Von Vilnius nach Kaunas. Begegnungen in einer Zwischenzeit

Die Steigerungsform von «der Eiserne Vorhang» ist nicht irgendein noch eisernerer Vorhang, sondern die Grenze der ehemaligen Sowjetunion. Vom Westen aus gesprochen, natürlich, von Europas neu entdeckten Rändern her. Wenn man das Kursbuch der Schweizerischen Bundesbahnen aufschlägt, sieht man das internationale Anschlussnetz bei Warschau Bratislava, Budapest und Zagreb ausfransen. Wer versucht, in Erfahrung zu bringen, wie man von Warschau nach Vilnius weiterfahren kann, erntet Früchte: genau gesagt vier. In Zürich, Berlin, Warschau und Vilnius informiert man mich verbindlich über denselben Zug - die Abfahrtszeiten für Warschau differieren um knapp zwölf Stunden. Ich werde doch besser fliegen.

Die Gletscher des Kalten Krieges ziehen sich nur zögernd zurück. Terra cognita kann man das Land nicht nennen, das sie freigeben. Das Gelände muss leicht hügelig sein, dem gefleckten Weiss nach zu urteilen. Ein grosszügig mäandernder Fluss schlängelt sich durch die gescheckte Landschaft und ist noch halb zugefroren. Nur dank ihrem Kranz von Buschwerk zeichnen sich die zahllosen Weiher und Seen ab, ich erkenne sie im Anflug, in 15 Minuten werden wir landen. Mittendrin ein Autobahnkreuz. Wir sinken. Ich sehe: auch die Seen sind gefleckt, und man beginnt Wege quer übers Eis auszumachen. Feines Sgraffito auf der zweifarbigen Landkarte, die sich unter mir ausbreitet. Ostern, Anfang April 1996.

Ganz Vilnius gleicht einer riesigen Kunsthalle mit einer ausgedehnten Installation, der Künstler, der sie vor einem halben Jahr eingerichtet hat, heisst Winter. Dieser Winter. In den Strassen und Hinterhöfen und auf den Dächern. Schwarz verkrustetes, schulterhoch aufgeworfenes Weiss, auf dessen Oberfläche skulpturale Auswüchse ausgewaschen sind, die wie Schuppen eiszeitlicher Echsen auf das Eingehen der Buckel warten, die sie tragen. Hin und wieder, erstaunlich selten, schmücken sich die schwitzenden Ungetüme mit buntem Abfall, doch der stellt etwas Exotisches dar.

Ich gehe die Kauno gatve zur Stadt hinunter. Jugendstil-Mietshäuser in desolatestem Zustand, der Moderhauch aus Hintertüren, das hartnäckige Wohnen im Verfall, dann der stalinistische Tempelbau mit möchtegern-korinthischer Säulenordnung, das einstige Kulturhaus der Eisenbahner, in dem sich die erste nichtstaatliche Galerie eingenistet hat. Von einer Anhöhe blicke ich in die Dachlandschaft mit ihren Kuppeln und Türmen, Kurve und Gegenkurve, barock und gotische Backsteinspitze. Es muss eine wunderschöne Stadt gewesen sein, mit geruhsamen Rhythmen, und ich stelle mir vor, wie Jascha Heifetz aus seinem Haus tritt und wie Chaim Soutine um die Ecke kommt, unterwegs zur Kunstakademie, oder Jacques Lipchitz. Czesław Miłosz ist im Exil die Erinnerung an Wilno, wie die Polen sagen, ebenso teuer wie Tomas Venclova die seine an Vilnius. Emmanuel Lévinas ist in Kaunas geboren und der Erfinder des Esperanto, Ludwig Zamenhof, hat dort gelebt. Sie alle haben sich im Ausland einen Namen gemacht. Und auch heute wollen viele weg.

«Wilna, du reifer Holunder! / Mit grünen Augen / ist deine Wolfzeit versunken», klingt es noch hölderlinisch in Johannes Bobrowskis Wilna-Gedicht. Sein späteres Wort «Schattenland» will eher passen, in all seinen Dämmerungsschattierungen. Ich bin noch in keinem Land so oft angerempelt worden wie hier. Wie überall geht jeder seinen Weg. Nur etwas sturer, bäurischer kommt es mir vor. Die Menschen gehen, als seien sie nicht gewohnt, dass viele Leute zur gleichen Zeit die gleiche Strasse nehmen. Sie gehen wie auf Landwegen. Als Alfred Döblin 1924 nach Wilna kam, es gehörte damals zu Polen, suchte er fortwährend nach der Hauptstrasse: «Immer frage ich: Wo ist die Hauptstrasse? Ich merke langsam: ich denke in falschen Dimensionen. Das ist schon die Hauptstrasse. Die Strassen sind Gassen, gewunden, mit kleinen einfachen Häusern.» So ist das heute noch in der Altstadt.

Mein Hotel liegt an einer der geraderen Hauptstrassen zwischen «Mr. Chicken» und «Benetton» gebettet auf dem Gediminas-Prospekt. Gegenüber eine Bank und Dior, Chanel, Kenzo. In den Strassen zwischen diesen verheissungsvollen Pionieren einer neuen Verführung - nie sehe ich jemanden eintreten - fahren Trolleybusse der fünfziger Jahre über das Kopfsteinpflaster und ein museumswürdiges «Taksi», dessen Taxameter wie Blechspielzeug von Hand aufgezogen wird. Und an jeder Ecke, vor jeder Kirche Bettler.

In Die baltischen Völker, dem Schlussessay seines 1953 veröffentlichten Buches Verführtes Denken, beschreibt der in Litauen geborene polnische Dichter Czesław Miłosz jene Begegnung, welche er als ausschlaggebend dafür ansieht, dass er nicht wie viele seiner Jugendfreunde Konformkommunist geworden ist. Das Schlüsselerlebnis ereignete sich während des Zweiten Weltkriegs in einem mit Menschenmassen angefüllten ukrainischen Bahnhof, dessen transparentbehangene Hässlichkeit von über Lautsprecher gebrüllten Propagandalosungen gekrönt wurde. Er gewahrte plötzlich eine polnische Bauernfamilie: «Sie sassen auf Körben und Bündeln. Die Frau stillte das jüngere Kind, der Mann - er hatte ein dunkles, von tiefen Falten durchfurchtes Gesicht und einen grossen schwarzen Schnauzbart - schenkte eben aus einer Teekanne einen Becher voll und reichte ihn dem älteren Sohn. Sie sprachen mit gedämpften Stimmen auf polnisch. ( ... ) Es war eine menschliche Familie, eine Insel inmitten der dem gewöhnlichen kleinen Mensch-Sein so gänzlich entfremdeten Masse. Die Art, wie die Hand den Tee einschenkte, wie sie aufmerksam und zart dem Kind den Becher reichte, die besorgten Worte, die Besonderheit, die ganz persönliche private Isoliertheit dieser Menschen in der Menge - das hatte mich erschüttert. ( ... ) Diese polnischen Bauern waren sicherlich alles andere als <kultiviert>. ( ... ) Die Menschlichkeit jedoch, die in ihnen erhalten geblieben war, war eben deshalb noch vorhanden, weil sie noch nie der Therapie des Monsieur Homais unterzogen worden waren», womit er die Sowjetideologie meinte.

Was Miłosz hier beschreibt, liest sich wie eine einfühlsame Bildlegende zu einem Bild eines litauischen Fotografen, oder besser: zum Phänomen der litauischen Fotografie als einer Bewegung überhaupt. In der UdSSR waren Fotoreporter die einzigen anerkannten Berufsfotografen gewesen. Ihre Interessen wurden vom Journalistenverband vertreten, der den Machthabern jenen verlogen-pathetischen Vorwärtsoptimismus zu liefern hatte, welcher in Auftrag gegeben worden war. Weiter waren nur Amateurclubs bewilligt. Trotzdem gelang es Antanas Sutkus, 1969 die Litauische Gesellschaft: für Fotokunst ins Leben zu rufen, die achtzehn Jahre lang die einzige derartige Vereinigung der Sowjetunion blieb. Durch ihre humanistische Dokumentarfotografie wurde Litauen zur Dunkelkammer eines Gegenbildes zu den Helden der alleinseligmachenden Kollektivarbeit.

Lange hätten sie gegen die Zensur angekämpft, erinnert sich Antanas Sutkus in seinem Büro in der Altstadt von Vilnius. Im Januar 1996 ist er nach einer Unterbrechung erneut zum Präsidenten der heute rund 300 Mitglieder zählenden Organisation, die fünf Galerien betreibt, gewählt worden. «Sie» - das waren ausser ihm die Gründungsmitglieder Algimantas Kunčius, Aleksandras Macijauskas und Romualdas Rakauskas und später bis zu 500 Mitglieder. Obwohl sie sich als «sowjetische» Fotografen präsentieren mussten, ist es ihnen gelungen, einer «litauischen» Fotografie Gestalt und Gesicht zu verleihen und mit Hilfe ihres Mediums eine volksnahe Form von Gedächtnis zu schaffen, die, zusammen mit dem Volksliedgut, eine eminente Rolle beim Bewahren einer bestimmten litauischen Eigenart spielte.

Das Bewahren. Litauisch ist nicht nur die älteste lebendige indoeuropäische Sprache, Litauen war auch das letzte heidnische Land Europas und hat sich erst im 14. Jahrhundert dem Christentum ergeben; Johannisfest und andere vorchristliche Traditionen werden bis heute gepflegt Nicht einmal einen geistigen Katzensprung entfernt scheint für Aleksandras Macijauskas mit seiner agilen Gestalt und dem zerzausten Haar die heidnische Vorzeit zu sein. Er gehe zwar in die Kirche, gesteht er mir, aber im Grunde sei er Heide. Das derb Elementare, und nicht das geheiligt Überhöhte, hat er sich in seiner Fotografie zum Thema gemacht. Auf den Dorfmärkten hat seine Weitwinkel-Exaltation Tier und Mensch unter einem Himmel der zyklischen Wiederkehr knorrig miteinander verflochten. Seine über lange Jahre gewachsene thematische Arbeit hat er zu einem Plädoyer für ein zäheres, bodenständigeres Zuhausesein wachsen lassen.

Unter der kommunistischen Fuchtel hätten die Leute etwas tief in sich zu schützen verstanden, sagt Kunčius, es sei ihr verborgener Schatz gewesen, und man habe genau gewusst, was man dem Kaiser schulde und was nicht. Die Verinnerlichung habe Kräfte mobilisiert, jenes «Eigene» zu hüten. Aus diesem Grunde seien er und seine Kollegen zu den Bauern gegangen, die sich nicht vom Kolchosungeist hatten korrumpieren lassen. Doch heute versinken die Dörfer im Elend, und, so fügt Kunčius hinzu, die Menschen im Suff gäben sich preis, ihre Geistigkeit gehe zugrunde.

Als ich ihn frage, ob er mir neuere Arbeiten zeigen wolle, antwortet der 57jährige Sutkus: «Wissen Sie, ich bin früher ein besserer Fotograf gewesen, als ich es heute bin.» Ich nehme das zunächst als ein Understatement des «Vaters» der litauischen Fotografen. Aber bei gleicher Gelegenheit hält mir Romualdas Požerskis ein gerahmtes Farbfoto unter die Nase, Muranoglasbonbon-Arrangement auf schwarzem Grund, für «Fuji» hergestellt, während mir der red- und trinkselige Leiter der Kaunaser Filiale und Galerie, Macijauskas, Aufnahmen von älteren kopulierenden Paaren vorlegt, mit einem Schmunzeln um die Lippen, als hätte er, der auch noch in Friedhöfen und Tierkliniken fotografiert, einen besonders gewieften Ausweg aus der Lähmung gefunden.

Die Aufnahmen von Jugendlichen, die Sutkus aus einem Stapel hervorkramt, sehen tatsächlich beliebig aus und kännten irgendwo entstanden sein. Er habe vor allem an zwei Porträtserien gearbeitet, erklärt er: die eine über Exillitauer sei misslungen, weil er diesen Menschen nicht nahekommen konnte. Nur ein einziger Zyklus sei ihm gelungen: Porträts litauischer jüdischer Ghetto-Überlebender. Nur bei ihnen stosse er heute auf das, was Miłosz des Menschen «Geheimnis» nennt und er selber «die Kathedrale, die jeder in sich birgt». Sie teilten sein litauisches Schicksal, kommentiert er seine Melancholie trocken.

Überlebt haben wenige. Nicht viel mehr als die Widerstandskämpfer und diejenigen, die mit Hilfe beherzter Litauer versteckt werden konnten. Beinahe alle, rund fünfundneunzig Prozent der Juden, die hier seit sechshundert Jahren lebten, sind unter tatkräftigem Mittun der Litauer ermordet worden.

Das IX. Fort der Befestigungsanlage von Kaunas ist heute ein dem Völkermord gewidmetes «Museum». Massivste Gittervorhänge, die einen das Flirchten lehren wollen, sind vor dem Eingang heruntergelassen. In die Metallmaschen ist ein mit wenigen litauischen Worten handbeschriebenes Kartonkärtchen gesteckt. Ob da «Inventur» steht? Von 10 bis 18 Uhr sollte geöffnet sein. Auf dem Hügel angekommen, wo die Gefängnisräume besichtigt werden können, wird einem mitgeteilt, Eintrittskarten gebe es unten im Museum. Nein, es sei nicht geschlossen, man müsse nur den Hintereingang benützen, den man arglos für eine Garage gehalten hatte. Neben der hermetisch geschlossenen Garagentür keine Klingel. Schliesslich entdeckt man sie in etwa zweieinhalb Metern Höhe, ich erreiche sie auch auf Zehenspitzen nicht. Im solcherart zugänglichen Museum «arbeiten» mehrere Menschen wie es sich zeigt. Hinter dem Haupteingang sind drei Kübel aufgestellt, die das von der Decke tropfende Wasser auffangen, der Kaffee ist auch gemacht. Durch die verdunkelte Ausstellung zur Kasse zurück, um die Karten zu lösen, dann wieder den Hügel hoch, in die eiskalten Kasematten wo in den letzten Jahren eine Dokumentation des hier ausgeführten Mordes an Juden eingerichtet worden ist – notwendigerweise, denn im unauffällig als Sakralbau konzipierten Museum gibt es praktisch keine Erwähnung des Völkermords an den Juden. Ein Museum der Greueltaten eines konstruierten gemeinsamen Verbrechens von Hitler und Stalin am litauischen Volk soll das sein, rekapituliert Dimitrijus Gelpernas bitter, das einzige noch lebende Mitglied der Leitung der jüdischen Untergrundbewegung von Kaunas.

Er erzählt vom jüdischen Widerstand gegen die Faschisten. Der tragische Aufstand im Warschauer Ghetto ist bekannt; weniger weiss man von Chaim Yellin, dem Oberhaupt der bewaffneten Untergrundorganisation in Kowno (Kaunas), und seinen Mitkämpfern, die viel vorzutragen hätten gegen die eingebürgerte Idee vom schlachttierartigen Gang in den Tod, wenig weiss man vom erfolgreichen Ausbruch von Häftlingen des IX. Forts oder von der «Farejnigte Partizaner Organizatsje» in Wilna. Ein bedeutendes Drittel der Stadtbevölkerung Litauens war vor dem Krieg Juden gewesen und Wilna so etwas wie die jüdische Stadt Osteuropas. Einer der Grunde dafür, dass in der Altstadt von Vilnius, dem «litauischen Jerusalem», so viele Häuser in baufälligem Zustand völlig leer stehen, liegt darin, dass die heute eine halbe Million Einwohner zählende Stadt damals grösstenteils von Juden und Polen bewohnt war. Von den einst über hundert Synagogen gibt es noch eine. Die Stadt ist entvölkert, und die Menschen sind wie bei einer totalen Bluttransfusion ausgewechselt worden. Auch heute machen die Litauer nur die Hälfte der Bevölkerung von Vilnius aus. Der Rest sind vorwiegend Polen und Russen, von denen viele in den Fünfzigern in das vom Krieg, von der Emigration und von den Deportationen nach Sibirien menschenarm gewordene Land gekommen waren; wo einst Tageszeitungen in sechs Sprachen erschienen waren, sollte sich die Monokultur des Sowjetmenschen ausbreiten. Das Wort «Jude» wurde verboten.

Die Litwaken - die Juden des historischen Litauen - übten grossen Einfluss auf die gesamte Judenheit aus. Auch sie gehören unter das Stichwort «bewahren» denn wie kaum woanders konnte sich hier eine eigene «nationale» Prägung herausbilden. Ende des 18. Jahrhunderts, als vom Westen her die jüdische Aufklärung zu wirken begann, ist der berühmte Gaon von Wilna mit seiner ganzen Talmud-Gelehrsamkeit und Wucht gegen den Mystizismus der Chassidim angetreten, deren ekstatische Frömmigkeit rundum so viele Anhänger fand. 1897 haben hier jüdische Sozialisten ihre Partei, den «Bund», gegründet und sich damit von den Bolschewisten abgesetzt. Ihr Ziel war ein aufgeklärtes, nichtreligiös begründetes Judentum. Als Verfechter einer jiddischsprachigen Kultur, für die die nahöstlichen Wüsten wenig Attraktivität besassen, trafen sie auf die Zionisten, die in Palästina ein neues Leben, basierend auf der hebräischen Sprache, aufzubauen gewillt waren. In Litauen gab es daher Schulen in beiden Sprachen.

Die heutige jüdische Gemeinde ist stark überaltert. Wenige tausend Juden leben noch in diesem Land, davon sind noch viel weniger Litwaken, die meisten sind russische Juden. Manche bereiten sich auf die Ausreise vor, andere versuchen, ein Leben hier zu ermöglichen. Bis heute haben die (etwa 200) überlebenden Juden Litauens, deren Gesichter Antanas Sutkus nun nach fünfzig Jahren festhalten kann, keine «Wiedergutmachung» bekommen. «Schreiben Sie das», fordert mich der 82jährige Gelpernas mit unverwüstlichem Sinn für Gerechtigkeit auf. Das Geld, das Deutschland kürzlich angeboten hat, gehe an die litauische Regierung, die damit Altersheime und ähnliches einrichten soll, doch die Betroffenen erreiche es nicht unbedingt.

Vytautas Landsbergis, der 1990 in Litauen zum ersten nichtkommunistischen Parlamentspräsidenten einer Sowjetrepublik gewählt worden war und heute als Oppositionsführer der Vaterlandsunion vorsteht, spricht, in Einklang mit seiner Definition der multiethnischen Identität Litauens, anerkennend von den «genuine Lithuanian Jews», die Jiddisch sprächen und Soldaten der litauischen Armee gewesen seien: «Unfortunately they quite disappeared.» Doch vom Musealisieren und Archivieren der jüdischen Vergangenheit hält Landsbergis viel. Es sei erstaunlich, was Litauen bewahren konnte an Identität, obwohl seine Nation mehrmals dazu bestimmt gewesen sei zu verschwinden, sagt er. «Was unsere Unabhängigkeit heute bedroht, ist nicht allein Russland; die noch grössere Gefahr droht womöglich vom Westen. Solange dieser nicht in gleichem Masse um ein westliches Baltikum bemüht ist, wie Russland Interesse hat, hier östliche oder russische Länder zu sehen, ist dieses Ungleichgewicht eine entscheidende Gefahr für uns; vielleicht sind wir aber immer noch nichts als Handelsware im Geschäft zwischen Ost und West.»

Der Handel blüht noch nicht. Litauen, das die höchste Arbeitslosenzahl der baltischen Länder aufweist, ist es bislang nicht gelungen, genug Kapital anzulocken; Investoren würden von der steigenden Kriminalität, von Korruption und Nationalismus abgehalten sowie von der Tatsache, dass Ausländer keinen Grund erwerben dürfen, schreiben die Zeitungen.

Auch Sutkus und die anderen müssen sich aufs Geld ausrichten: ein Requiem auf «die litauische Fotografie». In ihrem Versagen liegt eine tiefe Kritik an der Zeit, in der sie leben. «Wir verlieren die Welt nicht, Wir haben sie bereits verloren», doppelt Sutkus nach. «Die Freiheit hat die zweifelhaften Seiten der Menschen entfesselt, und die Armut tut das Ihrige dazu.»

Der Weg «nach Europa», so lautet ja das Zauberwort im einstigen Ostblock, geht in Litauen in jede Richtung geradeaus. Das geografische Zentrum Europas befindet sich nämlich etwa 25 Kilometer nördlich von Vilnius. Das ist nicht genau dort, wo sich Fuchs und Hase an langsam hindämmernden Abenden irgend etwas zuflüstern, sondern dort, wo mir anno 1996 ein Kolchosnik der freien Republik Litauen weismacht, dass Gorbatschow daran schuld sei, wenn nun die Fische im Teich ersticken. Ob er uns zum Zentrum Europas führen solle? Zusammen mit einem Freund stapfe ich durch den Schnee auf eine Anhöhe mit Holzkreuz zu: so aber präsentiert sich ein Nabel der Welt nicht. Die Fussspuren führen auf den nächsten Hügel, ein Touristenzentrum wolle man hier bauen, unser Kolchosnik flucht, dabei wüchsen hier die grössten Pilze. Alles Gorbatschows Schuld.

Blickt man dann genauer auf den unscheinbaren Granitblock, der die Stelle auf 25° 19' Länge und 54° 54' Breite markiert, so wird eines klar: Die Mitte Europas ist abhanden gekommen. Der kleine Kompass in der Mitte des Granitblocks ist wohl seinem eigenen Materialwert zum Opfer gefallen.

Was wir hastig zu geniessen gedrängt sind, ist hier eine Feier von mehreren Stunden Dauer: das lange Licht des Nordens. Ein Storch pickt mit seinem langen Schnabel in einer Lache herum. Ich fahre von Kaunas zurück in Richtung Vilnius: Wie man mir erklärt, war dies seinerzeit die erste Autobahnstrecke des Sowjetimperiums überhaupt. Und etwas urtümlich ist sie bis heute; von Autostoppern zuhauf gesäumt und von Traktoren befahren, dient sie unter anderem als Autobusstrecke. Die Haltestellen sind kleine ins Feld hinaus asphaltierte Flecken, zu denen oft kein Weg führt. Zu den einstöckigen, rot-grün, gelb-schwarz, weiss-gelb, rot-weiss oder grün-gelb gestrichenen Holzhäuschen stampft man querfeldein nach Hause. So gut wie keine Billboards verheissen das unbekannte Glück, etwas Coca-Cola- und Zigarettenwerbung in Stadtnähe. Dafür taucht ein blaues Schild am Strassenrand auf und kündigt einen Wasserhahn an.

Tauwetter. Von den Schneegebirgszügen der Gehsteige sind nur Sand- und Dreckhaufen übrig geblieben. Sie sind zusammengefegt worden und säumen als disziplinierte Kegelreihen die Strassen. Alte, zahnlose Frauen bücken sich am Wegrand und kippen das Grau ins schüttere Gras nebenan. Gleich wird der Wind, der sich nun erhebt, den Sand wieder hinauswehen. Man wird wohl wieder kehren müssen.

 

[Du: Heft 7/1996]