Geraubtes Land. Hierher vertrieben von der Obrigkeit

Translated by Hedwig M. Binder
Also available in Swedish: Herrarna satte oss hit

01
Bures eatnehat
Zuerst

Der Pfad verläuft über trockene Moore bergauf, verschwindet, taucht wieder auf. Nach einer Weile führt er in einen lichten Wald. Die Birken wachsen krumm. Er ist alt, der Weg, das spürt der Körper. Ich biege schräg zu einer Öffnung in einiger Entfernung ab. Trete in Moos, über umgestürzte, morsche Birkenstämme. Ich weiß, die Erde holt sich alles zurück, das, was ich suche, ist kaum mehr zu sehen.

Ich gehe von Kotenplatz zu Kotenplatz. Der erste liegt, mit Aussicht auf das Meer weiter unten, ganz oben auf einer Anhöhe. Er ist so alt, dass nur noch die Feuerstelle übrig ist. Ein wenig hohes Gras und einige überwachsene Steine. Auf den anderen liegen Kreise von herabgefallenem Torf. Ich war hier schon einmal, und ich weiß, wohin ich gehen muss. Ich durchquere eine alte Rentierkoppel und gehe an einer Quelle vorbei, deren Wasser immer noch klar ist.

Noch nie war ich an einem Ort, der so still ist wie dieser. Kein Wind ist zu hören, aber ich weiß, dass er weht. Es ist lange her, dass hier Koten standen und Kinder umherliefen. Es ist lange her, dass jemand davorsaß und webte, in der árran Feuer machte, scharfkantiges Schuhheu schlug.

Die Älteren haben erzählt, wie sie die Erde grüßten, wenn sie hierherkamen, in die Fjälls, zu den Wohnplätzen und zu den Pfaden, aber ich traue mich nicht. Wohin gehöre ich eigentlich? Was ist mein Zuhause? Ich habe mich mit anderen Enkeln von Zwangsumgesiedelten darüber unterhalten. Welchen Teil unserer neuen Sámigemeinden und Plätze können wir den unseren nennen? Ich fühle mich für gewöhnlich am Rande des Gebiets zu Hause, an Stellen, wohin sich, wie ich weiß, sonst niemand sehnt, sagt die eine. Ich befinde mich außerhalb des Gebiets, in dem ich wohne, sagt ein anderer. Es ist nicht so, dass ich mich nicht wohlfühle, aber mir fehlt der Zugang.

Der finnisch-samische Dichter Áillohaš hat gesagt, wir trügen unser Zuhause im Herzen. Kann man das, wenn man vertrieben wurde?
Darf ich um einen Ort trauern, der nie meiner war?

 

Seit den ersten Zwangsumsiedlungen sind mehr als hundert Jahre vergangen. Damals brachte unsere Familie zum letzten Mal die Rentiere über den Sund aufs Festland. Seitdem ist der Wohnplatz verwaist. Dieser Ort spricht leise zu uns, die wir davon wissen und manchmal herkommen. Den meisten sagt er nichts. Über diejenigen, die hier gelebt haben, ist nichts bekannt.

So ist sie, die samische Geschichte. Sie besteht aus kleinen Abweichungen in der Vegetation, einer kaum merklichen Bodenerhebung, abgebrannten Koten. Unsere Erzählung ist das Schild, das niemand aufgestellt hat, das Kapitel, das im Buch der Geschichte keinen Platz hat. Gleichzeitig laufen seit vielen Jahren Gerichtsverfahren zwischen nördlichen Sámigemeinden und dem norwegischen Staat. Die Sámigemeinden kämpfen um ihr Recht am alten Rentierweideland, von dem sie vertrieben wurden. In Vapsten in Västerbotten haben die Alteingesessenen die Nachfahren von Zwangsumgesiedelten verklagt. Sie treffen sich vor Gericht, in einer Geschichte gefangen, die Schweden ihnen aufgezwungen hat.

Ich lege mich in die Sträucher. Dass die Erde sich die Wohnplätze zurückholt, muss so sein, aber ich trauere um die Erzählung, die ebenfalls verschwindet. Sie rinnt mir aus den Händen, und deshalb bin ich hier. Mein váre, der Vater meines Vaters, und seine Geschwister haben hier gewohnt. Und ihre Eltern, Risten und Gárena Jovnna. Dieser Ort war ihr Zuhause. Ich wollte als Erstes über sie schreiben, kam aber keinen Schritt voran. In einem Archiv in Helsinki fand sich lediglich eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, das Foto einer Mutter mit drei kleinen Kindern. Eins der Kinder ist váre als Zehnjähriger. Sein Kolt ist zerrissen, und ich weiß, warum niemand ihn geflickt hat. Sie sind noch in Gárasavvon, im Winterweideland, mitten im Sommer, als sie am Meer hätten sein sollen. Sie haben im Gerichtsgebäude ein Zimmer bekommen, um mit ihrem schwerkranken, bettlägerigen isá irgendwo bleiben zu können. Wenn die Zeitangabe stimmt, hat sie jemand fotografiert, als ihr Vater gerade von ihnen gegangen war. „Lähmung nach Schlaganfall“ steht als Todesursache im Kirchenbuch. Risten wird mit einem Rentierbestand, von dem man kaum leben kann, Witwe. Dann wird die gesamte Familie zwangsumgesiedelt, und Risten setzt die Kinder in die Rentierraide. 1923 treffen sie in den Fjälls von Jåhkåmåhkke ein.

Die Zeit danach ist wie ein Loch. Nie wollten sie davon erzählen. Heute weiß ich, dass meine Familie nicht die einzige ist; das Sápmi, in dem ich aufgewachsen bin, ist voll von Menschen, die ihre Wunden mit Schweigen verbunden haben.

Darum handelt diese Geschichte von denjenigen, über die ich schreiben kann, von denen es archivierte Tonaufnahmen gibt und die bereit waren, zu erzählen. Die noch Bilder, Briefe, Gedichte und Dokumente besitzen. Ich bin dankbar für jede noch so kleine Erzählung und alles, was sie mitgeteilt haben. In ihrer Geschichte können wir unsere eigene erahnen. Wort für Wort erschreibe ich mir meine Familie.

 

Im Laufe der Jahre habe ich viele Leute interviewt, sowohl Menschen, die die Zwangsumsiedlung selbst erlebt haben, als auch ihre Kinder und Enkel. Darüber hinaus durfte ich Interviews verwenden, die andere mit älteren Menschen gemacht haben, die längst von uns gegangen sind. Mein Text gründet auf einem Chor von Erzählstimmen. Auf kurzen Geschichten, Joiks, Erinnerungsfetzen. Ich habe verwoben und zusammengefügt, manchmal in klaren Farben, manchmal aber besteht das Gewebe zur Hälfte aus Lücken und Schweigen. Das mündliche Erzählen hat sich mit der Zeit erschöpft. Ich muss akzeptieren, dass die Form des Texts unvermeidlich wie die samische Geschichte insgesamt ist: wie ein gewebtes Schuhband, das mit der Axt durchtrennt wurde. Die Fäden sind nicht aufgeribbelt, sie enden abrupt, und unser Muster ist so schwer wiederaufzunehmen.

Im Laufe der Arbeit sind nach und nach auch diejenigen gegangen, die ich selbst interviewt habe. Und jedes Mal hatte ich das Gefühl, dabei etwas von mir selbst zu verlieren. Wen sollen wir jetzt noch fragen? Ich habe so viele Erzählungen über die Zwangsumsiedlungen gehört, doch die müssen andere schreiben. Das gilt nicht zuletzt für die Geschichte derer, die ihrerseits zwangsumgesiedelt wurden, als die nordsamischen Familien bei ihnen einzogen. Ich hoffe, es erzählen mehr Leute, solange noch Zeit ist. Für viele von denen, die ich getroffen habe, ist das Erzählen heilsam. In der Sprache, die ich am meisten liebe, ist erinnern und erzählen fast das gleiche Wort. Muitit heißt erinnern und erzählen muitalit. An diejenigen, von denen wir erzählen, erinnern wir uns.

Giitos eatnat. Danke muore, váre, áhkku, áddjá – meine eigenen und die anderer. Dies ist mein Gewebe für Euch. So will ich euch joiken.

02
Rájit
Grenzen

Grenzen hat es immer schon gegeben, aber früher folgten sie Moorrändern, Tälern, Wäldern und Fjälls. Die neuen nordischen Reichsgrenzen verlaufen quer durch alle natürlichen Systeme. Sie durchschneiden Weideland, Familienbande und Zugrouten, die Tausende von Jahren benutzt wurden. Wird das Land durchschnitten, werden Menschen getrennt. Deshalb muss eine Geschichte über die Zwangsumsiedlungen genau hier ihren Anfang nehmen. An der Grenze, 1751.

Eigentlich wollte ich, dass diese Geschichte nur aus Erzählungen besteht, aber es ist schwierig, die Zwangsumsiedlungen zu verstehen, ohne auch von den Grenzen zu erzählen. Die Älteren sprechen sie oft an, weil sich ihr ganzes Leben ja eigentlich durch die Grenzen verändert.

1751 ist das Jahr, in dem die Grenze zwischen Norwegen/Dänemark und Schweden/Finnland festgelegt wird. Die nordischen Länder und Russland teilen das Gebiet unter sich auf und schließen ein Grenzabkommen. Zum Umgang mit den Sámi, die seit langer Zeit in einem Gebiet ohne Grenzen vom Land leben, beschließen sie darüber hinaus ein Zusatzabkommen, das Lappenkodizill. Es erkennt die Sámi als eigenes Volk mit Recht auf das Land an. Sie dürfen demzufolge wie bisher fischen, jagen und Rentiere halten. Jeden Herbst wandern die Rentierherden zur Winterweide ins Binnenland. Im Frühjahr kehren sie ans Meer und zur Sommerweide zurück. Und selbstverständlich bewegen sich auch die Menschen über die neue Grenze.

Mit der Zeit verschwindet jedoch das Recht, so zu leben, wie sie immer gelebt haben. Im 19. Jahrhundert werden die Grenzen nach und nach geschlossen und die Rentierherden auf kleineren Arealen zusammengedrängt. Nachdem Norwegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts selbstständig geworden ist, kulminiert diese Entwicklung. In Norwegen möchte man das Land für seine eigenen Landsleute haben. Dass Menschen mit Rentieren über die Grenze ziehen, ist für den norwegischen Staat ein rotes Tuch. Sie gehören nicht zu Norwegen, auch wenn sie seit Generationen dort leben. Die Weidewiesen der Rentiere sollen für Almen und die Landwirtschaft genutzt werden. „Das Nomadenleben ist eine Last für das Land und die sesshafte Bevölkerung und stimmt wenig mit den Interessen und der Ordnung der zivilisierten Gesellschaft überein“, sagt unter anderen der Vorsitzende der Arbeiterpartei, Christian Holtermann Knudsen, im norwegischen Parlament, dem Storting.

1919 lösen Schweden und Norwegen das gemeinsame Problem mit einer Rentierweidekonvention, in der die Zahl der Rentiere, die über die Grenze ziehen dürfen, beschränkt wird. Zugleich verfügen die Staaten indirekt, wie viele Menschen von ihrem Zuhause an der Atlantikküste umzusiedeln sind.

Um den Vertrag mit dem Nachbarland zu erfüllen, nehmen die Provinzialregierungen in Schweden ab 1919, während der gesamten 1920er-Jahre und Anfang der 1930er-Jahre regelrechte Zwangsumsiedlungen von Rentierhirten vor. In der Konvention steht, dass die Umsiedlungen in Übereinkunft mit den Wünschen des „Lappenvolks“ erfolgen sollen. In Wirklichkeit hat es nichts zu sagen.

Die Behörden nennen diese Lösung Dislokation.

Im Samischen wird dafür ein eigenes Wort kreiert. Bággojohtin. Zwangsumsiedlung. Oder sirdolaččat, wie die älteren Zwangsumgesiedelten sich nennen. „Die Umgesiedelten“. Die ersten, die vertrieben werden, verlassen ihr Zuhause in dem Glauben, zurückkehren zu dürfen.

An sie übergebe ich nun das Wort, da nur sie davon erzählen können.

„Jetzt hör zu … Es war im letzten Sommer, in dem wir dort waren. Nein, es war wohl im letzten Frühling … Márte Jovnna hatte einen Traum, an den ich mich noch erinnere, er handelte davon, dass die Sámi zur Kirche in Tromsö fahren durften. Die Rentierherden kreisten so lange um den Kirchturm, bis er umstürzte. Das hat Márte geträumt … Er hat mir den Traum erklärt und gesagt, wir würden jetzt nicht mehr hierherziehen dürfen.

Dann haben wir mehr über die Konvention erfahren, und man hat uns gesagt, dass wir nicht mehr zurückkehren dürfen. Jetzt dürfen Schwedens sápmi nicht mehr hierherkommen. Das hat uns der Vogt gesagt. Du weißt, dass die Provinzialregierung wie ein König umhergereist ist. Die Schweden wurden gezwungen, die Sámi in ihr Land aufzunehmen.

Und so geschah es auch.“

Sunná Vulle Nihko Ovllá
Olof Petter Nilsson Päiviö

„Aus norwegischer Sicht besteht der Wunsch, die Last der schwedischen Rentierbeweidung in dem Fylke so weit wie möglich zu verringern […] Die aus diesem Grunde nötige Reduktion des Rentierbestands in den betreffenden Regionen glaubt man auf schwedischer Seite dadurch bewerkstelligen zu können, dass man, in Übereinkunft mit den Wünschen bei einem Teil des Lappenvolkes in Karesuando und Jukkasjärvi, eine Anzahl von Lappen und Rentieren aus diesen Regionen in südlichere Gegenden der Lappmark in der Provinz Norrbotten umsiedeln lässt, hauptsächlich in die Gemeinden Jokkmokk und Arjeplog, wo für sie erwiesenermaßen Raum zu Gebote steht.“

AUS DER RENTIERWEIDEKONVENTION DES JAHRES 1919

03
Mearráriikkas
Im Land am Meer

SÁžžÁ, SEPTEMBER 1919
Guhturomma Ánne Márjá
Anna Maria Omma

Ánne Márjá erinnert sich. Sie erinnert sich an den Ruf des Kuckucks, wenn sie zum Meer hinunterkamen. Sie hörte ihn mal hier, mal dort, an unterschiedlichen Stellen entlang des Wegs. Er schien ihr zu folgen. Er zeigte sich nicht, grüßte nur, auffordernd, immer und immer wieder. Er erwischte einen immer unvorbereitet.

„Der Kuckuck ruft, wann es ihm in den Sinn kommt“, dachte sie. Sie sah sich um, er klang so nahe, ließ sich aber nie blicken. Wenn sie zu der Kote am Várddaváraš kamen, verstummte er. Sie vergaß ihn eine Weile.

Sie erinnert sich an die Sommergeräusche. Die Vögel und die grunzenden, schmächtigen Renkälber. Der Herbst klingt anders. Ängstlicher.

Ánne Márjá packt Kleider in den Sack und verschnürt ihn. Die feineren Porzellantassen steckt sie vorsichtig in ihr gohppogiisá. Die Medizinflaschen verstaut sie im Mehlsack. Sie und Guhtur haben alle Körbe überprüft, die sie packen wollen. Wo nötig, haben sie sie ausgebessert, die Lederriemen eingefettet und schadhafte ausgetauscht. Sie weiß genau, was sie wo haben möchte, ihre Hände denken selbstständig. Soll das Rentier es tragen können, darf das Gepäck nicht mehr als zwanzig Kilo wiegen. Sie braucht keine Waage. Ihre Arme haben es im Gefühl.

Sie sammelt das trockene Reisig auf dem Kotenboden zusammen und legt es draußen ins Feuer. Mit schnellen, leicht o-beinigen Schritten läuft sie hin und her. Ánne Márjá ist wie ein Alpenschneehuhn, sagen die anderen immer, ebenso kurze Beine und abrupte Bewegungen. Nie kann sie langsam gehen. Der boaššu ganz hinten in der Kote ist fast leer. Ohne Reisig auf dem Boden riecht es ein bisschen muffig nach Erde. Sie atmet den Geruch ein und sieht sich um. Jetzt sind da nur noch einige Gefäße, die auf dem Kopf stehen, und anderes, was auch sonst immer zurückgelassen wird. Sie hebt Zweige auf, die ihr heruntergefallen sind, hat nie leere Hände. Es soll sauber sein, wenn sie im Sommer wiederkommen. Dies ist keine Kote für die Unsichtbaren. Die Gnome.

Die unteren Fjällregionen, die das Tal einrahmen, sind noch ganz schneefrei. Es liegt kaum irgendwo ein Fleckchen Schnee, dabei ist es schon September. Um diese Zeit tragen die Gipfel für gewöhnlich hingepuderte Tücher aus Neuschnee, dieses Jahr aber sind sie alle noch gekleidet wie mitten im Sommer. Ánne Márjás Gesicht wird warm. Sie hört die Kinder beim Stein hinter der Kote. Sieht im Reisig den roten Bommel auf der Heandarats Mütze wie eine unreife Moltebeere leuchten. Sie hat Glöckchen an seinen und Ánnes kleinen Gürtel genäht, damit sie mit ihrem Klingeln verkünden, wenn die Kinder fortlaufen.

Sie schließt die schräge Tür.

Guhtur und Ánne Márjá haben ihre Kote in der Nähe der anderen in der siida. Die übrigen Familiengruppen wohnen kilometerweit verstreut in der unteren Fjällregion um den Várddaváraš. Zwischen den Koten stehen vereinzelt einsame Fjällbirken. Der Wald, der in Ánne Márjás Kindheit hier wuchs, ist zu Brennholz geworden. Ringsum im Tal finden sich herbstlich gefärbte Kleinmoore mit vertrockneten Moltebeerpflanzen. Seggen, die allmählich gelb werden. Blaubeersträucher, Frauenmantel, Drahtschmiele.

Sie wohnen an der Schwelle der Fjälls. Von den abgerundeten Hängen aus ist auf der anderen Seite des Fjords das Festland zu sehen, ebenso das Meer. Das offene Meer ist nur etwa zehn Kilometer entfernt. Für Ánne Márjá ist dieses Gebiet Meer und Fjäll in einem, als wären sie miteinander verheiratet. Sie kann die Augen schließen und beides in sich spüren. „Das Meer umrundet die Fjälls und trifft auf das nächste Meer. Wir sind von Gipfeln und Meeren umringt. Ich bin überall in diesen Fjälls umhergelaufen. Ich kenne sie.“

Sie nennen sie Sážžá. Sie ist so groß, dass man selten daran denkt, dass es eine Insel ist. Sie ist ihr Sommerweideland. Das Reich des Meeres. Senja nennen die Norweger sie. Ánne Márjá kennt den Weg so gut, dass sie weiß, wo sie am trockensten geht und welchen Fuß sie auf welche Bülte setzen muss. In Schweden gelten sie als schwedische Staatsbürger, und sie wurden von schwedischen Pfarrern getauft. Das Waldland bei Kangos liegt auf der schwedischen Seite der Grenze. Ánne Márjá ist im Winter immer dort, aber sie sehnt sich nie dorthin. Ihre Unruhe verschwindet erst am Meer auf der norwegischen Seite der Grenze. Es zieht sie zu ihren Sommerhügeln, und im Frühjahr ist sie wie die Renkühe. Sie halten alle den Kopf in den Wind, der von der Küste kommt. Guhtur hat die Birken für die Kote ausgewählt. Sie haben den Platz darum gebeten, in Ruhe schlafen zu dürfen. Sážžá macht Ánne Márjá für den nächsten Winter bereit. Nur hier spürt sie, dass es Zeit gibt.

Bei ihrer Ankunft haben sich Ánne Márjá und die anderen Frauen unten in Rášmorvuovdi eine Singer-Nähmaschine geliehen und neue Kolts genäht. Sie haben Kuhhäute zusammengebunden und so lange in den See gelegt, bis sich die Haare lösten. Ánne Márjá hat mit ameisenschrittkleinen Stichen Sommerschuhe genäht und den Kindern neue vuoddagat gewebt. Sie webt schöne Bänder, dafür ist sie bekannt. Waren rund um den See die Rentiere zusammengetrieben, hat sie diesen festlichen Moment in frisch gewaschenen Kleidern gefeiert. Sie hat die erfahrensten Renkühe gemolken, von jeder ein paar Spritzer. „Wir haben Käse gemacht und eidde hat gebuttert. Davon haben wir gelebt.“ Die frische Rentierbutter ist hart, und weiß wie Schnee. Sie schmilzt im Mund wie Mark.

Käse, Butter, alles, was sie haben, hat sie jetzt eingepackt. Der Sommer vergeht so schnell. Die Wanderung mit der Rentierraide führt vom Sommerweideland auf der Insel über die Grenze nach Schweden. Ánne Márjá legt dem Rentierochsen zerschlissene dovgosat auf den Rücken. Das Fell schützt gegen den Druck des Gepäcks, und sie legt es mit der Haarseite nach unten, damit die Ladung nicht verrutscht. Sie steht auf der linken Seite des Rentierochsen und versucht ihn anzuschirren, ohne den Oberkörper zu bewegen oder zu große Schritte zu machen. Ihn nicht mit hastigen Bewegungen zu erschrecken. Wenn sie joikt, wird er ruhig.

Ánne Márjá hebt Ánne auf den Rentierochsen, den sie selbst führt, sie weiß, dass er es schafft, die Kinder zu tragen. Sie setzt das Mädchen in einen länglichen, abgerundeten Reitkorb. Er hat eine kleine Zarge, nicht höher als eine Handbreit, aber das reicht, um die Zweijährige, die das Gleichgewicht noch nicht richtig halten kann, zu stützen. Heandarat ist groß genug, um auf dem Rücken des Rentiers zu sitzen, und er umklammert die zwei spagát, die vor ihm aufragen. Sie bindet ihn fest. Rentierhaarkissen stützen ihn auf beiden Seiten. Wenn ihm die Beine einschlafen, läuft er mit seinem dünnen Stock neben der Rentierraide her.

Ánne Márjá war zweiundzwanzig, als sie Mutter wurde, das ist jetzt vier Jahre her. Seit über vier Jahren ist sie nicht mehr mit der Herde gezogen! Sie, die immer an der Seite der Rentierherde war. In ihr kribbelt es vor Sehnsucht, wenn Elle ihren Sack nimmt und sich zum Sammeln aufmacht und sie dann den ungezwungenen Joik der Schwester hört. Ánne Márjá, die immer wie ein Seevogel über diese Täler geflogen ist. Manchmal haben sie draußen am Meer auf einem Stein gesessen und Jungs gejoikt, die sie getroffen hatten, und Orte, die sie mochten. Sie haben die Fjälls gejoikt. Die Mägde, die aus Ávkolat kamen, hatten schöne, tragende Stimmen. Wenn ihr das Umziehen schwerfällt, denkt sie immer an die Zeit, als sie wie ein wildes Rentier war. „Eigentlich war es die Arbeit der Knechte und Mägde, die Wiesen zu bewachen, aber ich war ein Wildfang. Ich war immer dort. Ich habe versucht, in die Schule zu gehen, hatte aber keine Zeit. Immer war ich hinter den Rentieren her, immer. Schön war das.“

Heute kommt sie selten aus dem Tal heraus. Manchmal holt sie am Fjord Fisch bei den Leuten vom Meer. Als sie zuletzt bei den Höfen in Rášmorvuovdi war, hat sie einen Sirupkuchen bekommen, so frisch, dass sie das Messer abwischen musste, bevor sie es wieder in den Gürtel stecken konnte. „Das sind gute Leute, sie haben immer Kaffee und etwas zu essen. Herrje, es ist so schön, mit der Milchflasche dorthin zu gehen, die sie dann befüllen. Wir haben einander doch das ganze Leben begleitet.“

Na, na, sagen sie für gewöhnlich. Sie nehmen nie groß Abschied, treffen einander im Frühjahr ja wieder. Ein zu großer Abschied ist ein schlechtes Omen.

Die Rentierraide führt über einige halbtrockene Moore bergab und am Bach entlang bis zur Furt. Ánne Márjá nimmt sich von den Bäumen, an denen sie vorbeikommt: Wurzeln, Maserknollen, Birkenrinde. Dankt dem Pfad, den Hängen. Dem Weideland. Dem Bach, der sich beruhigt hat. Wenn das Frühjahrshochwasser dahinströmt, ist er schwer zu durchwaten, jetzt aber kommen sie leicht hinüber, ohne sich den Saum des Kolts nass zu machen. Die eine Bachfurt ist trocken, hat rundgeschliffene Steine wie eine Schotterbank. Ánne Márjá hält die Zügel fest und zieht die Raide das steile Bachufer hinauf. Die Ladung der Rentierochsen verrutscht, wird wieder zurechtgerückt. Sie holen die Älteren und die Kinder ein, die vorausgegangen sind. Der Wind hat das erste Laub fortgeweht und auf die Zugroute gelegt.

Die Etappe ist diesmal nicht lang. Sie wollen nur bis Gibostad. So nennen die Norweger die Höfe bei Čoalbmi. In Ánne Márjás Kindheit gab es dort nur ein einzelnes Haus, doch jetzt tauchen am Fjord jedes Jahr neue Äcker auf. In einiger Entfernung zum nächstgelegenen Hof warten auf einem Höhenrücken ihre alten Feuerstellen. Sie begrüßt den Kotenplatz. Er trägt jetzt Herbstkleider, bei ihrer letzten Begegnung war es Frühsommer. Die Sammler kommen mit der Rentierherde zum Moltebeermoor.

Ánne Márjá trifft Bekannte, die weit gereist sind, um ihre Schlachtrentiere zu holen. Von den Höfen sind die Leute gekommen, um Fleisch, Felle und Blut einzutauschen. Die Herbstschlacht ist hier das Fest des Jahres. Sie zählt ihre eigenen Rentiere. Sie kennt sie in- und auswendig, ihre Geweihe, das Deckhaar. Guhtur kümmert sich um die Tiere, die geschlachtet und verkauft werden sollen. „Die Rentierbullen sind wie Pferde“, stellt ihr Cousin Johánas fest und lacht. Sie sieht sich nach denen um, die noch fehlen, niemand will auf der Insel Rentiere zurücklassen. Es ist nicht sicher, dass sie im Sommer noch da sind. Bei den Sesshaften gibt es viel zu viele Gewehre. Jetzt werden ihre Tiere die kargen Grenzfjälls aufsuchen, anschließend den Wald im Winterweideland.

Elle und drei Jungen werden mit dem Boot hinübergerudert, um die Rentierherde auf der anderen Seite in Empfang zu nehmen. Der Sund ist gerade so breit, dass man die Details an den Häusern auf dem Festland und an der Kirche erkennt, wo Lálle Jákos Sohn begraben liegt. Sie warten auf das Stillwasser, die knappe Stunde, in der das Meer zwischen Ebbe und Flut Pause macht. Die älteren Rentiere stecken die Nase ins Wasser. Es ist erstaunlich, wie sie die Strömung erkennen und sich hinlegen und warten. Sobald das Stillwasser eintritt, entsteht die Lücke, die sie brauchen, um zum anderen Ufer zu gelangen. Im Frühjahr scheuen die Rentiere meist davor zurück, ins Wasser zu gehen, doch jetzt geht es leichter. Die Herde schwimmt einer Decke gleich durch den Fjord und jagt auf dem Festland den Hang hoch. Der Bauer auf der anderen Seite hat gegen die Rentiere Stacheldraht ausgelegt, aber es scheint trotzdem gut zu gehen.

Ánne Márjá zündet sich ihre Pfeife an und zieht daran. Die Familien nehmen das Boot nach Finnsnes und fahren dann von dort aus mit dem Pferdefuhrwerk zu ihrer Rentierherde. Auf dem breiten Holzsteg stehen in dunklen, farblosen Kleidern und Hüten noch andere Passagiere. Die älteren Kinder helfen Säcke, giissáid und spagát zu verfrachten. Alle Geschirre und Packkisten, die die Rene getragen haben, müssen jetzt mit aufs Boot. Die Familien nehmen wie üblich auf dem Außendeck Platz. Sie setzen sich mit den Welpen und den Kleinen im Arm.

Vom Meer aus sehen sie die Zugroute und die Fjälls, auf denen sie entlangführt. Dort sind Noađđevárri und die Hänge um Várddaváraš, wo die Koten liegen. Vuoi, dieses Land. Das Reich des Meeres. Das Salzwasser. Ánne Márjá legt sich ihr Wolltuch um und hält Ánne in ihren Armen warm. Die Spitzenhauben der Frauen leuchten weiß in der Sonne. Sie denkt Ipmil sivdit, Glück sei mit ihnen, bis sie nächstes Frühjahr das Reich des Meeres sehen.

Erst später denkt sie, dass sie richtig liebevoll hätte Abschied nehmen sollen. Sie hätte länger bei den Freunden in Rášmorvuovdi bleiben sollen. Ihnen für den Kaffee, den Seelachs und die Milchflaschen danken. Die Gespräche, die Geschichten, die Kindheitsmomente. Und wenn sie es gewusst hätten, dann hätten sie ihre Sachen verschenkt. Sie hätte dem kleinsten Pfad und den Felsen von Juobmovári danken sollen. Sie hätte das Grab ihres Vaters besucht.

Erst später kommt es Ánne Márjá, dass der Kuckuck mehr als sonst gesungen hat.

„Das Jahr, in dem sie uns ausweisen, ist das Jahr, in dem der Kuckuck ruft.“

© Elin Anna Lanna och Norstedts Agency, 2021