Als Kökar aus dem Meer auftauchte, wurde es als erstes von Kegelrobben und Vogelschwärmen auf dem Zug nach Norden entdeckt. Im Frühjahr lagen die Robben zuhauf auf den Klippen vor dem sich hebenden Karlbyland und brüllten, dass sich das Himmelsgewölbe bog. Nach den Robben kamen die Menschen der Bronzezeit. Das Plateau von Kalin ragte inzwischen als zusammenhängende Landmasse aus dem Wasser, in seinen Senken bereits von Laubbäumen bewachsen. Die Menschen, die einer Hypothese zufolge von Långbergsöda bei Saltvik kamen, wo man Keramik vom gleichen Typus wie auf Kökar gefunden hat, drangen in die lange, flache Bucht vor, die heute Tellmosse heißt, verschafften sich einen Überblick über das Gelände und wählten dann in einer schützenden Mulde einen Wohnplatz mit Otterböte im Rücken und Vaktanböte vor sich.

Diese Menschen waren Robbenjäger, und ihr Wohnplatz bei Otterböte ist eine der großen Sehenswürdigkeiten von Kökar. Neun Steinkreise im Gras mit eingetieften Kochgruben zeigen, wo die Behausungen standen, wahrscheinlich hüttenartige Konstruktionen, mit Robbenfellen gedeckt. Etwas abseits davon liegt eine Grube, die oft als Müllgrube bezeichnet wird. Bei der Ausgrabung ließ sich jedoch noch deutlich Trangeruch wahrnehmen, und das weist darauf hin, dass es sich in Wahrheit wohl eher um die Trankocherei gehandelt hat. – Abfall hat man auf den Schären schon immer ins Meer geworfen. Es gilt als wahrscheinlich, dass nur Männer auf der Robbenjagd nach Kökar kamen und sie ihre Frauen und Kinder in den Wohnsitzen auf den Hauptinseln von Åland zurückließen. Sicher ist das nicht. Wir wissen zum Beispiel gar nicht, ob die Männer in ihren Einbäumen wirklich regelmäßig zu solch langen Fahrten bereit waren. Egal, welche Route sie auch nahmen, sie mussten in jedem Fall große offene Wasserflächen überwinden. Wir wissen auch noch nicht genug über die klimatischen Verhältnisse damals, um auszuschließen, dass sie nicht im Frühjahr übers Eis kamen und erst im Spätherbst zurückzogen, wenn das Meer wieder zugefroren war. Höchstwahrscheinlich aber waren die Menschen der Bronzezeit nicht annähernd so ängstlich, sich in ihren wackeligen Booten aufs Meer zu begeben, wie wir es wären, und sicher verfügten sie über intuitive Fähigkeiten zur Navigation und Wettervorhersage, die uns für immer abhandengekommen sind.

Keramikfunde datieren den Wohnplatz auf das Ende der Bronzezeit, 800-400 v. Chr. Schon allein die Tatsache, dass die Siedlung 22 Meter über dem Meeresspiegel liegt, schließt eine frühere Datierung aus. Zu Beginn der Bronzezeit verlief die Uferlinie 28 Meter über dem heutigen Niveau. Wie lange die Siedlung bewohnt war und ob sämtliche Hütten gleichzeitig in Gebrauch waren, lässt sich unmöglich feststellen. Mindestens ein paar Jahrhunderte vor Beginn unserer Zeitrechnung verschwand der Mensch der Bronzezeit von Kökar und nahm seine Sprache, sein Weltbild und seinen Instinkt mit, Dinge, die die Archäologie nicht wieder lebendig machen kann, denen man sich aber ahnend annähern kann, wenn man, die Ostsee donnernd in den Ohren, in peitschendem Wind über die Felsen von Kalin kommt und fühlt, dass man lebendig ist.

Aus uns unbekannten Gründen hat die Bevölkerung in Skandinavien gegen Ende der Bronzezeit beträchtlich abgenommen. Über einen Zeitraum von fast tausend Jahren gibt es nur wenige Spuren menschlicher Tätigkeit, bevor die Völkerwanderung der Region neues Leben einblies. Für Åland bedeutete das Ende der römischen Eisenzeit einen gewaltigen Aufschwung. Die Hauptinseln mit ihren großen Handelszentren in Saltvik und Sund entwickelten sich zu einer der am dichtesten besiedelten Gegenden im Norden. Rege Handelstätigkeit eröffnete unbegrenzte Absatzmöglichkeiten für Tran und Robbenfelle. Man kann sich daher nur schwer der vorsichtigen Meinung anschließen, dass Kökar mit seinen unerschöpflichen Robbenbeständen erst im 14. Jahrhundert besiedelt worden sein soll.

Schon zur Wikingerzeit wurde Kökar ein wichtiger Hafenplatz. Nachdem die schwedischen Drachenschiffe auf ihrem Weg nach Osten Föglö passiert hatten, bildete das gerundete Massiv von Kalin eine gut sichtbare Landmarke. Bei Hamnö erreichten sie den Schärengürtel, suchten sich eine Durchfahrt nach Karlby und nach Oppsjö hinein, heute zwar ein Binnensee, damals aber eine perfekt geschützte Hafenbucht. Schwer denkbar, dass ein solcher Knotenpunkt nicht dauerhaft bewohnt gewesen sein soll. Man bekommt oft zu hören, die Bedingungen auf den Kökar-Inseln seien damals noch zu unwirtlich gewesen und die wilden Fremdlinge, die vorbeikamen, hätten es allzu gefährlich gemacht, dort zu leben. Die Touristen von heute wissen aber ganz genau, wie wichtig es ist, dort, wo man einfällt, eine ortsansässige Bevölkerung vorzufinden. Kaum glaublich, dass durchziehende Wikinger die Inseln vorsätzlich verwüstet hätten. Es steht auf einem anderen Blatt, dass nahezu jeder Hafenort in diesen unruhigen Gewässern irgendwann einmal mit irgendwelchen Übergriffen rechnen musste. Das Leben ist nun mal gefährlich.

Was die Unwirtlichkeit betrifft, war Kökar auch nicht schlechter dran als meinetwegen die Shetland-Inseln. Hier wie da gab es gutes Weideland für Ziegen und Schafe, und den Robbenjägern müssen die wimmelnden Sandbänke höchst einladend erschienen sein. Fleisch, Felle, Tran und Wolle waren begehrte Handelswaren, da ist es schwer vorstellbar, dass Kökar, damals im Welthandel günstiger gelegen als heute, zur Wikingerzeit keine Bewohner angelockt haben sollte. Für eine Besiedlung sprechen auch zwei alte Überlieferungen. Der einen zufolge sollen die drei ersten Siedler auf Kökar drei Wikinger aus Gotland gewesen sein. Einer ließ sich auf Karlby nieder, der zweite auf Finnö und der dritte in Österbygge. Die andere Überlieferung besagt, dass einmal an beiden Ufern von Oppsjö Runensteine errichtet worden sein sollen.

Die nächsten Jahre werden ans Licht bringen, wie es mit der Besiedlung auf Kökar gegen Ende der Eisenzeit aussah. Schon jetzt aber steht außer Zweifel, dass Kökar einer der wichtigen Häfen der Wikingerzeit war und die Kette der Signalfeuer, die auf das 11. Jahrhundert datiert wurde, aber vermutlich auf Ursprünge in der Völkerwanderungszeit zurückgeht, über Vaktanböte auf Kökar lief. Von schwedischer Seite ging eine Botschaft hinüber nach Eckerö, wo ein Feuer auf Kasberget [A.d.Ü.: schwed. kase = Holzstoß, Signalfeuer] entzündet wurde. Das Signal konnte man von Kasberg auf Jomala sehen und gab es nach Lemböte auf Lemland weiter, von dort ging es nach Stentorpa Kasberg auf Föglö und weiter nach Vaktanböte auf Kökar. Umgekehrt ließ sich von Vaktanböte aus in einer einzigen Nacht das gesamte Mälardal in Uppland alarmieren. Im Jahr des Naturschutzes 1970 loderten in einer Sommernacht die Signalfeuer noch einmal, doch ohne große Wirkung. Wir haben eben gelernt, mit dem Wissen zu leben, dass der Feind mitten unter uns wohnt.

Um 1240 wird der Name Kökar erstmals schriftlich festgehalten, in der ältesten erhaltenen Segelanweisung für die Ostsee, der Navigatio ex Dania per mare Balthicum ad Estoniam. Das Itinerar verzeichnet Kökar als Thiyckaekarl. Wie das ausgesprochen wurde und ob die Bewohner selbst ihre Klippen so nannten, wissen wir nicht. Der Streit darüber, was der Name bedeutet, ist vermutlich ebenso alt wie die Bezeichnung selbst. Im Lauf der Zeit wurde er Thiyckaekarl, Tjockaela, Tiokarle, Tiockarne, Tiockar, Tiockakarl, Tiökar geschrieben. Es wurde spekuliert, ob womöglich ein gotländischer Wikinger der Sage Tjocke hieß und die Bezeichnung Tjocke und seine Kerle meinte, oder ob sie eher Tjockö-Kerle bedeutete und auf eine frühe Besiedlung von Tjockö in Roslagen hindeutete. Glaubhafter ist aber wohl, dass ganz Karlbyland Tjockö hieß und das ins Auge fallende Plateau von Kalin zum zweiten Bestandteil des Namens beitrug, der Name wird nämlich in den meisten Zusammenhängen als “Tjocka karlen” gedeutet, der dicke Kerl. Wäre doch nett, einen Ortsnamen zu haben, der auf einen Witz zurückgeht, doch die meisten stimmen darin überein, dass Karl, Kerl den massiven runden Rücken von Kalin meint, den man schon von weit draußen auf dem Meer sah. Warum Kalin Kalin oder Karlen heißt, liefert Stoff für neue Diskussionen. Ich selbst glaube, “Karl” ist einfach eine Bezeichnung für die breiten, runden Felsrücken, die dort wie Brotlaibe auf einem Backblech nebeneinander im Gelände liegen und Kökar ein so unverwechselbares Aussehen geben. Die Theorie wird von den vielen Kal- und Karlnamen in den Schären gestützt.

Die Segelroute, die in dem dänischen Itinerar angegeben wird, folgte im Großen und Ganzen der alten Wikingerroute über das Åland-Meer nach Lemböte, via Föglö nach Kökar und weiter nach Südosten. Auf Kökar war die Einfahrt in den Oppsjö inzwischen so weit verlandet, dass ein neuer Hafen gefunden werden musste. Bei Hamnö etwas nordöstlich von Kalin gab es sogar zwei. Die windgeschützte Insel mit ihrer Süßwasserquelle vermittelt noch immer stark den Eindruck eines Zufluchtsorts, und für Seefahrer, die zwischen Brechern hindurchkreuzten, muss sich der Hafen wie ein Wunder geöffnet haben. Darum wurde Hamnö auch früh zu einer heiligen Insel.

Auf Kappelskata, einer ideal zwischen zwei natürlichen Ankerplätzen gelegenen Landzunge, stehen die Fundamente einer bis dato noch nicht untersuchten Kapelle. Ihre Ähnlichkeit mit den Kirchenruinen auf Signilskär und in Lemböte ist derart eindeutig, dass die Vermutung sehr nahe liegt, wir stünden hier vor einer Seefahrerkapelle aus dem 13. Jahrhundert. Åland ist früh christianisiert worden: im 13. Jahrhundert sind Vertreter der Kirche hier nicht zum ersten Mal an Land gegangen, vielmehr waren sowohl die Kirche als auch die Handelswege längst etabliert. Kökars Bedeutung als Handelsplatz machte es nur folgerichtig, hier eine Kapelle zu errichten. Man vermutet, sie und das spätere Kloster seien angelegt worden, um die wilden Einwohner Kökars zu befrieden, die hartnäckigen Gerüchten zufolge seit Anbeginn der Zeiten in die Irre führende Signalfeuer angezündet und von der Ausplünderung gescheiterter Schiffe gelebt haben sollen. Eine einträgliche Vergangenheit, die man den Menschen auf den Inseln gern gönnt. Leider ist diese Vergangenheit schlecht dokumentiert, obwohl andererseits mehrere Berichte überlebt haben, denen zufolge die Kökarbewohner selbst schwer unter dänischen und estnischen Seeräubern litten.

(Piraterie soll einer Überlieferung zufolge der Grund für die völlige Entwaldung von Kökar sein. Früher waren die Inseln mit großen Wäldern bedeckt. Die Obrigkeit ließ sie abholzen, damit sich die Wrackplünderer nirgends verstecken konnten. Anderen Angaben zufolge sollen die Wälder erst von den Russen im Nordischen Krieg von 1700-1721 abgebrannt worden sein. Am meisten reizt die Fantasie die alte Sage von dem riesigen Schiff Refanut, das mit seinem Bugspriet auf einen Schlag sämtliche Bäume auf Kökar umlegte. Wie auch immer, die Baumlosigkeit trägt dazu bei, Kökar den Eindruck von hohem Alter zu verleihen, die Fichte, die die nordische Landschaft so verdüstert, ist nämlich erst kurz vor Christi Geburt in den Norden eingewandert.)

Kapelskata, wo einst unzählige Seefahrer den Heiligen für ihre Rettung gedankt und um günstigen Wind gebetet haben, ist heute ein Lieblingsort prächtig gezeichneter Kreuzottern. Das Gesicht dem Meer zugewandt und mit den schützenden flachen Hafenbuchten im Rücken liegen die Reste des Franziskanerklosters, das vermutlich um 1450 gegründet wurde; es gibt keine genauen Angaben. Im Jahr 1472 wird seine Existenz im Tagebuch des Klosters der Grauen Brüder in Stockholm als bekanntes Faktum beiläufig erwähnt. Es war ein armes und unansehnliches Kloster, das da auf Hamnö heranwuchs, wenn man es mit entsprechenden Anlagen andernorts vergleicht, doch mit anderem Maß gemessen, war es ein eindrucksvolles Bauwerk, das an einem der einsamsten Orte in diesem Teil der Welt errichtet wurde. Einer Sage nach soll sein Baumeister ein Mönch gewesen sein, der auf Kökar unter dem Namen “der heilige Diakon Per” bekannt ist. Kurz vor seinem Tod soll er prophezeit haben, an dem Tag, an dem sein Grabstein von Gras überwuchert werde, stehe der Weltuntergang bevor. Man hat ihn unter einer flachen Kalksteinplatte mitten in der Klosterkirche beigesetzt, und als die neue Kirche gebaut wurde, verwendeten die praktisch denkenden Kökarbewohner den Grabstein als Trittstein, um den Untergang so weit es ihnen möglich war hinauszuschieben.

Das Kloster bestand nicht länger als achtzig Jahre. Über das Leben der Mönche auf Kökar wissen wir nicht viel; nicht einmal ihre Zahl ist bekannt. Eins ist immerhin klar, für Franziskaner, die mit Möwen und Eiderenten reden konnten, wenn die Menschen ihre Ohren verschlossen, war Kökar kein Verbannungsort. Zwischen den duftenden Mittsommerhügeln, wo ihn wilder Majoran, Mädesüß und Hagebutte gleichzeitig bearbeiteten, konnte ein schwärmerischer Jüngling leicht den Kopf verlieren und begreifen, dass er dem Himmel nirgends näher kommen konnte als hier, sofern man unter Himmel das flirrende himmlische Licht verstand, das über dem Wasser lag und die Inseln so vom Meeresspiegel abhob, dass sie zwischen Meer und Himmel schwebten.

Vielleicht ist Stefan Larsson, der Provinzial oder oberste Leiter der Franziskanerklöster in der Ordensprovinz Dacien, d.h. dem Norden, ein solcher Jüngling gewesen. Als er 1496 im dänischen Viborg starb, galt er als einer der größten Gelehrten Skandinaviens. Seinem letzten Willen entsprechend wurde sein Leichnam den weiten Weg nach Kökar überführt und in der dortigen Klosterkirche beigesetzt. Man hat diesen Wunsch so gedeutet, als habe er damit seine “Geringfügigkeit und seine Demut vor unser aller Herr” zum Ausdruck bringen wollen, aber vielleicht war es auch ein Versuch, dem Himmel näher zu kommen. Die Zeit auf Kökar, als Bruder Staffan noch Bruder Staffan war und auf einer Stufe mit Seeschwalben und Gänsesägern stand, muss dem alternden Provinzial Stephanus Laurentii, der von den zwischen den hohen Geistlichen dieser Welt wuchernden Intrigen kaum unberührt geblieben sein kann, wie ein unerreichbarer Zustand der Heiligkeit erschienen sein. [...]