Herder, Finnland, Europa

Translated by Ilse Winkler
Also available in Finnish: Herder, Suomi, Eurooppa
 
Mit diesem Leitfaden durchwandre ich das Labyrinth der Geschichte und sehe allenthalben harmonische göttliche Ordnung: denn was irgend geschehen kann, geschieht: was wirken kann, wirket. Vernunft aber und Billigkeit allein dauern; da Unsinn und Thorheit sich und die Welt verwüsten. […] Freilich gelingt nicht jedes Werk allenthalben; darum aber mache, daß es gelinge und befördere seine Zeit, seinen Ort und jene innere Dauer desselben, in welcher das wahrhaft-Gute allein dauert. […] Wie weit und wie enge ist das menschliche Herz! wie einerlei und wiederkommend sind alle seine Leiden und Wünsche, seine Schwachheiten und Fehler, sein Genuß und seine Hoffnung!1

Diese geschichtsphilosophischen Betrachtungen lernten die Finnen 1930 in der Anthologie Saksan kirjallisuuden kultainen kirja (‚Das goldene Buch der deutschen Literatur‘) kennen. Dieses Zitat illustriert in aller Kürze das Denken und den Stil seines Urhebers. Begeisterte Ansichten und Bekenntnisse, Ausrufe- und Fragezeichen sind in Herders Werk gar nicht selten. Darauf machen der Literaturwissenschaftler Rafael Koskimies und die Historiker Kaarlo Jäntere und Pentti Jäntti in ihren Texten aufmerksam, die zur gleichen Zeit erschienen wie das Goldene Buch. Sie bezeichnen Herder als „genialen Geschichtsphilosophen und Sammler von Volksdichtung“, als Denker, in dessen Werk „ein etwas undeutliches und unscharfes Streben nach der Unendlichkeit der Zeit, nach neuer Schönheit und einer neuen Weltsicht Gestalt annahm“. Der von ihnen beschriebene Herder verinnerlichte und nutzte „alles Schöne und Gute“ nutzbringend, entwickelte aber gleichzeitig „irreführende Phantasmagorien über die Zukunft“. Herder vereint in sich „den Wissenschaftler, den Theologen, den Denker und den Dichter“, und sein zentrales Verdienst liegt vor allem „in der Wahrnehmung neuer Standpunkte und weniger in der streng logischen Analyse von Tatsachen“.2

Heute noch sieht man Herder als vielseitigen, einflussreichen Kulturträger, aber seine Widersprüchlichkeit fasst der Philosoph und Kritiker Luca Di Blasi treffend so zusammen: „Herder wird geschätzt, aber seine Schriften werden selten gelesen“3. Herders ermüdende, schwülstige und polemische Schriften befremden uns, ihre Botschaft erschließt sich uns möglicherweise nicht. Der angesehene Herder-Forscher Hans Dietrich Irmscher erinnert daran, dass bei Herder der polemische Aspekt keine Nebensächlichkeit ist, denn er entwickelte seine Ideen und Theorien vor allem in Disputen und Streitschriften. Tatsächlich ist nur schwer auseinanderzuhalten, wann Herder referiert, kritisiert oder sich den Auffassungen anderer Schriftsteller anschließt.4 Wir können sein vielfältiges, in komplexen Zeitläuften entstandenes Werk nicht neu schreiben. Aber wir können, nachdem es in Finnland jahrzehntelang still war um ihn, wieder anfangen, Fragen zu stellen und neue Sichtweisen zu suchen.

Wieso Herder?

Zu seinen Lebzeiten, Ende des 18., und danach, im 19. Jahrhundert, hatte Herder großen Einfluss auf die deutsche Kultur und die der anderen Ostseeanrainer. Seine Auffassung von Sprache, Literatur, Volk und Nation schuf die begriffliche und ideelle Basis für die Kultur eines modernen Nationalstaats: die Gleichstellung der Volkssprache mit den Weltsprachen, die Schaffung und Festigung einer Nationalliteratur und die Würdigung der eigenen Geschichte. Herders Schriften wurden in den europäischen Randgebieten begeistert aufgenommen, in Ländern, deren Kultur wenig mit dem Erbe der Antike oder der vorherrschenden französischen Hochkultur zu tun hatte. Es gibt viele Gründe, die von Herder begonnene Diskussion über die Beziehungen zwischen Völkern, Sprachen und Kulturen in neuem Licht zu betrachten.

Die Bedeutung von Herders Lebenswerk für die Entwicklung der finnischen Kultur zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist längst anerkannt, aber in der Forschung noch ungenügend analysiert. Einige neuere Arbeiten vertiefen unser Verständnis von Herder und der Bedeutung seiner Lehre erheblich, aber was noch wichtiger ist, sie liefern Argumente, um lange herrschende Meinungen zu korrigieren. Trotzdem wurde in letzter Zeit in Finnland überraschend wenig mit Originalquellen gearbeitet, die auch Aufschluss geben würden über die aktuelle internationale Forschung, die sich mit Herders eigenen Schriften und seiner Lehre befasst. Die hier vorliegende Aufsatzsammlung ist ein Schritt in Richtung einer neuen Grundlagenforschung.

Herder, Finnland, Europa betrachtet Herders Werk von verschiedener Warte aus und legt die von der späteren Geschichte teilweise überlagerten Herderschen Wurzeln und den europäischen Kontext unserer Kultur offen. Die Sammlung beleuchtet den vielschichtigen historischen Prozess, in dem die europäischen Ideale und Lehren Form annahmen und zum Teil in die finnische Kultur einflossen.

Von Mohrungen nach Weimar

Johann Gottfried Herder wurde am 25. August 1744 in Mohrungen (heute Morąg), einem knapp 2000 Einwohner zählenden Städtchen im entlegenen Nordwesten von Ostpreußen geboren. Die ersten achtzehn Jahre seines Lebens verbrachte er in dieser um 1320 gegründeten Ortschaft. Sein Vater Gottfried war Lehrer an der Mädchenschule und Kantor der polnischen Kirchgemeinde. Seine Mutter war Anna Elisabeth geb. Peltz. Von ihren fünf Kindern starben das älteste und das jüngste schon früh. Im Alter von sechzehn Jahren arbeitete Herder als Schreiber für den Diakon Sebastian Trescho. Dessen umfangreiche Bibliothek wurde zur frühen Quelle von Herders Belesenheit.
Ein russisches Regiment, das im Winter 1761/62 aus dem Siebenjährigen Krieg heimzog, errichtete sein Winterlager in Mohrungen. Der Regimentsarzt Johann Christian Schwartz-Erla wurde auf den jungen Herder aufmerksam und bot sich an, sein Medizinstudium zu finanzieren. Im Sommer 1762 verließ Herder seine Heimat für immer und fuhr mit Schwartz-Erla nach Königsberg (heute Kaliningrad), damals eine lebhafte 60 000-Einwohner-Handels- und Universitätsstadt. Schon im August gab Herder seinen Plan, Arzt zu werden, auf und begann, Theologie und Philosophie zu studieren. Er finanzierte sich mit einem dreijährigen Stipendium für Studenten aus Mohrungen, arbeitete aber auch an der Grundschule des Collegium Fridericianum als Hilfslehrer.

Die Königsberger Zeit war für Herders geistige, aber auch gesellschaftliche Entwicklung bedeutsam. An der Universität hinterließen bei ihm Immanuel Kants Geographie-, Metaphysik- und Moralphilosophie-Vorlesungen einen bleibenden, aber teilweise widersprüchlichen Eindruck. Herder freundete sich mit dem vierzehn Jahre älteren Johann Georg Hamann an, der später in den Ruf eines etwas mystischen Philosophen und Theologen geriet. Nach den gemeinsamen Königsberger Jahren pflegten sie ihre Freundschaft hauptsächlich brieflich, und zwar bis zu Hamanns Tod 1788. Herder freundete sich auch mit Johann Friedrich Hartknoch an, der sein Theologiestudium aufgegeben hatte und als Gehilfe in der für den Ort bedeutenden Kanterschen Buchhandlung arbeitete. Nach einigen Jahren wurde Hartknoch selbst Buchhändler und Verleger in Riga, einer Ende des 18. Jahrhunderts wichtigen Verlagsstadt.

Herder verließ Königsberg nach zwei Jahren. Ende November 1764 zog er nach Riga und unterrichtete an der dortigen Domschule. Nach dem Frieden von Nystad 1721 war Riga unter russische Herrschaft gekommen, und das Wirtschafts- und Kulturleben in der Stadt begann sich von den Heimsuchungen des Großen Nordischen Krieges zu erholen. Bis zum Ende des Jahrhunderts wuchs die Einwohnerzahl auf beinahe 30 000. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es im Baltikum eine lebhafte deutsche Kultur. Herder gehörte zu den zahlreichen deutschen Gelehrten im Dienst von Schule und Kirche. Als 22-Jähriger erhielt er ein Angebot für eine Stelle in der lutherischen Kirchengemeinde von Sankt Petersburg, blieb aber lieber in Riga, da man für ihn 1767 das Amt eines Hilfspastors (pastor adjunctus) schuf. Im Juli desselben Jahres wurde er als Priester ordiniert.

In Riga begann Herder seine schriftstellerische Tätigkeit. Dort erschienen Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente (1767) und die ersten drei Teile der Sammlung Kritische Wälder. Oder Betrachtungen die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend (1768–1769). Der vierte Teil kam 1846 posthum heraus. Trotz seiner erfolgreichen Tätigkeit als Lehrer und Hilfspastor und seines wachsenden Ansehens als Schriftsteller war Herder mit seiner Position in Riga nicht mehr zufrieden. Im April 1769 ließ er sich beurlauben und brach Anfang Juni auf eine sechswöchige Schiffsreise zur Loire-Mündung in Frankreich auf. Ihn begleitete der Kaufmannssohn Gustav Berens. Herder hatte viele Gründe, Riga zu verlassen. Die Forschung zeigt, dass seine menschlichen Beziehungen kompliziert waren und er sich in teils selbst verursachte verworrene schriftliche Dispute verwickelt hatte.5

Die Schiffsreise endete Mitte Juli, als man im Hafen von Paimbœuf anlegte. Herder fuhr weiter nach Nantes. Dort verbrachte er mehrere Monate, in denen er Französisch lernte und die französische Literatur studierte. Er verarbeitete seine Erfahrungen und seine Pläne im Journal meiner Reise im Jahr 1769, das erst nach seinem Tod erschien. Im November 1769 nahm Herder für einen Monat in Paris Quartier. Im Dezember reiste er über Brüssel, Antwerpen und Den Haag nach Amsterdam. Von da weiter nach Hamburg, wo er im März 1770 Gotthold Ephraim Lessing und Matthias Claudius traf.

Im Juli desselben Jahres bot sich Herder die Gelegenheit einer weiteren Reise. Er sollte den Erbprinzen von Holstein-Gottorp, Peter Wilhelm Friedrich, als Gesellschafter und Lehrer auf dessen Grand Tour begleiten. Erst ging es über Hannover und Kassel nach Darmstadt, wo Herder seine zukünftige Frau Caroline Flachsland kennenlernte. Als die Reisenden Anfang September in Straßburg ankamen, kündigte der mit den Umständen und der Gesellschaft unzufriedene Herder seinen Auftrag. Er wollte länger in der Stadt bleiben und ließ sein seit der Kindheit bestehendes Augenleiden behandeln, aber die vorgenommenen Operationen misslangen. Straßburg wurde für Herder sehr wichtig, denn hier lernte er Johann Wolfgang Goethe kennen, den 21-jährigen Studenten der Rechte. Goethe beschrieb seinen ersten Eindruck folgendermaßen:

Sein gepudertes Haar war in eine runde Locke aufgesteckt, das schwarze Kleid bezeichnete ihn gleichfalls, mehr noch aber ein langer, schwarzer, seidner Mantel, dessen Ende er zusammengenommen und in die Tasche gesteckt hatte. […] Er hatte etwas Weiches in seinem Betragen, das sehr schicklich und anständig war, ohne daß es eigentlich adrett gewesen wäre. Ein rundes Gesicht, eine bedeutende Stirn, eine etwas stumpfe Nase, einen etwas aufgeworfenen, aber höchst individuell angenehmen, liebenswürdigen Mund. Unter schwarzen Augenbrauen ein Paar kohlschwarze Augen, die ihre Wirkung nicht verfehlten, obgleich das eine rot und entzündet zu sein pflegte.6

Ende des Jahres schrieb Herder fieberhaft an seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache, mit der er an der Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften teilnehmen wollte, die im Jahr zuvor ausgeschrieben worden war. Die Teilnehmer sollten bis zum 1. Januar 1771 auf die Fragen antworten: „Haben die Menschen, ihren Naturfähigkeiten überlassen, sich selbst Sprache erfinden können?“ und „Auf welchem Wege hat der Mensch sich am füglichsten Sprache erfinden können und müssen?“ In einem Brief an Hartknoch von Ende Oktober 1769 hatte Herder diese Aufgabe als wie für sich auf den Leib geschnitten beschrieben.7 Damit hatte er in gewissem Sinn recht, denn die Berliner Akademie der Wissenschaften verlieh ihm den I. Preis, und die Arbeit wurde 1772 veröffentlicht.

Herders Wanderjahre endeten, als ihn Graf Wilhelm zu Schaumburg-Lippe Ende April 1771 zum Konsistorialrat und Hofprediger in Bückeburg berief. Die neue Aufgabe bot die materiellen Bedingungen für die Heirat Herders mit Caroline Flachsland. Am 2. Mai 1773 wurden sie in Darmstadt, der Heimatstadt der jungen Frau, getraut. Nach und nach begann sich Caroline Herder als Kopistin, Korrekturleserin und Ratgeberin ihres Mannes zu betätigen und die Veröffentlichung seiner Schriften zu betreuen. 1773 erschien die Sammlung Von deutscher Art und Kunst, darin Herders bekannte Aufsätze „Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker“ und „Shakespeare“. Andere Werke aus seiner Bückeburger Zeit sind geschichtsphilosophischer Natur, eines, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts (1774), bezeichnet sein Autor als Pamphlet, ein anderes ist die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774–1776). Diese Aufsätze und Werke aus der Bückeburger Zeit werden als Quintessenz des Sturm und Drang angesehen.

1776 ernannte der Herzog von Sachsen-Weimar, Karl August, Herder zum Generalsuperintendenten, Oberkonsistorialrat, Hofprediger und Oberpfarrer (pastor primarius) in seinem Herzogtum. Zu Herders weitreichenden Aufgaben gehörte auch, die Schule des Herzogtums zu beaufsichtigen. Seine Ernennung hatten Goethe und Christoph Martin Wieland befürwortet, die beide in Weimar waren, Goethe seit 1775 und Wieland schon drei Jahre länger. Es gab auch Widerstände, denn manche hielten Herder für einen Atheisten oder zumindest Freidenker. Herder und seine Familie erreichten Weimar, die Hauptstadt das Herzogtums, am Abend des 1. Oktober.

Trotz seiner zahlreichen Aufgaben schrieb Herder auch in der Weimarer Zeit viel. Bis 1784 erschienen unter anderem Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume (1778), die Versanthologie Volkslieder I–II (1778–1779), Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume (1778), Briefe, das Studium der Theologie betreffend (1780–1781) und Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782–1783). Außerdem schrieb der Weimarer Primarius für die Zeitschriften Deutsches Museum und Teutscher Merkur.

Im Oktober 1782 machte sich Herder an sein lange geplantes geschichtsphilosophisches Meisterwerk, auf das Hartknoch schon wartete. Im Frühjahr 1784 schließlich erschien der erste von vier Teilen der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In einem Brief an Hamann vom 10. Mai 1784 beschrieb Herder die Entstehung seines Werks:

„Hier haben Sie, liebster bester ältester Freund, den ersten Theil meiner neugebackenen Geschichte der Philosophie. […] Keine Schrift in meinem Leben habe ich unter so vielen Kümmernissen und Ermattungen von innen, und Turbationen von außen geschrieben, als diese; so daß meine Frau, die eigentlich Autor autoris meiner Schriften ist, und Göthe, der durch einen Zufall das erste Buch zu sehen bekam, mich nicht unabläßig ermuntert und getrieben hätten, Alles im αδης [Hades] des Ungebohrnen geblieben wäre.“

An dem aus der Geistesgeschichte bekannten Spinozastreit beteiligte sich Herder 1787 mit der Arbeit Gott. Einige Gespräche.

Im August 1788 reiste Herder im Gefolge des Freiherrn Friedrich von Dalberg nach Italien. Es ging nach Rom, Neapel, Florenz und Venedig. Herder kehrte im Juni 1789 nach Weimar zurück. Die beginnende Französische Revolution betraf auch ihn und seine Stellung am Weimarer Hof. Zunächst befürwortete er die Revolution, worauf er für einen Umstürzler gehalten wurde.7 Wegen der politischen und sozialen Unruhen plante Herder einen fünften Band seiner Ideen, gab ihn dann aber unter anderem aus Angst vor der Zensur auf und begann stattdessen die Briefe zur Beförderung der Humanität. Er meinte, die Briefform gewähre ihm mehr Freiheiten. Die Briefe wuchsen zu einer zehnbändigen Sammlung, die 1793–1797 erschien. Daneben arbeitete er an den fünf Bänden seiner Christlichen Schriften (1794–1798).

Für Schillers Zeitschrift Die Horen verfasste Herder 1795 zwei Aufsätze über Homer. Das entfachte einen Disput, der Herder verbittert zurückließ. Der Philologe Friedrich August Wolf hielt nämlich das Stück Prolegomena ad Homerum für ein Plagiat. Trotz aller Bitten veröffentlichte Schiller Herders Antwort auf die Anschuldigung nicht. Zur Jahrhundertwende erschienen Herders bekannte, Kants Philosophie widersprechende Werke Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799) und Kalligone (1800). Danach Adrastea (1801–1803), mit dem er das abgeschlossene Jahrhundert zusammenfassen wollte. In seinen letzten Lebensjahren soll Herder geäußert haben: „Gebt mir eine große Idee, daß ich an ihr gesunde!“

Im Herbst 1803 verschlechterte sich Herders Gesundheit merklich, er starb am 18. Dezember 1803. Auf seiner Grabplatte in der Weimarer Herderkriche steht: Licht, Liebe, Leben.

Bemerkungen zu Herder-Ausgaben und Herder-Übersetzungen ins Finnische

Noch zu Lebzeiten hatte Herder mit seiner Frau Caroline die Gesamtausgabe seines Werkes geplant. Caroline Herder setzte den Plan um, und Johann Gottfried von Herder’s sämmtliche Werke erschienen 1805–1820 in 45 Bänden. Bis zu ihrem Tod 1809 überwachte Caroline Herder die Veröffentlichung. Jahrzehnte später erschien unter der Leitung des Philologen Bernhard Suphan die 33-bändige sogenannte Suphan-Ausgabe (1877–1913), die in der Herderforschung immer noch eine bedeutende Rolle spielt. Etwa im gleichen Zeitraum schrieb der Literaturhistoriker Rudolf Haym die zweiteilige Biographie Herder, nach seinem Leben und seinen Werken (1877–1885). Dies ist bis heute die detailreichste Herderbiographie.

Im 20. Jahrhundert gab es Herders Schriften in zahlreichen, unter verschiedenen Gesichtspunkten zusammengestellten Sammelbänden. Genauso wichtig wie die Suphan-Ausgabe ist die in jüngerer Zeit erschienene sogenannte Frankfurter Ausgabe, die Herders Werk in zehn Bänden mit zahlreichen Anmerkungen präsentiert. Sie kam 1985–2000 heraus. 1977–1996 erschien eine zehnteilige Gesamtausgabe seines umfangreichen Briefwechsels. Außerdem wurden einzelne, sorgfältig edierte und gründlich kommentierte Schriften veröffentlicht.

Finnische Herderübersetzungen gibt es nicht viele. Im ersten Jahr nach ihrer Gründung veröffentlichte die Zeitschrift Kyläkirjasto 1873 die Erzählung „Die wüste Insel“, mit der Bemerkung, sie sei „von Herder auf Deutsch verfasst“.9 An den Schluss der auf christliche Lehren anspielenden Allegorie wurde die Erklärung angefügt, dass die wüste Insel für eine kommende Welt stehe. Das Herderzitat am Beginn dieser Sammlung stammt aus seinen Ideen und wurde von Erik Ahlman ins Finnische übertragen. Die Briefe 27 und 28 aus den Briefen zur Beförderung der Humanität übersetzte Kari Väyrynen für die finnische Anthologie Mitä on valistus? (Was heißt Aufklärung?, 1995). Im Jahr 2000 erschien die Sammlung Oi runous (Oh, Dichtung. Poesiebegriff in Romantik und Moderne), darin Herders „Die Lyra. Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst aus der dreiteiligen Terpsichore (1795–1796), von Vesa Oittinen ins Finnische übersetzt. Herder ins Finnische zu übertragen ist anspruchsvoll, aber nicht unmöglich. In Herder, Finnland, Europa finden sich Ansätze verschiedener Schriftsteller und Übersetzer.

Aspekte Herders

Pertti Karkama und Vesa Oittinen dachten 2002 laut über ein kleines Herder-Seminar nach, das dann im Dezember 2003 in Turku abgehalten wurde. Die anschließenden Diskussionen wurden zum Ausgangspukt für den Sammelband Herder, Finnland, Europa.

Die ersten vier Artikel darin erklären die zentralen Themen von Herders Philosophie und die Zusammenhänge, in denen sie entstand. Vesa Oittinen, Kari Väyrynen, Erna Oesch und H. B. Nisbet zeichnen ein Bild Herders als Denker, der seine Themen aus vielen, sich teilweise widersprechenden Quellen schöpfte. Der gemeinsamen Linie in der Sammlung folgend, beleuchten sie auch die Herderinterpretation in der Forschung und Herders weitere Einflüsse kritisch.

Vesa Oittinen verortet Herders Position in der deutschen Aufklärung und seine Beziehung zum Sturm und Drang, zu dessen führenden Köpfen Herder zählt. Oittinen zeigt, dass man, um Herder zu verstehen, die Aufklärung als „selbstkritische Bewegung“ betrachten muss, die „danach trachtet, die eigene Einseitigkeit zu überdenken, mit anderen Worten: als reflexive intellektuelle Strömung“. Oittinen sammelt Herders wesentliche Ansichten zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Sprach- und Kunsttheorie und erfasst seine Philosophie als Ganzes. Er überlegt, ob Charles Taylors Begriff „Expressivismus“ auf Herders Denken und seine Schriften anwendbar ist. Oittinen sieht Herder als Philosophen der sinnlichen Wahrnehmung, der Gefühle und Empfindsamkeit.

Kari Väyrynen greift in seinem Artikel eine oft vernachlässigte Seite von Herders Denken, die Naturphilosophie, auf. Er zeigt den Ursprung seines Naturbegriffs und die Beziehung zur Physikotheologie. Er arbeitet heraus, wie Herders Vorstellungen von Naturschutz zum Teil auf den Beobachtungen und Ansichten des Finnen Pehr Kalm beruhen. Laut Väyrynen stellte Herder weitsichtige, mutige Hypothesen auf und entwarf für seine Zeit bedeutende Systeme. Mit seinen Überlegungen zum Platz des Menschen in der Natur und seinen Forderungen nach Maßnahmen zum Naturschutz nahm Herder, wie Väyrynen zeigt das heutige Umweltbewusstsein vorweg.

Herders Frühwerk ist mit Arbeiten aus der Schriftensammlung Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, der Abhandlung über den Ursprung der Sprache und der Sammlung Von deutscher Art und Kunst vertreten. Anhand dieser Sturm-und-Drang-Texte erforscht Erna Oesch Herders Sprachbegriff. Den verbindet sie mit den Schlüsselbegriffen des 18. Jahrhunderts, „Phantasie“, „Genie“, „Ursprung“ und „Ganzheit“. Sie fragt nach, wie Herder die Bedeutung der Sprache für die Entstehung einer deutschen Identität und für das sich neu ordnende Europa verstand. Oesch unterstreicht die Bedeutung des britischen Empirismus für Herders Bestreben, die Entwicklung der Vernunft philosophisch darzulegen. Zuletzt behandelt sie die Spuren dieses philosophischen Ansatzes in der Ideenwelt der deutschen Frühromantik.

Oesch konzentriert sich auf ein wichtiges Thema bei Herder, die Sprache und ihre Bedeutung für die Identität und Kultur eines Volkes. Sie arbeitet heraus, dass Herder gleichzeitig Nationalist und Kosmopolit war. Auch H. B. Nisbet unterstreicht, dass sich der Kulturrelativist Herder „den internationalistischen Werten, der europäischen Solidarität und sogar dem Weltbürgertum verpflichtet fühlte“. Er schätzt Herder als wichtigen Theoretiker der Nationenbildung, dessen Geschichtsbegriff für die Geschichtsschreibung einzelner Völker beachtlich ist. Nisbet erläutert Herders Verständnis von Volk und Geschichte anhand von dessen Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und der älteren Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Er legt Herders kulturrelativistische Ansicht zur jeweils individuellen Kultur der Völker offen, zu ihrer Gleichberechtigung und ihrem gleichen Recht, Traditionen fortzuführen. Nisbet erforscht, mithilfe welcher mechanistischen und organischen Metaphern Herder die geschichtliche Entwicklung beschreibt. Außerdem erörtert er die politische Bedeutung, die Herders Geschichtsverständnis einerseits für das Aufkommen des Nationalismus, andererseits für die Völkerverständigung hat.

Ähnlich wie Oesch und Nisbet denkt auch Rebecka Lettevall über Herders Weltbürgertum nach. Sie betrachtet das überkommene Verständnis von Herder als Grundstein der nationalistischen Ideologie. Als Weltbürger bezeichnet man jemanden, der einen Zusammenhang zwischen der Ordnung in der Natur und der Gesellschaft sucht, aber Lettevall unterstreicht ein Weltbürgertum, das von Gerechtigkeit und Gleichberechtigung gekennzeichnet ist. Sie stellt Herders Weltbürgertum dem Immanuel Kants gegenüber. Lettevall vergleicht ihre Theorien und zeigt, wie die Theorie des einen die des anderen in einem vielfältigeren Licht zeigt, als man es bisher wahrgenommen hat. Sie beteiligt sich an der Diskussion zum Dialog zwischen Herder und Kant und den Gründen für ihre Meinungsverschiedenheit. Diese Diskussion führen Hartwig Frank und Panu Turunen weiter.

Die geschichtsphilosophischen Metaphern Herders, die Nisbet in seinem Artikel herausarbeitet, führen zu der Frage, wie eine adäquate Sprache der Philosophie auszusehen hat. Darüber denken Frank und Turunen nach, wenn sie über den Disput zwischen Kant und Herder schreiben. Um Kants und Herders philosophische Metaphern einzuordnen, geht Frank von Hans Blumenbergs Metaphorologie aus. Laut Frank verwendet Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft hauptsächlich Bilder von Wasser und Land: „Dennoch ist es, wie sich zeigen wird, erst Herder, der ausgehend von den geographischen Realien das metaphorische Potential von Land und Meer im Kontext seiner philosophischen Betrachtungen von Kultur, Geschichte und Sprache gezielt zu erschließen sucht.“

Der Disput zwischen Kant und Herder wird normalerweise als rein geschichtsphilosophisch aufgefasst, aber Turunen zeigt, dass er auch biologischer Natur war. Wie Nisbet und Frank bettet er die Frage nach dem Gebrauch der naturkundlichen Analogien und Metaphern in die philosophische Untersuchung der Geschichte. Kant verfasste eine Kritik zu Herders ersten zwei Teilen der Ideen. Turunen untersucht den Inhalt und den Hintergrund dieser Kritiken. Außer, dass sich Kant und Herder im Stil unterscheiden, kommentiert er auch ihre Ansichten, die zum Disput führten. Im letzten Teil seines Artikels behandelt Turunen die gegen Ende des 17. Jahrhunderts in der Entwicklungsbiologie aufgekommene Diskussion um Präformation und Epigenetik. Herder und Kant verfolgten diese Diskussion, was sich schließlich auch in ihrem Disput niederschlug.

Herders Standpunkt wird mit aggressivem Nationalismus und Rassenideologie in Zusammenhang gebracht und in der Argumentation gegen Ausländer angeführt. Solch missbräuchliches Verständnis korrigiert Jouko Jokisalo in seinem Aufsatz. Er zeigt Herder im Kontext seines zeitgenössischen Rassenbegriffs, als den, der Rassenlehre und Sklaverei ablehnt, lässt aber auch nicht unerwähnt, dass Herder die damals typischen Begriffe von Volk und Menschengruppen verwendete und es ihm nur zum Teil gelang, die „Falle des rassistischen Humanismus“ zu umgehen. Wie viele andere schreibt Jokisalo darüber, wie einseitige Interpretationen verhindern, die verborgene Vielfalt im Denken Herders zu erkennen.

Jussi Kotkavirta sieht Herder an der Seite von Hegel. Als Herder starb, stand Hegel erst am Beginn seiner Akademikerkarriere. Kotkavirta zeigt, dass sich in Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) Anklänge an Herder finden lassen. Anhand von vier Themenkreisen beleuchtet er die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Herders und Hegels Denkweisen: ihrer Beziehung zu Kants Transzendentalphilosophie, des Pantheismusstreits, der holistischen Anthropologie und ihrer Geschichtsauffassung, vor allem der Moderne. Kotkavirta schätzt beide als schwer verständlich ein, „Herder, weil er so unsystematisch, und Hegel, weil er so systematisch ist“. Auch am Schluss dieser Sammlung, in Heli Rantalas Aufsatz über Johan Vilhelm Snellman, wird die Beziehung zwischen Herders und Hegels Philosophie betrachtet.

Liisa Saariluoma schreibt über Herders Bedeutung aus der Sicht der Erforschung des historischen Humanismus. Herders Kultur- und Poesiebegriff beruht auf seiner anthropologischen Wissenschaftstheorie und seiner Metaphysik, was Saariluoma als sehr wichtig erachtet. Sie bewertet Herders Naturmethode neu, bemerkt aber, dass diese vor allem in der Anwendung zum Vorschein kommt – in Herders Schriften zur Poesie und Menschheitsgeschichte. Als Beispiel für Herders methodische Annäherung, die die Individualität und den Kontext des Forschungsobjekts erfasst, untersucht Saariluoma den Aufsatz Vom Geist der Ebräischen Poesie. Die Autorin führt außerdem die Rolle der Empfindung, der Anpassung von Analogien und Begriffen in Herders Methode an. Darin zeigen sich die Grenzen und Perspektiven des menschlichen Wissens, der Forscher kann sich also niemals völlig von seiner eigenen Welt lösen.

Satu Apo sieht Herders zweiteilige Gedichtsammlung Volkslieder (1778–1779) im Kontext des Sammelns von Volksdichtung, das in Europa um 1760 begann. Nach Herders Tod wurden die Volkslieder neu zusammengestellt und umbenannt in Stimmen der Völker in Liedern (1807).

Laut Apo kam der Anstoß für die gesammelten Volkslieder vor allem von James Macphersons The Poems of Ossian (1760–1773) und Thomas Percys Anthologie Reliques of Ancient English Poetry (1765). Apo erforscht die Entstehung und die Rezeption von Herders Sammlung. Sie unterstreicht die Bedeutung der Gedichte. Ohne Gedichte hätte das in den Anthologien gesammelte theoretische Wissen des 18. Jahrhunderts den Sprach- und Kulturnationalismus der folgenden hundert Jahre nicht so entscheidend inspirieren können, dass er bis zu den Ostseeküsten gelangt wäre, wo er zur Erforschung von Volkssprachen, Volksdichtung und Volksglauben führte. Die posthume Ausgabe von Herders Werk, die Stimmen der Völker in Liedern, lasen unter anderem Johan Ludvig Runeberg und Elias Lönnrot.

Entsprechend Apos Aufsatz richtet Herder, Finnland, Europa das Augenmerk auf die Spuren, die Herders Lebenswerk in der finnischen Kultur hinterließ. Die Analogie seiner Arbeiten und der Schriften finnischer Kulturgrößen um 1800 und danach sind augenfällig. Daraus darf man nun keine einfachen Schlüsse über eine direkte Beeinflussung ziehen, denn oft handelt es sich um gemeinsame Ideale, Lehren und Ansichten einer Ära. An der Turkuer Akademie, in den Kreisen um Henrik Gabriel Porthan, verfolgte man die Entwicklung des europäischen Gedankenguts, der Wissenschaften und der Literatur interessiert, wie beispielsweise den Streit, den die Gesänge Ossians auslösten. H. K. Riikonen interessieren die Fragen, in welchem Zusammenhang man Herder in Turku nannte, wie gut sein Werk bekannt war und was man darüber sagte. Die Antwort auf diese Fragen findet Riikonen in Doktorarbeiten an Porthans Lehrstuhl, vor allem unter der Anleitung von Frans Michael Franzén. Eine weitere wichtige Quelle sind Franzéns weitere akademische Forschung und seine Gedichte. Im Werk von Porthan und Franzén findet Riikonen tatsächlich ähnliche Akzente wie bei Herder. Die finnische Hegel-Rezeption kann der schwedischen gegenübergestellt werden, und Riikonen untersucht die Haltung früherer Forschung zur Bedeutung Herders in diesen beiden Ländern.
Über Herders Einfluss kann man nicht schreiben, ohne Anders Johan Sjögrens Entwicklung zum Wegbereiter der modernen finnischen Sprachforschung und zum ersten sprachwissenschaftlichen Forschungsreisenden zu behandeln. Aus den Artikeln von Kaisa Häkkinen und Michael Branch geht hervor, dass vor allem Herders Adrastea Sjögren inspirierte. Häkkinen beschreibt das Aufkommen der finnischen Sprachwissenschaft um die Jahrhundertwende 1800 und erstreckt ihre Forschungen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, bis zu Matthias Alexander Castrén. Als weitere Quelle für Sjögrens Arbeit nennt Häkkinen Christfrid Ganander, in dessen „hühnerstallgroßem Zimmer unterm Dach unter anderem die ersten finnischsprachigen Medizinbücher, eine finnische Sammlung von Rätseln und das Manuskript eines umfangreichen finnisch-schwedischen Wörterbuches entstanden“. Häkkinen betont, dass die Entwicklung der Sprachforschung im 19. Jahrhundert den Veränderungen in der Stellung der finnischen Sprache in der Gesellschaft folgte, und zeigt, dass es am Ende des Jahrhunderts „nicht mehr zwingend notwendig war, die Stellung der Sprache und das finnische Selbstbewusstsein mithilfe einer glorreichen Geschichte zu stützen“.

In den Jahren 1824–1829 unternahm Sjögren eine Forschungsreise nach Nord- und Ostrussland. Ihr Zweck war, Geschichte, Sprache, Lebensweise und Bräuche der finno-ugrischen Völker zu untersuchen. Branch beleuchtet den aus historischen, sozialen und kulturellen Faktoren entstandenen Prozess, der zu dieser Forschungsreise geführt hatte. Ihm zufolge kann man sagen, dass Herder den jungen Sjögren anleitete, seinen Weg in der sich erneuernden Ideenwelt jener Zeit zu finden. Als Quelle verwendet Branch vor allem Sjögrens persönliche Schriften, hauptsächlich sein Tagebuch Allmänna Ephemerider (‚Allgemeine Ephemeriden‘, 1806–1855). Wie Häkkinen öffnet Branch den Blick auf die für Sjögren wichtigen Kreise in Porvoo, Turku und Sankt Petersburg, die sich in den ersten zehn Jahren des Jahrhunderts gegenseitig befruchteten. Branch zeigt auf, dass Sjögren zu Porthans Zeitgenossen und Anhängern Kontakt bekam und von mächtigen Persönlichkeiten gefördert wurde.

Pertti Karkama untersucht in seinem Beitrag, wie Herders Lehren allmählich in die Kulturtraditionen derer einflossen, die sie lasen. Das ist in Herders Sinn, denn er war selbst bestrebt, seine Lehren und Ideale unters Volk zu bringen und an die bestehenden Verhältnisse anzupassen. Karkama untersucht auch Herders Sprachtheorie. Diese betrachtet er als Schlüssel zu Herders Werk – zum Beispiel zu seiner Ansicht über Dichtung und Geschichtsphilosophie – und zu dessen Auswirkungen auf die finnische Kultur zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Aus Herders Sprachtheorie erwachsen unter anderem die Prinzipien der sinnlichen Wahrnehmung, des Dialogs und des Gebrauchs von Metaphern. Karkama verfolgt Spuren von Herders Prinzipien in Elias Lönnrots Sprachbegriff und merkt an, dass man das Vorwort zu Lönnrots Sammlung finnischer Volksdichtung Kanteletar (1841) als Bekenntnis zu Herders Sprachtheorie ansehen kann. Er untersucht weitere finnische Sprachforscher und unterstreicht Wilhelm von Humboldts Bedeutung für die Verbreitung von Herders Lehre in Finnland.

Viel ist über den Einfluss Hegels auf J. V. Snellman geschrieben worden, aber die Bedeutung Herders für Snellman wurde erst wenig hervorgehoben. Heli Rantala vergleicht Snellmans Geschichtsbegriff mit dem Herders und fragt, inwieweit Snellmann Herders Werk kannte und behandelte. Sie sucht Ähnlichkeiten zu Herder in Snellmans Zeitungsartikeln, Vorlesungsentwürfen und theoretischen Texten. Beim Vergleich von Ähnlichkeiten und Unterschieden in ihrem Denken konzentriert sich Rantala auf die folgenden Themen: Vielfalt der Kulturen und gemeinsame Kultur, Nation und Austausch zwischen Nationen, Zusammenhang zwischen Natur und menschlicher Entwicklung, Zivilisation und Humanität. Herder und Snellman erörterten beide das Ziel der geschichtlichen Entwicklung und beschäftigten sich mit der Historizität der Entwicklung von Zivilisation und Humanität. In Rantalas Sicht ist der Vergleich ihrer Geschichtsauffassungen schon deshalb wichtig, weil er der Snellman-Forschung neue Anhaltspunkte bietet.

Die Frage der Beziehungen zwischen Sprache, Kultur, Geschichte und Identität ist in Herders komplexem Werk zentral. Die Herausbildung einer finnischen Identität wiederum spielt in Zacharias Topelius’ Maamme kirja (‚Das Buch unseres Landes‘) eine wichtige Rolle. Kati Mikkola, die im Werk Topelius’ nach Parallelen zu Herder sucht, schreibt, man könne Maamme kirja als Lehrbuch sehen, das nach Herders Tod jahrzehntelang dessen Ideen in der finnischen Kultur, „in den tiefen Reihen der finnischen Nation“, bekanntmachte. Tatsächlich wurde es noch Anfang der 1940er Jahre als Schulbuch verwendet. Mikkola analysiert Herders und Topelius’ religiöse Argumentation und ihre Begriffe von Entwicklung, Volkscharakter, großen Persönlichkeiten, Sprache und Volksdichtung sowie Aufgaben des Staates. Maamme kirja stimmt in vielem mit Herders Standpunkten überein, Mikkola zeigt aber auch Aspekte, die sich von Herders Denken unterscheiden.

 

1 J. G. von Herders sämmtliche Werke: Zur Philosophie und Geschichte, Band 3, Bureau der deutschen Classiker, Karlsruhe 1820, S. 334–336
2 Koskimies, Saksalaisen kirjallisuuden historia. Otava, Helsinki. 1936, 155; Jäntere, Historiallista aatetta ja todellisuutta. Turun historiallinen yhdistys, Turku 1936, 201, 273; Jäntti, J. G. Herderin käsitys keskiajasta. Turun historiallinen arkisto VIII. Turun historiallinen yhdistys, Turku 1942, 103
3 Di Blasi, Herder laddas på nytt i den kulturella kampen. Övers. Erik Wallrup. Axess 9/2003, 30
4 Irmscher, Johann Gottfried Herder. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2001, passim, siehe z.B. 57. Siehe auch Di Blasi, Herder laddas på nytt i den kulturella kampen. Övers. Erik Wallrup. Axess 9/2003, 30–32
5 Siehe z. B. Haym, Herder, nach seinem Leben und seinen Werken. 2 Bde. Verlag von Rudolph Gaertner, Berlin 1880, 299–310; Zaremba, Johann Gottfried Herder. Prediger der Humanität. Eine Biographie. Böhlau, Köln 2002, 77–80; Manthey, Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik. Hanser, München 2005, 230f.
6 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 459f.
7 Herder, „An Johann Friedrich Hartknoch, Nantes, Ende Oktober 1769, Briefe I, 169
8 Zu Herders Haltung gegenüber der Französischen Revolution siehe Jäger, Herder und die Französische Revolution. In: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744-1803. Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 9. Meiner, Hamburg 1987
9 Die Information zur finnischen Übersetzung von Herders Erzählung stammt von Panu Turunen.