Herrlin dieses Thema erneut auf: "Dessutom torde Strindberg i ej ringa grad hava varit influerad av idékretsen i Linnés "Anteckningar över Nemesis Divina". Jag skulle missminna mig mycket, om icke Strindberg under 'Inferno'-våren 1897 i Lund av och till talade härom." Axel Herrlin: Bengt Lidforss och August Strindberg. En studie över deras tankegemenskap och förhållande till samtida naturfilosofiska och metafysiska strömmingar. In: Bengt Lidforss. En minnesskrift … redigerad av Einar Sjövall. Malmö 1923. S. 33-83, Zitat S. 80. Auch in: Axel Herrlin: Från sekelslutets Lund. Lund 1936. Meist unter Berufung auf Herrlin auch: Martin Lamm: August Strindberg. 2., rev. Uppl. Stockholm 1948, S. 74, Torsten Eklund: Tjänstekvinnans son. En psykologisk Strindbergsstudie. Stockholm 1948, S. 270 f. Walter Johnson: August Strindberg. Boston 1976. S. 202. Göran Stockenström: Ismael i öknen. Strindberg som mystiker. Uppsala 1972. S. 14 f.

13 Nur wenige Menschen in Linnés Umgebung wußten von seinen Aufzeichnungen zur Nemesis divina. Nach seinem und seines Sohnes Tod suchte man lange in Schweden und England, ohne eine Spur zu finden. Erst 1844 fanden sie sich wieder: 203 lose Oktavblätter, in dieser Form nicht zur Veröffentlichung bestimmt.

14 Durch Elias Magnus Fries' Programm zur Magisterpromotion. Strindberg kannte den Text durch
den Nachdruck in Fries’ Sammelwerk: Botaniska utflygter. En samling af strödda tillfällighetsskrifter. Bd. I-III. Upsala 1843-1864, dessen zweiter Band von 1852 auf den S. 299 ff. den Beitrag "Carl von Linnés anteckningar öfver Nemesis Divina" enthielt.

C.G. Rollin griff Linnés Gedanken auf in seinem schmalen Werk: Nemesis Divina, eller Guds sätt att redan här i tiden vedergälla menniskors onda gerningar. Uppsatser med anledning så väl av framlidne arkiater Carl von Linnés anteckningar härom, som och af samtal med en af hans lärjungar, samt af egna och andras iakttagelser rörande detta ämne. Stockholm (1857). Ob Strindberg es gekannt hat, ist nicht bekannt.

15 Carl von Linnés Anteckningar öfver Nemesis Divina. Utgifne af Elias Fries och Th(ore) M. Fries. Ny omarbetad och tillökad upplaga. Uppsala 1878.

16 August Strindberg: Plädoyer eines Irren (Le plaidoyer d'un fou). Übers. aus dem Franz. … von Hans Joachim Maass. Köln 1977. S. 267 f.

17 August Strindberg: Die Beichte eines Toren. Übertragen von Emil Schering. München 1923. S. 371.

18 Ungedr. Manuskr., zit. nach Torsten Eklund: Tjänstekvinnans son. En psykologisk Strindbergsstudie. Stockholm 1948.

19 Zum 5. und 7. Sept. 1898 findet sich die Eintragung "Läser Goldsmith om Nemesis" im Ockulta Dagboken (fol. 75r). Am 15.11.98 schreibt Strindberg an einen unbekannten Redakteur: "Om Nemesis-problemet intresserar Er som sådant, ber jag få hänvisa till Dansken Goldschmidts Lefvernesbeskrifning, och bok om Nemesis, ehuru han ofta förvexlat Nemesis med Forsynen." (XIII, 39).

20 Meir Goldschmidt: Livs Erindringer og Resultater. Udg. … ved Morten Borup. København 1965. Bd. II, S. 20 f.

21 Legender, Efterskrift S. 399. Vgl. Eklund a.a.O., S. 280: "Inte heller under det sista skedet efter Infernokrisen kan Strindberg sägas ha nått fram till en ståndpunkt, som fyller de gängse kraven på en positiv religiös tro. Därtill är hans ställning alltför oklar och experimenterande."

22 Der Sohn einer Magd. Vorwort zur 2. Auflage 1909, S. 10.

23 Vgl. auch Lida utan att ångra, in: En blå bok III, SS 48, S. 977 f.

24 Torsten Eklund: Tjänstekvinnans son, S. 276

(Aus: Der nahe Norden. Otto Oberholzer zum 65. Geburtstag. Eine Festschrift. Hg. von Wolfgang Butt und Bernhard Glienke. Frankfurt am Main 1985, S. 23-35)



Auf einem ärmlichen Fleckchen Erde in Karelien, unweit einer russischen Holzkirche mit grünen Zwiebelkuppeln, entstand 1916 die große Weltpoesie des Nordens. In ihrem karelischen Heimatdorf Raivola, das damals zum Großfürstentum Russland gehörte, schloss die damals 24jährige Edith Södergran ihren bildmächtigen Gedichtband „Dikter“ ab. Ein halbes Jahrhundert später schwärmte der junge Peter Hamm: „Die skandinavische Moderne wurde von einer Frau eröffnet, von Edith Södergran, einer der grandiosesten Dichterinnen der Welt. Ihr war auferlegt, in wenigen Jahren das wichtigste lyrische Werk zu schaffen, das der gesamte Norden heute besitzt.“ Auf einem Foto von 1912 sieht man die Dichterin auf dem Krankenbett im schweizerischen Davos, wo sie zur Erholung weilte, der Blick der Lungenkranken ist in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Die Lichtgestalt der skandinavischen Poesie wurde nur 31 Jahre alt, die Todeserwartung ist in fast alle ihre Gedichte eingeschrieben. Im deutschen Sprachraum hat Hans Magnus Enzensberger bereits 1960 Södergran übersetzt und in sein „Museum der modernen Poesie“ aufgenommen. Aber es dauerte - nach einem weiteren Anlauf unter der Regie von Richard Pietraß, der 1988 mit einigen Lyriker-Kollegen für den Band „Klauenspur“ (Reclam Leipzig) Södergran übersetzte - noch ein weiteres Vierteljahrhundert, bis jetzt endlich die angemessene Würdigung ihres Werks erscheinen konnte.       © Bernhard Kathan

Diese editorische Großtat ist dem Übersetzer und Dichter Klaus-Jürgen Liedtke zu verdanken, der dank der Unterstützung durch die „Schwedische Literaturgesellschaft  in Finnland“ ein großes Panorama der skandinavischen Weltpoesie vorgelegt hat. Edith Södergran ist die Portalfigur der von ihm herausgegebenen und auch komplett (!) übersetzten fünfbändigen Anthologie „Finnlandschwedische Literatur der Avantgarde“. Allein schon durch die feine bibliophile Ausstattung der Leinenbände, die mit der gewohnten Sorgfalt vom Verleger Josef Kleinheinrich gestaltet wurden, gehört diese durchweg Original wie Übersetzung präsentierende Anthologie zu den größten poetischen Ereignissen der letzten Jahre. Neben Edith Södergran hat Liedtke den entscheidend von der Spätromantikerin beeinflussten Dichtern Elmer Diktonius, Raabe Enckell, Henry Parland und Gunnar Björling je einen Band der Anthologie gewidmet. Alles Dichter, die der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland angehören und die hierzulande – mit Ausnahme von Björling – bislang nahezu unbekannt waren und zum größten Teil in dieser Anthologie erstmals auf Deutsch vorliegen. Zu den frühverstorbenen Lichtgestalten aus der finnlandschwedischen Hemisphäre gehört auch Henry Parland (1908-1930) aus Wiborg, der 1929 mit lakonischen Dinggedichten im Stil der Neuen Sachlichkeit Aufmerksamkeit erregte. Nur im Fall von Gunnar Björling (1887-1960), der mit seiner Verwandlungsfähigkeit und seinen ironischen Selbstzuschreibungen neben Edith Södergran die herausragende Figur der Anthologie ist, hat Hans Magnus Enzensberger einige Vorarbeit geleistet. In seinem epochalen „Museum der modernen Poesie“ hatte er schon auf die Sonderstellung Björlings hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass sich Björling bereits 1921 als „Dada-Universalist“ bezeichnet und damit „zweifellos eine Irreführung“ erdacht hat. Liest man die faszinierenden Aphorismen Björlings, besteht ein nicht geringes Vergnügen darin, sich von seinen Finten und plötzlichen ästhetischen Richtungswechseln überraschen zu lassen. Auf die scheinbar auftrumpfende Behauptung, er sei ein „Dada-Universalist“, folgt alsbald die weniger schmeichelhafte Einsicht: „Ich alter Schwülstling/ bin nicht sehr begabt/...Ich bin ein neuer Bazillus/Ich bin Dadaonkel...“ Diese Wendigkeit des „Dadaonkels“ Björling ist aber allemal den Kraftmeiereien des kulturrevolutionär aufgelegten Elmer Diktonius (1896-1961) vorzuziehen, der in vielen seiner Gedichte wie ein pathetisch überhitzter Verwandter Johannes R. Bechers auftritt. Der wohl schönste Aphorismus der Anthologie stammt aber ebenfalls von Elmer Diktonius: „Ich schreibe, denn ich bin schwach. Besser wäre es, mit einer Axt in die Welt hinauszugehen und um sich zu hauen.“ Über die ästhetischen Eigenheiten von Elmer Diktonius, Henry Parland und Raabe Enckell geben auch die vorzüglichen Einleitungen (von Klaus-Jürgen Liedtke) und die Nachworte (von Anders Olsson) Auskunft, die den Bänden jeweils beigegeben sind. Hier ergreift denn auch Klaus-Jürgen Liedtke die Gelegenheit, die herbe Kritik zurückzuweisen, die vor einigen Jahren Heinrich Detering an Liedtkes Södergran-Übersetzungen geübt hat.

Tatsächlich entdeckt man ebenso feine wie signifikante Unterschiede, wenn man die Übersetzungen von Enzensberger oder Richard Pietraß mit denen von Klaus-Jürgen Liedtke vergleicht.

Die Hölle

O wie herrlich die Hölle ist!
In der Hölle spricht niemand vom Tod.
In die Eingeweide der Erde ist die Hölle gemauert
und mit glühenden Blüten geschmückt...
In der Hölle spricht niemand ein hohles Wort...
In der Hölle hat niemand getrunken und niemand geschlafen
niemand ruht aus und niemand sitzt still.
In der Hölle spricht niemand, doch alle schreien,
dort sind Tränen nicht Tränen und ohne Kraft aller Kummer.
In der Hölle wird niemand krank und niemand ermüdet.
Unveränderlich ist die Hölle und ewig.

„In der Hölle sagt keiner ein leeres Wort“, heißt es noch bei Hans-Magnus Enzensberger, „In der Hölle spricht niemand ein hohles Wort“ bei Klaus-Jürgen Liedtke. Nur in Liedtkes Übersetzung ist die mythische Dimension des Pronomens „niemand“ enthalten. Es verweist zurück auf Homers Odyssee und darin auf die Geschichte des blinden Polyphem, der sich von „Niemand“ täuschen lässt.

Auch an einem weiteren Södergran-Gedicht zeigen sich die Vorzüge von Liedtkes Übersetzung. Es ist eins ihrer letzten Gedichte, das auch ihren Grabstein in Raivola ziert, das ergreifende Poem „Ankunft im Hades“:

Sieh den Strand der Ewigkeit,
hier braust der Strom vorbei,
und der Tod spielt in den Büschen
sein immergleiches Tandaradei.

Sieh hier den Strand der Ewigkeit,
vorüber rauscht die Flut,
und in dem Strauchwerk spielt der Tod  
sein immergleiches ödes Lied.

Das „Tandaradei“, der betörende Nachtigallengesang, ist vom „öden Lied“ so weit entfernt wie ursprünglich das „Elysium“, die Insel der Seligen, vom antiken „Hades“.

Edith Södergran rückt beides dicht aneinander. In ihrer Dichtung herrscht ein reger Transfer zwischen den Mächten der Unterwelt und den Herrlichkeiten der Gegenwart:

und täglich kommen frische Blumen aus der Hölle.
Aber es kommt der Tag, da die Hölle leer ist, der Himmel schließt
und alles stillsteht –
dann wird nichts übrig sein als der Leib einer Libelle
         in einer Blattfalte.
Aber keiner wird es wissen.

Als Leser dieser prophetischen, lebenshungrigen wie todessüchtigen Gedichte von Edith Södergran nehmen wir diese Blumen aus der Hölle dankbar entgegen.  

Erstveröffentlichung: Signaturen-Magazin Dezember 2014 © Doris Braun, 2023

Edith Södergran / Elmer Diktonius/  Rabbe Enckell / Gunnar Björling / Henry Parland: Finnlandschwedische Literatur der Avantgarde. Hrsg. von Klaus-Jürgen Liedtke.
Edith Södergran: Ich selbst bin Feuer / Jag själv är elden. Gedichte / Dikter 1907-1922.
Elmer Diktonius: Gras und Granit / Gräs och granit. Aphorismen und Gedichte / Aforismer och dikter 1921-1954.
Rabbe Enckell: Streichholzgedichte / Tändsticksdikter. Gedichte / Dikter 1923-1971.
Gunnar Björling: und japangleich ein Angelboot / och japanlik en metarbät. Aphorismen und Gedichte / Aforismer och dikter 1925-1960.
Henry Parland: Einmal Europa - dankend erhalten / Erhällit Europa - vilket hermed erkännes. Gedichte / Dikter 1926-1930
5 Bände in Kassette. Münster (Kleinheinrich Verlag) 2014. Je 180 Seiten. 90,00 Euro.