Eine Reise in zwanzig Stationen entlang der Landesgrenzen Skandinaviens

Translated by Ricarda Essrich

Im Sommer und Herbst 2015 wanderte ich auf dem Nordkalottleden. Von Alta nach Kautokeino und weiter bis nach Karesuando, dann von Haparanda und Tornio nach Pajala. In mir trug ich die Frage, was es bedeutet, an einer der Landesgrenzen im Norden Skandinaviens zu leben. Sowohl in Sápmi als auch in Tornedalen durchschneiden die von den Nationalstaaten gezogenen Grenzen Leben, Kulturen und Sprachgebiete. Sie haben Menschen getrennt, und bis heute begrenzen sie viele Lebensräume. Ich habe mich gefragt, was dieses Leben im Grenzland mit Menschen macht, die schreiben. Dieser Text ist ein Auszug aus einer größeren Untersuchung bestehend aus Gedichten, Essays und Interviews, die sich mit der gewaltreichen Geschichte der Grenzen und ihren Folgen beschäftigt. Wer das Ganze aus der Perspektive der Minoritäten ‒ also der Sámi und Tornedaler ‒ betrachtet, wird feststellen, wie sehr sich die Geschichtsschreibung, wie wir sie kennen, verändert.

1.
BJÖRK: I thought I could organize freedom. How Scandinavian of me.

2.
RISTEN: Ich träume / Tag und Nacht / ohne Grenzen

3.
MALIN: Vor unserem ersten Treffen bat ich dich, mich zur offiziellen Grenze zwischen Schweden und Finnland zu begleiten, doch das wolltest du nicht. Die Grenze verläuft nicht dort, meintest du. Jetzt würde ich gerne wissen, wo sie stattdessen liegt.

MIKAEL: Die Grenze existiert nur politisch und national, sie ist eine in die Karte gezeichnete Konstruktion. Ein Nicht-Ort. Es gibt ein Schild auf der Brücke, das Auswirkungen auf die Zollbestimmungen hat. Ich darf zum Beispiel meinen Hund nicht mit auf die andere Seite nehmen, weil er nicht gegen Tollwut geimpft ist. In meiner Vorstellung ist es aber eher eine innere Grenze, die andersherum funktioniert. Alle kulturellen Identitäten eines Menschen sind in ihm verankert, in meinem Fall die sámische, die tornedalfinnische und die schwedische. Ich habe gelernt, je nach Kontext zwischen ihnen zu hin und her zu springen, doch sie sind immer miteinander verbunden. Eigentlich finde ich das Bild, ich würde physisch mit einem Bein in Finnland und dem anderen in Schweden stehen, ziemlich passend. Man sieht eine scharfe politische Linie, die meinen Körper in zwei Hälften spaltet, doch es ist immer noch ein und derselbe Körper.

4.
MIKAEL: 1888 begannen König Oskar II. und das Militär, finnischsprachige Gruppen aus dem Tornedalen als Bedrohung aufzufassen. In den darauffolgenden Jahren ließ man mit Staatsmitteln Schulen im Tornedalen errichten unter der Bedingung, dass dort ausschließlich Schwedisch als Sprache zugelassen wurde. Das war der Beginn der Schwedifizierung.

Dort hat unser Trauma, das sich in den 1890er-Jahren und das gesamte 20. Jahrhundert über fortsetzte, seine Wurzeln: die Unterdrückung der Tornedalen-Kultur. Der König sah sich natürlich in den Ideologien des fortschreitenden Nationalismus bestätigt, in dem die nationalstaatliche Vorstellung von einem Volk, einer Sprache, einer Kultur vorherrschte. Darüber hinaus herrschte aber auch eine gewisse Angst, denn nur zehn Kilometer von Pajala entfernt begann Russland, zu dem Finnland gehörte. Der schwedische Staat befürchtete, wir ‒ die Menschen aus Tornedalen ‒ würden lieber zu Finnland gehören wollen. Vor dem Friedensvertrag zwischen Schweden und Russland von 1809 bildeten ja die Finnisch sprechenden Gemeinden auf beiden Seiten des Flusses gemeinsam das Tornedalen. Viele Schweden hatten außerdem Angst, der russische Zar könne ins Land einfallen, um so die Eismeerhäfen in Nordnorwegen zu erreichen. Man benötigte also wirksame Barrieren zu Finnland. Die Sprachbarriere war eine davon, mit Folgen, mit denen wir bis heute leben.

5.
LARS: Symptomatisch für die sprachdarwinistischen Strömungen war, dass zwei der vier Staatsschulen in Dörfern auf der Sprachgrenze zwischen Finnisch und Schwedisch platziert wurden. Sie waren als eine Art Bollwerk gedacht, um den Vormarsch des Finnischen zu verhindern. Die beiden anderen entstanden auf Initiative zweier Sägewerksbesitzer, die auch einen Teil der Kosten für Bau und Betrieb der Schulen trugen. Es war also nicht nur der Staat, der zur Schwedifizierung des Tornedalen beitrug, sondern auch die Modernisierung als solche. Nach den ersten vier Staatsschulen wurden ab den 1890er-Jahren zahlreiche weitere in Tornedalen gebaut.

6.
MIKAEL: Als Kind bekam mein Vater ‒ wie viele andere Menschen seiner Generation ‒ zu hören, in der Schule sei es nicht erwünscht, Finnisch zu sprechen. Er sprach nie Meänkieli mit mir. In meiner Kindheit hieß es, jemand, der zwei Sprachen spreche, sei halbsprachig, und das war so ziemlich das Schlimmste, was man sein konnte. Hatte man Tornedalfinnisch in sich, war man behindert, auf ewig dazu verdammt, nie ein Intellektueller werden zu können. Aber wenn mein Vater telefonierte oder mit Nachbarn sprach, benutzte er Tornedalfinnisch, und ich hörte zu. Schließlich begann ich, finnische Wörter einzustreuen, wenn wir miteinander sprachen. Ich erinnere mich an eine Situation, als wir auf Elchjagd waren und auf der Lauer lagen. Ich wollte seine Reaktion sehen. Was ich sagte, sollte so etwas heißen wie: „Jetzt wird alles gut.“ Da korrigierte er mich. Er hörte, dass ich es falsch sagte. J-ä-r-j-e-s-t-y musste es heißen. Es war nicht so, dass er sich dafür entschieden hatte, Meänkieli nicht mehr zu sprechen, es ergab sich einfach. Eine ganze Generation kann eine Sprache verlieren, indem sie es einfach geschehen lässt. Es gab keinen aktiven Widerstand. Und dabei war mein Vater doch stolz auf seine Sprache. Schon seltsam.

MALIN: Du hast einmal gesagt, du seist traurig darüber, kein Finnisch sprechen zu können.

MIKAEL: Habe ich das gesagt? Dann muss ich das korrigieren. Es macht mich nicht traurig, aber ich finde es schade, ich bedaure es.

MALIN: Worin liegt der Unterschied?

MIKAEL: Die finnische Sprache hätte ein Werkzeug sein können. Vor allem hätte ich auf Finnisch fühlen können. Die Sprachen, mit denen wir aufwachsen, werden zu unseren Gefühlssprachen. Die jungen Leute in Pajala sprechen heute nur noch Schwedisch. Die wenigsten verstehen, was du meinst, wenn du sie auf Finnisch nach dem nächsten Bus nach Gällivare fragst. In der Generation davor hätte das noch jeder verstanden.

Die wenigen Jugendlichen in Pajala, die heute Finnisch können, haben finnische Eltern. Also ja, es ist ein Verlust. Andererseits: Ein tiefergehendes Interview mit einem älteren Menschen müsstest du nach wie vor auf Finnisch führen.

Davon abgesehen muss man auch vorsichtig sein. Vom Minderheitendenken ist es nicht mehr weit bis zum Faschismus. Es liegt nahe, auf andere herabzusehen und sich für etwas Besseres zu halten, zu denken, man zeichne sich durch etwas aus, das die Mehrheitskultur nicht hat. Ein paar alte Männer in Haparanda haben eine Tornedalen-Flagge entworfen. Ich bin ganz und gar gegen diese Bewegung. Als sie anfingen, sollte man einen sogenannten Tornedalen-Pass beantragen, und um den zu bekommen, musste man Finnisch sprechen und finnische Ahnen haben. Das macht mich sehr wütend. Warum sollte meine Frau, die hier seit zwanzig Jahren lebt, keine Tornedalerin sein? Man muss selbst entscheiden dürfen, wie man sich definiert, das ist das Wichtigste. Wir Tornedaler haben das erst spät getan. Erst 1981 wurde die nationale Vereinigung Svenska Tornedalingars Riksförbund gegründet. Es gibt eine kollektive Bewusstseinsbildung, aber sie ist noch nicht abgeschlossen.

7.
MARJA: Lange Zeit lag das Winterland der Sámi aus Kautokeino tief im finnischen Inland. Doch um 1850, als Finnland noch zu Russland gehörte, wurde die Grenze zwischen Norwegen und Finnland geschlossen. Um die Winterweiden weiter nutzen zu können, ließen sich viele Kautokeino-Sámi in Karesuando in Schweden ins Melderegister eintragen, denn die schwedische Grenze zu Finnland war ja weiterhin offen. So wurden sie schwedische Sámi und konnten die gleichen Winterweiden benutzen wie zuvor.

Im Laufe der Jahre sind viele Sámi gezwungen worden, drei verschiedenen Nationen anzugehören und damit dreimal Steuern für die Nutzung des Landes zu bezahlen. Die Grenzen der Nationalstaaten haben nie Rücksicht auf die Sámi genommen. Doch dann schloss Russland 1889 auch die schwedisch-finnische Grenze. Plötzlich wurde es eng auf schwedischem Boden. Einige Familien kehrten nach Kautokeino zurück, andere zogen nach Karesuando und Jukkasjärvi. Dadurch wuchs die Anzahl der Rentiere in dem Gebiet beträchtlich. Als man auch die Grenze zwischen Schweden und Norwegen schloss und damit eine Rückkehr zu den Sommerweideflächen an der norwegischen Küste verhinderte, beschloss der schwedische Staat, mit Zwangsumsiedelungen von Sámi zu beginnen. Auch meine Familie war betroffen.

8.
MARJA: Großmutter wurde 1894 geboren. Großvater und sie hatten neun Kinder, eines davon war mein Vater, geboren 1918. Er war acht Jahre alt, als sie gezwungen wurden, von Övre Soppero nach Gällivare umzusiedeln. Dort blieben sie fünf Jahre.

Dann sagte der Staat, sie dürften dort auch nicht bleiben, und zwangen sie zur Umsiedelung nach Ammarnäs in Västerbotten, in umesámisches Gebiet.

Als sie dort ankamen, waren sie bettelarm. Rentiere kehren immer dorthin zurück, wo sie geboren wurden, und viele von ihnen liefen unterwegs davon, sodass meinen Großeltern nur noch wenige blieben, als sie in Ammarnäs ankamen. Die Rentierzüchter kannten die Gegend nicht, und es gab keine Karten und natürlich auch kein GPS. Es war unmöglich, die verlorenen Tiere wiederzufinden. Mein Vater hatte in seiner Kindheit Sámisch gesprochen, bis man ihn in der Nomadenschule wegen seiner fehlenden Schwedischkenntnisse schlecht behandelte. Daher wollte er, dass seine Kinder richtig Schwedisch lernten. Mit seiner Mutter und seinen Geschwistern sprach er zwar Sámisch, ich wuchs also mit dem Klang dieser Sprache auf. Doch mit meinem Bruder und mir sprach er nur Schwedisch. Er erkrankte früh an Alzheimer ‒ ich war etwa zwölf ‒ und vergaß die schwedische Sprache völlig. Deshalb konnten wir in den letzten Jahren, als er im Pflegeheim war, nicht mehr miteinander kommunizieren. Wir verstanden einander überhaupt nicht, vom Personal konnte niemand Sámisch, lediglich sein Bruder und seine Schwester waren in der Lage, mit ihm zu sprechen, wenn sie ihn besuchten. Seine letzten Jahre verbrachte er eingesperrt in einen stillen Käfig, und er starb, als ich 16 war. Seither habe ich immer den Wunsch verspürt, die sámische Sprache wieder in mein Leben zu holen, und es schließlich auch getan. Heute würde ich mit ihm sprechen können. Ich habe ein Interview mit meinem Großvater aus dem Jahr 1952 auf Sámisch gefunden. Darin berichtete er von den Zwangsumsiedelungen und wie es ihnen damals ergangen ist. Ist es nicht wunderbar, dass ich jetzt verstehe, was er sagt? Wenn eine Sprache verloren geht, verschwindet so viel Wissen! Inzwischen unterrichte ich Sámisch an der Sámischen Hochschule in Kautokeino. Die Hälfte der Studierenden sind Nicht-Sámi aus der ganzen Welt, die Sámisch lernen möchten. Der Rest sind Menschen wie ich, die die Sprache verloren haben und sie wieder lernen möchten.

MALIN: Was passiert, wenn sámische und nicht-sámische Studierende aufeinandertreffen?

MARJA: Die Studierenden aus Japan und den USA sprechen sofort los, sie haben keine Hemmungen und keine Angst, die Worte im Unterricht falsch auszusprechen. Doch die Sámi, die zwar in der Grundschule Sámisch als Zweitsprache hatten, es aber trotzdem nicht können, brechen regelrecht zusammen. Manchmal bin ich nicht nur Sprachlehrerin, sondern auch Psychologin. Sie stellen so hohe Anforderungen an sich selbst, sofort fließend sprechen zu können. Wenn man Sámi ist, „sollte“ man die Sprache können. Es ist traurig und frustrierend, das mitzuerleben.

9.
LARS: Ich habe begriffen […], welche Bedeutung das Jahr 1809 für mich hat und wie sehr ich den Kompass meines Lebens nach dieser Jahreszahl ausgerichtet habe. Oberflächlich wissen wir, was passiert ist. Es war das Jahr, in dem der russische Zar Schweden entlang des Torneälven geteilt hat. Was ich selbst lange nicht verstanden habe: Es war auch das Jahr, in dem meine große Sehnsucht geboren wurde. Diese Teilung entlang des blutenden schwarzen Flusses und die Unfähigkeit, sie zu überwinden, dieses Gefühl begleitet mich, solange ich denken kann. Es war das Jahr, in dem ich einen Großteil meiner Kultur und meiner Sprache verlor ‒ Dinge, die ich auch nie wieder vollständig zurückerlangen werde.

10.
LARS: Ich war vier Jahre alt, als wir in den 1950er-Jahren aus meinem Geburtsort, dem finnischsprachigen Vittangi, nach Överkalix zogen, einem schwedischsprachigen Dorf südlich der Sprachgrenze. Meine Mutter war Lehrerin und hatte immer lange Sommerferien, daher pendelten wir in meiner Kindheit zwischen einem schwedisch- und einem finnischsprachigen Ort. Meine Großeltern sprachen nur Meänkieli. Für mich war es jedes Mal eine Reise in die Vergangenheit, wenn wir zu ihnen nach Lainio fuhren. Ich stieg aus dem Auto und war in einer anderen Welt. Eine Wiedervereinigung mit der nahen Verwandtschaft, und das jeden Sommer. Lainio liegt abgelegen, die Straße, 1927 erbaut, endet dort, und bevor es sie gab, musste man auf schmalen Stegen über das Moor gehen, dreißig Kilometer bis zur nächsten Ortschaft Vittangi. Es gab nicht nur sprachliche, sondern auch kulturelle Unterschiede. Diese Welt war viel archaischer. Dort gab es immer noch kleine landwirtschaftliche Betriebe, Kühe, alle arbeiteten zusammen, machten Heu, wir Kinder halfen mit, die Erwachsenen stakten in Holznachen auf dem Lainio-Fluss, um Heu zu mähen, das wir auf Heureuter hängten. Eine Kultur, die meine war, wenngleich sprachlich nur zum Teil. In diesen Sommerurlauben lernte ich Finnisch. Meine Eltern sprachen kein Finnisch mit mir, daher hatte ich nicht die Sprachkenntnisse, um mich mit meinen Großeltern wortgewandt zu unterhalten. Es gab zwar eine emotionale Bindung zwischen uns, aber keine gemeinsame Sprache. Inzwischen hat diese Sehnsucht in mir nachgelassen, viele der älteren Verwandten leben nicht mehr. Mittlerweile ist es eher eine Art Trauer darüber, dass die Gegend dort ausstirbt. Das Dorf aus meiner Kindheit gibt es heute nicht mehr.

11.
ADAM: Heute wiederholt sich die Geschichte in Tornio. Es ist Oktober 2015. Vor mehr als hundert Jahren, bevor Finnland 1917 unabhängig wurde, waren in Tornio Russen stationiert, und sie hatten ihr Hauptquartier in dem Gebäude, das Sie dort drüben sehen können. Jetzt wohnen in den Schulräumen Geflüchtete auf Matratzenlagern. Vor ein paar Wochen, als die Flüchtlingsströme zunahmen, hat es uns kalt erwischt. Es sind vor allem Iraker, die über das schwedische Haparanda mit Zügen, Regionalbahnen und Bussen ins finnische Tornio kommen. Ein paar Wochen später wurden Grenzkontrollen eingerichtet.

Sie werden feststellen, dass es auf der Europastraße E4 nicht länger zwei Spuren aus Finnland nach Schweden gibt. Der finnische Zoll und die Grenzpolizei haben eine Spur gesperrt. Sie sind seit ein paar Wochen dort postiert. Wehrpflichtige wurden zur Verwaltung der sogenannten Flüchtlingsschleuse hierher versetzt, einer Einrichtung, in der die Geflüchteten einen Tag verbringen, bevor sie registriert und zu den Asylunterkünften gebracht werden. Sie hat sich zu einem Flaschenhals entwickelt, weil es nicht möglich ist, alle unterzubringen. Seit Schweden und Finnland zur EU gehören, gibt es eigentlich keine Grenze mehr, Tornio und Haparanda bilden eine große Stadt. Die meisten von uns empfinden es als Eingriff in die Privatsphäre, dass wir plötzlich mit Zollbeamten sprechen und uns unter die Lupe nehmen lassen müssen, wenn wir auf die andere Seite möchten.

ICH: Wirst du jedes Mal angehalten?

ADAM: Nicht mehr. In erster Linie machen sie eine Art ethnisches Profiling.

12.
ADAM: Meine Laien-Theatergruppe probt gerade ein Stück, das von der Zeit handelt, als während des Ersten Weltkriegs Flüchtlinge hierher kamen. Es ist von Per Allan Olsson und heißt ‚En enkel över Haparanda‘ (deutsch: ‚Einmal hin über Haparanda‘). Weil Schweden im Krieg neutral war, musste das Land sich um die Transporte von Kriegsinvaliden unter anderem aus Sibirien kümmern. Diese fuhren mit dem Zug nach Haparanda und von dort weiter in ihre Heimatländer. Alle kamen hier durch dieses Nadelöhr.

Mein Freund Ahmed Zia, ein Geflüchteter aus Afghanistan, spielt die Hauptrolle des deutschen Soldaten Rainer. Diese Figur verkörpert die dramatische Zusammenfassung vieler Schicksale der damaligen Zeit. Rainer wird in den 1890er-Jahren geboren, einer Zeit, in der sich überall nationale Strömungen ausbreiten, die Gott, den Kaiser und das Vaterland als Ideale hochhalten. Doch bereits bei seiner ersten Schlacht wird er gefangen genommen und verwundet. Rainer erhält Hilfe von Schweden, um über Tornio und Haparanda nach Hause zu fahren. Sein Nachname Schiel ist der Name einer real existierenden Person, die die Rot-Kreuz-Mitarbeiterin Anna in einem Gefangenenlager in Tschita im Süden Sibiriens getroffen hat.

13.
AHMAD ZIA: In Afghanistan herrschten Krieg und große Unsicherheit. Wir wurden ständig von verschiedenen Terroristengruppen bedroht, Menschen wurden getötet. In der Zeit kurz bevor wir flüchteten, war es wirklich schrecklich, wie heißt das noch, das Gegenteil von gut? Schlimm. Wir hatten Angst. Mein Vater wurde ermordet. Es war Krieg in Ghazni, meiner Stadt. Es ist nicht leicht, das zu erklären. Man muss es erlebt haben, um es zu verstehen. Wir flüchteten, als mein Vater ermordet wurde. Meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich blieben im Iran, während mein Bruder, der damals 14 war, nach Schweden floh. Er ging zuerst nach Pakistan und von dort aus weiter in die Türkei, nach Griechenland und Ungarn. Ich weiß nicht genau, wie er es gemacht hat. ‚Ich will mich nicht an die abscheulichen Details erinnern …‘ Diese Worte sind ein Auszug aus dem Stück, in dem ich mitspiele. Rainer hat sie gesagt. Meine Rolle kommt meinem realen Leben sehr nah. Es hat mir sehr geholfen, meinen Text auf Schwedisch zu lernen. Vier Jahre nach meinem Bruder kamen wir über ein Angehörigenvisum nach Schweden. Das war vor fast einem Jahr, am 3. Dezember 2014. Ich habe mich zwischen Schweden und Finnland bewegt wie jeder andere auch. Doch seit die Grenzkontrollen errichtet wurden, muss ich jedes Mal, wenn ich über die Grenze will, meinen Pass und meine Aufenthaltsgenehmigung vorzeigen. Die Polizei hält nicht alle an, nur bestimmte Menschen, die mit schwarzen Haaren. Sie fragen mich „Papiere, Papiere?“ Ich zeige ihnen meinen schwedischen Ausweis und mein Visum, doch das reicht ihnen nicht, sie wollen Papiere sehen. Die Polizisten können nur Finnisch, kaum Englisch oder Schwedisch, daher gibt es schnell Missverständnisse. Man sollte sich doch sicher fühlen können, wenn man neben einem Polizisten steht. Ich lebe auf der schwedischen Seite und fahre häufig nach Finnland ins Einkaufszentrum, ich habe dort auch Freunde, wir spielen in Tornio Theater … aber manchmal fahre ich gar nicht erst los, weil alles so umständlich und unangenehm ist.

14.
RISTEN: Der Raufußbussard / erzählt / Ich bin / Der / den ich / fürchte / die Fremden

15.
ADAM: Hier in Tornio gab es eine Anti-Flüchtlings-Demo von Faschisten.

An dem Protestzug haben sich etwa 200 Personen beteiligt, die meisten waren nicht von hier, sondern kamen aus anderen Landesteilen. Das konnten wir nicht zulassen. Deshalb organisierten wir eine Gegendemonstration. Hinterher lasen wir in Facebook-Gruppen, dass die Faschisten zwei Wochen später wieder demonstrieren wollten. Für das zweite Mal hatten sie viele Menschen mobilisiert, einige reisten sogar aus Tampere an. Doch es waren auch mehr Menschen hier aus der Gegend dabei. Wir standen mit dem Rücken zu ihnen, als sie vorbeizogen. Es klang wie ein ganzes Eishockey-Stadion, als sie „Schließt die Grenzen!“ skandierten. Während wir dort standen, kamen mir erschreckende Assoziationen in den Sinn, ein allzu deutliches Bild von Stiefelgetrampel und Faschismus. Ich sah einen flüchtigen Bekannten, der versuchte, mich zum Mitgehen zu bewegen, als er mich entdeckte. Ich antwortete: „Ich kenne dich nicht mehr.“ Dann sah ich aus der Ferne einen Freund von mir, da fluchte ich innerlich: „Nicht du auch noch!“

16.
MARJA: Vor ein paar Jahren sah eine meiner ältesten Tanten eine Sendung über die Geflüchteten, die derzeit nach Schweden kommen. Sie konnte nicht anders, begann zu weinen. Denn sie erinnerte sich daran, wie hart es war, umsiedeln zu müssen und an einen neuen Ort zu kommen, wo man nicht willkommen war. Wie es sich angefühlt hatte, Verwandte und Freunde zurückzulassen, die Sprache nicht zu beherrschen, nicht mehr das Gefühl zu haben, dazuzugehören.

Jedes Jahr nahmen ihre Eltern den Zug nach Soppero, um die Verwandten zu besuchen. Den Rest des Jahres waren sie traurig und hatten Heimweh.

17.
RAWDNA CARITA: du fängst das Licht ein / dort, wo du stehst / allein

18.
MALIN: Rawdna, wenn ich deine Erzählung „Grense“ lese1, kann ich nicht anders, als an die Millionen Kinder und ihre Familien zu denken, die sich auf der Flucht in Bussen und Zügen verstecken und Europa zu Fuß durchqueren. Ich denke an den Absatz, in dem es um das Insektenweibchen geht. In meiner Interpretation verkörpert es zusammen mit dem Schwarm den Krieg. Das Riesenheuschreckenweibchen mit seinem Maul. Und mit diesem Grinsen.

Nach ihr kommen die anderen. Sie fressen sich immer weiter vor, Stück für Stück. Riesige, grauenhafte grüne Schwärme, die auf ihrem Weg zum Ich die Landschaft abnagen und vernichten. Sie, das Ich, weiß nicht, was es tun soll. Und die Kleinen schlafen. Ich erinnere mich, dass ich bei diesem kurzen Satz stockte und erstaunt war angesichts der Verletzlichkeit, des Ausgeliefertseins, der Gewalt in diesen wenigen Worten: „Die Kleinen schlafen“.

RAWDNA: Dies ist ihr Zuhause. Warum können sie sie nicht in Ruhe lassen? Es geht um all das, was eine Mutter tut, um die Welt in Ordnung zu bringen, um ihre Kinder zu beschützen. Sie verjagt alle, die ihre Grenzen überschreiten. Diejenigen, die versuchen, Menschen ihr Eigentum wegzunehmen. Zum Beispiel ihr Zuhause. Hoffentlich wachen die Kleinen nicht auf! Mögen sie schlafen, bis alles vorbei ist.

MALIN: Und nach dem Chaos, dem Bangen, der Entscheidung, nicht aufzugeben, sondern weiterzukämpfen, endet die Erzählung mit dem Satz: „Mama ist zu Hause.“ Was sind das für Grenzen, die du da beschreibst?

RAWDNA: Du bist die Mutter von kleinen Kindern, die ganz unschuldig schlafen, du bist für ihre Zukunft verantwortlich, und gleichzeitig bist du in etwas involviert, das dich fast in den Wahnsinn treibt, das sich deiner Kontrolle entzieht. Ein Druck von außen, von der Gesellschaft, den du schließlich zu überwinden beschließt. Denn die Bedrohung ist nicht abzuwenden. Doch zugleich ist da die ganze Zeit dieser Gedanke: Die Kinder schlafen. Du erinnerst dich. Die Frau in der Geschichte stürzt mit dem Gewehr los, findet aber schließlich doch in ihrem Inneren einen Ort, an dem sie sagen kann: Zum Teufel mit all dem. Sie nimmt sich zurück, damit sie wieder zu den schlafenden Kindern gehen kann. Denn das muss sie: zu ihnen zurückkehren.

19.
MALIN: Wie würdest du die Landesgrenzen hier in dieser Gegend beschreiben?

NIKO: Sie sind nicht mehr als eine trostlose Zollstation in der Tundra. Ich denke nie über die Grenzen nach, weil ich sie die ganze Zeit überquere, nach Enontekiö in Finnland, wo ich aufgewachsen bin, nach Kautokeino, wo ich 20 Jahre gelebt habe, bis ich Ida traf und wir nach Oslo zogen. Es gibt da ein Haus, das einst meinem Patenonkel gehörte, dem Dichter Nils Aslak Valkeapää. Es steht in Lyngen, einem Gebiet, in das die Rentiere meiner Familie auf die Sommerweiden zogen. Inzwischen kommt die Familie nur noch selten dorthin, weil die Grenze zwischen Norwegen und Finnland für die Rentierwanderungen geschlossen wurde.

Und was dort passierte, oder vielmehr was ich fühlte, als ich als Erwachsener zum ersten Mal dorthin kam, war wirklich seltsam. Vielleicht verhält es sich bei Menschen ähnlich wie bei Walen, vielleicht reagiert der Körper auf Magnetfelder in der Erdkruste, vielleicht fühlt man sich deshalb an einem Ort zu Hause, an dem man noch nie gewesen ist, von dem man lediglich weiß, dass er Heimat ist. Eine Art Reaktion des Körpers auf die Landschaft.

20.
MALIN: Der Raufußbussard. Was bedeutet das Gedicht?

RISTEN: Die Sámi haben sich immer danach richten müssen, was die Nationalstaaten beschlossen haben. Die Gebiete sind kleiner geworden, wir Sámi haben uns so weit wie möglich nach Norden zurückgezogen. Jetzt geht es nicht weiter, denn da kommt nur noch das Eismeer. Die Sámi haben immer in der Natur gelesen und die dabei gewonnenen Informationen genutzt. Tiere warnen auf unterschiedliche Art vor Gefahren. Der Raufußbussard gibt Laute von sich. Historisch betrachtet haben die Sámi immer Angst vor dem Unbekannten gehabt. Ich fürchte, wie der Raufußbussard, das, was von außen kommt. Denn was von außen kommt, hat für uns Sámi selten etwas Gutes bedeutet. Da sehe ich zum Beispiel Gemeinsamkeiten mit der Geschichte der Roma.

Der Staat war schon immer darauf bedacht, dass diejenigen, die hierher kommen, die norwegische Sprache und Kultur lernen; es geht darum, sie schnell zu assimilieren, so als wäre die Politik der Norwegisierung noch lebendig. Die Angst ist groß, dass die Einwanderer hier zu viel von ihrer Kultur beibehalten. Da sehe ich Parallelen zu dem, was in Sápmi geschehen ist.

Stimmen
BJÖRK, Musikerin und Schauspielerin
MIKAEL NIEMI, Schriftsteller, lebt in Pajala, Schweden.
MARJA SKUM, Sprachwissenschaftlerin und Rentierzüchterin, arbeitet in Ammarnäs, Schweden und Kautokeino, Norwegen.
ADAM HUUVA, Übersetzer und Mitarbeiter des Tornedalen-Museums in Tornio, arbeitet in Tornio, Finnland, und Haparanda, Schweden.
AHMAD ZIA GUHARI, Student, Haparanda, Schweden.
RISTEN SOKKI, Dichterin und Lehrerin, lebt in Kautokeino, Norwegen.
LARS ELENIUS, Professor für Geschichte, mit Sitz in Luleå, Schweden.
RAWDNA CARITA EIRA, Dichterin und Dramatikerin, lebt in Kautokeino, Norwegen.
NIKO VALKEAPÄÄ, Musiker, lebt in Tromsø, Norwegen.
MALIN NORD, Autorin dieses Textes, lebt in Stockholm und in Jämtland, Schweden.

Zitate:
1: Aus dem Lied Hunter, auf dem Album Homogenic, 1997.
2, 14: Aus der Gedichtsammlung Bonán bonán soga suonaid / Jeg tvinner slektas sener, 1996.
5, 9: Aus dem Essay „Det förbjudna finska språket – språkpolitik och kulturell revitalisering i Tornedalen», veröffentlicht in der Zeitschrift Provins Nr. 4, 2002
17: Aus der Gedichtsammlung ruohta muzetbeal lji ruohta / løp svartøre løp, 2011.

Anmerkungen

1 veröffentlicht in Gába (Nr.1-2, 1998)
Die Nr. 18 wurde bereits in der Zeitschrift 10-tal, Nr. 21-22, 2015, veröffentlicht.