Das Land, das nicht ist

Translated from Russian by Christine Hengevoß
Also available in Russian: СТРАНА, КОТОРОЙ НЕТ
 

Ich sehne mich nach dem Land das nicht ist –
des Verlangens nach allem was ist bin ich müde

Edith Södergran

Dichter verfügen über zwei Besonderheiten: Sie sagen, ob sie wollen oder nicht, die Wahrheit und sie sagen die Zukunft voraus. Als die in Petersburg geborene finnische Dichterin Edith Södergran (1892 – 1923), die schwedisch schrieb und die letzten Jahre ihres kurzen Lebens in Karelien verbrachte, diese ganz und gar symbolistischen Zeilen schuf, konnte sie wohl kaum ahnen, wie real die Vergeltung für das Gesagte sein würde: die Geschichte verfügte, sowohl den Namen des Ortes, in dem sie gelebt hatte, als auch den Friedhof, auf dem sie begraben worden war, vom Antlitz der Erde zu löschen.

Raivola, Kivennavan kunta, Äyräpään kihlakunta, Viipurin lääni.
Roschtschino, Rajon Wyborg, Oblast Leningrad.

In der Tat: Gibt es in Europa ein weiteres Land, dessen Name für völlig verschiedene Territorien steht, wenn verschiedene Menschen ihn aussprechen, dessen Dialekte von unterschiedlichen Sprachwissenschaftlern unterschiedlichen Sprachen zugeordnet werden, und dessen Gestalt so schwer zu fassen ist?

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Zum historischen Finnland gehören drei Landschaften: der Südwesten des Landes, das Eigentliche Finnland (finn. Varsinais-Suomi, schwed. Finland), der zentrale Teil, Häme (finn. Häme, schwed. Tavastland), sowie der Südosten des Landes, Karelien (finn. Karjala, schwed. Karelen). Der Verlauf der historischen Ereignisse wäre überschaubarer und herkömmlicher gewesen, wenn die sozialökonomische Entwicklung der Finnen (wie auch aller anderen finno-ugrischen Völker vom Baltikum bis zum Ural) im Vergleich zu der ihrer Nachbarn (der Skandinavier und der Slawen) nicht zurückgeblieben wäre. Und so kam es, dass die Slawen die Osteuropäischen Ebene erschlossen, die Wikinger entlang der Wasserwege expandierten und von der geschlossenen Besiedelung durch finno-ugrische Stämme heute nur noch kleine, sich mit jedem Jahrzehnt weiter auflösende Inseln übriggeblieben sind.

Ausgerechet Karelien war es beschieden, zu jenem Grenzgebiet zu werden, in dem skandinavische und slawische Wellen mehrfach aufeinander stießen, und jeder Zusammenstoß zerstückelte das Land durch neue Ordnungen, neue Grenzen, die Flucht einstiger und Ansiedlung neuer Bewohner. Verstärkt wurden die Konfrontationen durch den Konfessionskonflikt zwischen dem orthodoxen Glauben und dem Katholizismus, später dem Protestantismus. Die finnische Nation und die finnische (Literatur-)Sprache, die sich erst im 19. Jahrhundert herausbildeten, umfassten lediglich jene Territorien, die zuvor von den Schweden, später dann vom schwedischsprachigen Adel des Russland unterstellten Protektorats - des Großfürstentums Finnland - kontrolliert worden waren; aus deren Sicht aber war Karelien nur das Gouvernement Wyborg, dessen Bevölkerung zu großen Teilen bereits im 17. Jahrhundert auf der Flucht vor der schwedischen Herrschaft und dem Druck der Lutheraner ins Innere Russlands emigriert und von Umsiedlern aus Häme abgelöst worden war. In den dichten Wäldern nördlich von Twer stellten die emigrierten Karelen in einigen Landkreisen (Ujesden) bis zur Hälfte der Bevölkerung und fanden so eine neue Heimat – Twer-Karelien, wo sie sich allmählich mit den russischen Bauern vermischten und nach und nach deren Sprache übernahmen. In den Jahren 1937 – 1939 wurde hier sogar der Karelische Nationale Okrug geschaffen, den man allerdings später offenbar als einen der „Auswüchse“ der sowjetischen Nationalitätenpolitik einstufte.

Mit dem Aufkommen der Fennomanie, eines Kults alles Finnischen innerhalb der (wie paradox dies auch sein mochte) schwedischsprachigen Adels- und Bürgertumskreise, entdeckte die nationale Romantik für sich, und in der Folge auch für die Weltkultur, das finnische Epos Kalevala, eines der archaischsten in Europa, dessen Überbleibsel jedoch größtenteils nicht in Finnland überlebt hatten, sondern im russischen Gouvernement Archangelsk (Weißkarelien / Vienan Karjala - also in den heutigen nördlichen Rajons der Republik Karelien). Die unberührte Welt der Jäger und Fischer mit Anfängen des Ackerbaus war für die Helsingforser Intellektuellen, Dichter und Künstler eine Art lebendiges Troja, und so nannte man den Stil der frühen finnischen Moderne Karelianismus.

Im Übrigen lagen soziokulturelle Welten zwischen dem Traum von einem Großfinnland von der Ostsee bis zur Nördlichen Dwina und der Realität des patriarchalischen bäuerlichen Lebens auf der russischen Seite der Grenze. Zu jener Zeit waren die Ufer der Waldflüsse und -seen noch flächendeckend von einer finno-ugrischsprachigen Bevölkerung besiedelt, doch je weiter man nach Süden kam, desto exotischer und ferner jeglicher gesamtfinnischer Normen waren die regionalen Dialekte. Hier nannten sich die Menschen nicht mehr Karelier; im Ladoga-Gebiet hießen sie Livvier (livgiläizet, namentlich verwandt mit den Ureinwohnern Lettlands, den Liven), am Onegasee Lüdier (lyydilaižed, eine Bezeichnung, die auf das slawische Ljudi – Leute – zurückgeht). Östlich davon zogen sich bis zur Küste des Weißen Meeres die Siedlungen der Wepsen (vepsläižed) hin. Im westlichen Teil des Gouvernements Petersburg lebten die christlich-orthodoxen Woten (vad'd'alaizõd, namentlich verwandt mit den nahe des Urals lebenden Wotjaken / Udmurten), die frühen christlich-orthodoxen Ingrier (inkeroiset), sehr frühe Auswanderer aus Karelien, sowie die ebenfalls aus Karelien stammenden Ingermanländer (inkeriläiset), lutherische Einwanderer, welche die Urbevölkerung zahlenmäßig um ein Vielfaches übertrafen.

Die Fennomanie aber wurde, wie alle von der Französischen Revolution und der Romantik ausgelösten gesellschaftspolitischen Bewegungen, für sie selbst überraschend zu einem jener Funken, aus denen die Kriegsbrände des 20. Jahrhunderts entfacht wurden, welche die alten Imperien des Bürger- und Junkertums vernichten und Europa zweimal in bis dahin undenkbare Katastrophen stürzen sollten.

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Von den ersten Tagen der Russischen Revolution an wurde erkennbar, dass der nationale Konflikt allmählich in einen Klassenkonflikt überging. Die Arbeiter und Knechte auf der einen, die Bauern und Landbesitzer auf der anderen Seite hatten diametral entgegengesetzte Vorstellungen darüber, was mit dem vom russischen Protektorat befreiten Land geschehen sollte. Im Ergebnis entlud sich ein Bürgerkrieg mit rotem und weißem Terror, Hungertod in weißen Konzentrationslagern, deutscher Besetzung und der Evakuierung der Überreste der Roten Armee und ihrer Familienmitglieder in die RSFSR.

Ebenso wie in Russland gab es unter den Roten nicht wenige Intellektuelle bürgerlicher Herkunft. Sie waren es, die im Land der epischen Sagenerzähler begannen, ein sozialistisches Finnland zu errichten. Dieses wurde dann im Juni 1920 unter dem Namen Karelische Arbeitskommune ausgerufen. Und wieder erwies sich nicht die nationale, sondern die Klassenfrage als das Hauptproblem: die finnischen roten Arbeiter und die karelischen Bauern waren nicht imstande, eine gemeinsame Sprache zu finden. Für erstere waren die Bauern Wilde, denen man zuerst einmal „richtig“ Finnisch beibringen und die man von der Richtigkeit der Marxschen Lehre überzeugen musste. Für letztere waren die Arbeiter ebensolche Kolonisatoren wie zuvor die Beamten des Zaren.

Unterdessen wurde die Karelische Arbeitskommune zur Karelischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik. Die in ihrer Führungsriege dominierenden finnischen Kommunisten setzten den Aufbau eines finnischen Arbeiterstaats fort. Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise begann dort die Ansiedlung von etwa sechstausend amerikanischen und kanadischen Finnen. Wie in der gesamten UdSSR fand in breitem Maße eine Politik der Verwurzelung (der Besetzung der Verwaltungsposten mit Vertretern der angestammten Bevölkerung) statt; zur Sprache der Verwaltung und Bildung wurde Finnisch deklariert, man gründete ein karelisches wissenschaftliches Forschungsinstitut und ein karelisches Lehrerbildungsinstitut, eine finnisches Theater, einen karelischen Schriftstellerverband, es mehrten sich finnischsprachige Zeitungen, Zeitschriften, Bücher.

Jedoch tickte unter dieser Republik von vornherein eine Zeitbombe. 1920 stellten die Finnen und Karelen in der Karelischen Arbeitskommune die Mehrheit der Bevölkerung (etwa sechzig Prozent), doch dann wurde ihr Territorium zum Nachteil der umliegenden Rajons vergrößert. Die Beweggründe dafür waren wirtschaftlicher (eine effizientere Verwaltungsstruktur) wie auch politischer Natur: Der finnische Patriotismus sah seine Mission in der Entkolonialisierung und Emanzipation unter anderem auch jener Bevölkerung, die sich schon seit Jahrhunderten beständig mit Russland identifiziert hatte.

Im Ergebnis dessen änderten sich zu Beginn der Dreißigerjahre die Relationen: der Anteil der Karelen, Finnen und Wepsen an der Bevölkerung betrug nunmehr vierzig Prozent. Nebenbei bemerkt, bestand die Gesamtbevölkerung der Republik 1939 aus nicht einmal einer halben Million Menschen.

Dann brachen über das Land der Große Terror 1937-1938 und der Winterkrieg gegen Finnland 1939-1940 herein. Die Roten Finnen wurden, genau wie die alten Bolschewiki in der gesamten UdSSR, Repressalien unterworfen, die Überlebenden dann später wieder befreit, um sie im Apparat der Marionettenregierung der Finnischen Demokratischen Republik oder unter der Flagge der kollaboratistischen Finnischen Volksarmee wieder einzusetzen. Der Krieg erfüllte dennoch seinen Zweck nicht: Finnland hatte zwar den größten Teil Westkareliens verloren, war aber nicht besiegt worden und hatte zudem die gesamte Bevölkerung der von Russland okkupierten Gebiete ins Landesinnere evakuiert. Ungeachtet dessen erhob man die Karelische ASSR, trotz der Unverhältnismäßigkeit der Bevölkerungszahl, unter dem Namen Karelo-Finnische Sozialistische Sowjetrepublik in den Status einer Unionsrepublik und manifestierte mit dieser Bezeichnung den Plan der Sowjetisierung Gesamtfinnlands. Dieser Republik wurde auch ein Großteil der entvölkerten Territorien angegliedert, die im Ergebnis des Krieges an die UdSSR gefallen waren.

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Der Zweite Weltkrieg fügte Karelien neue Wunden zu: Die finnische Armee besetzte den größten Teil der Karelo-Finnischen Republik einschließlich der Hauptstadt Petrosawodsk und internierte die gesamte nichtfinnische Bevölkerung in Lagern; drei Jahre später kehrte die Rote Armee zurück, worauf die Ansiedlung russischer und belorussischer Kriegsflüchtlinge in den 1940 angegliederten Territorien begann. Bald kam eine neue finno-ugrische Welle hinzu: im Zuge der Kriegshandlungen waren die Ingermanländer aus dem Gebiet Leningrad deportiert worden; nach einer Reihe ihnen zugefügter Heimsuchungen erlaubte man ihnen nunmehr, in der „Bruderrepublik“ zu siedeln.

1956 aber, als die anderen Republiken von „Tauwetterstimmung“ beseelt waren, wurde die Karelo-Finnische Republik im Rahmen einer sowjetisch-finnischen Vereinbarung aufgelöst. Nachdem Karelien in den Status einer autonomen Republik zurückgekehrt war, verlor es entgültig sein ethnisches Antlitz. Nunmehr betrug der Anteil der Karelen dreizehn, der Finnen vier und der Wepsen ein Prozent der Bevölkerung, und die Assimilation schritt in Windeseile voran. Die Sprachenfrage wurde letztlich nicht gelöst: Man schaffte Finnisch als Amtssprache ab, und für die karelischen Dialekte wurde gar nicht erst eine Schriftsprache geschaffen. Eine Weitergabe der finnischen Sprache und der karelischen Dialekte durch Eltern an ihre Kinder fand de facto nicht mehr statt. In diesem Schwebezustand existierte die Republik noch weitere 30 Jahre, bis die Sowjetunion zusammenbrach und die finnische (nicht aber die karelische) Bevölkerung gemeinsam mit den russischen Ehepartnern und Kindern das Recht auf Repatriierung erhielt. In der „historischen Heimat“ aber fanden sie sich in einer prekären Lage wieder, denn sie waren nicht vor dem „russischen Imperialismus“ geflohen, sondern vor dem Elend der Neunzigerjahre, und sie brachten nicht die Archaik des Karelianismus mit sich, sondern die bei ihren fernen Verwandten verpönte „sowjetische Lebensweise“.

Genau zu jener Zeit flammte für einen kurzen Moment die sogenannte „Karelische Renaissance“ auf, eine Nebenströmung der gesamten finno-ugrischen Bewegung, die auch Mordwinien, Mari El, Udmurtien und die Republik Komi erfasst hatte. Allerdings gab es laut der letzten Volkszählung 2010 in Mordwinien und Mari El jeweils 300.000 Mordwinen respektive Mari (also je vierzig Prozent), in Udmurtien lebten 400.000 Udmurten (dreißig Prozent), in der Republik Komi 200.000 Komi (fünfundzwanzig Prozent), während es in Karelien etwas mehr als 50.000 Finnen, Karelen und Wepsen gab (zehn Prozent), von denen weniger als die Hälfte ihre Muttersprache beherrschten. Für eine „Wiedergeburt“ fehlte demnach die „materielle Basis“.

Im Übrigen kam es auch bei den anderen Finno-Ugriern zu keinerlei „Renaissance“, obwohl das Putinregime sogar einige Zugeständnisse machte, wie zum Beispiel den Pflichtunterricht in regionalen Amtssprachen an allen Schultypen. Die Ursache dafür lag nicht nur in der zahlenmäßig geringen Bevölkerung. Das Problem war hier das Wesen des Nationalismus, der erst zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts auf der internationalen Arena erschienen war, das heißt gleichzeitig mit dem Kapitalismus. Anfänglich war das nationalstaatliche Prinzip auf die Überwindung des feudalstaatlichen Systems gerichtet, während Volksstämme, die auf einer vorstaatlichen Entwicklungsstufe standen, nicht einmal gemeingültige Eigenbezeichnungen besaßen. In der Folge entwickelten sich innerhalb der nationalen Bewegungen die nationalen Bourgeoisien und mit ihnen der kulturelle Überbau in Form von Nationalsprachen, historischen Narrativen und dem künstlerischen Ausdruck des „nationalen Geistes“ in Literatur, Musik und bildender Kunst.

Doch erwies sich der Kapitalismus als überlebensfähiger als die Bourgeoisie. Mit dem Übergang vom Imperialismus zum Globalismus bewies der traditionelle bürgerliche Habitus mit seiner äußerst kostenintensiven „hohen Kultur“ seine völlige Unrentabilität und wurde von neuen Strategien der Kontrolle über die Gesellschaft verdrängt. Plötzlich stand der Lokalismus auf der Tagesordnung, der keine universalistischen Ansprüche stellt und daher weniger kostenintensiv, dafür aber außerordentlich effektiv bei der Verringerung sozialer Spannungen ist (was ihn mit den Subkulturen der Jugend verbindet).

Um das bürgerliche Konzept zu verwirklichen, war es einst notwendig gewesen, tribalistische Vorurteile und Ansprüche zu überwinden, einen sprachlichen Standard zu entwickeln, der für alle Sprachträger mit ihren verschiedenen, teils sehr unterschiedlichen Dialekten gleichermaßen annehmbar war, eine „nationale Idee“ zu erfinden und dank den Bemühungen der Befürworter dieser Idee die Stellung des Standards zu heben.

Es folgte der Kampf für die Nationalstaatlichkeit um den Preis des Lebens vieler, die an diese Idee geglaubt hatten, und schließlich die Schaffung eines Staates mit allen dazugehörigen ideologischen Institutionen in Form von Universitäten, eines Netzes von Gymnasien und Schulen, in denen der Unterricht in der Standardsprache erfolgte, Schauspiel- und Operntheatern, eines Sinfonieorchesters und eines Museums der schönen Künste, wie auch die Gründung eines Übersetzerinstituts, um die klassische Weltliteratur in die neuetablierte Standardsprache zu übersetzen. Diese Errungenschaften prägten das finnische Leben zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, und diese (wenn auch unbewusste) Sichtweise hatten auch die aus dem Bürgertum gekommenen Führer der „roten Finnen“ mit der Muttermilch aufgesogen; diese Errungenschaften meinte auch Lenin, wenn er „lernen, lernen und nochmals lernen“ propagierte und somit die Möglichkeit einer speziellen proletarischen Kultur ablehnte.

Der durch den Globalismus stimulierte Lokalismus aber ist zum Totengräber sowohl des national-bürgerlichen Konzepts als auch seiner kulturellen Einrichtungen berufen: Der Durchschnittsbürger ist korrumpiert und verdorben von der fehlenden Notwendigkeit, eine kostenspielige Allgemeinbildung zu erwerben; er kann sich in den sozialen Netzwerken nach seinen selbstgeschaffenen Regeln in seinem eigenen dörflichen Dialekt verbreiten. Die Zerstörung der akademischen Autorität verwandelt den historischen Narrativ in den freien Flug der Fantasien ungebildeter Träumer, die nur auf Vergnügungen aus sind. Der Zusammenbruch des literarischen Kanons führt zur Herabwürdigung der Übersetzungskunst, zur Vervielfältigung von Bestsellern nach ausnahmslos kommerziellen Gesichtspunkten.

Und genau dem entsprach die hiesige finno-ugrische Auslegung des lokalistischen Kulturmodells der 1990er und 2000er Jahre, die den ziemlich widersinnigen Namen Ethnofuturismus trägt. Mit nur sehr wenigen Ausnahmen wurde den Ausländern auf den Schriftstellerkongressen das Volkskunstschaffen in Dialekten demonstriert; niemand verständigte sich mit irgend jemandem über irgend etwas oder lernte etwas hinzu: Indem sie untereinander um Privilegien wetteiferten, verspielten die ethnischen Gruppen ihre letzte Chance einer wie auch immer gearteten Zukunft – mit Ausnahme der Chance auf Aufbewahrung von Ergebnissen archäologischer Ausgrabungen und von Unterlagen dialektologischer und folkloristischer Expeditionen in den Archiven. Eine weitere gebürtige Karelierin, die finnischsprachige Dichterin Eeva-Liisa Manner (1921–1995) schrieb:

Karelien ist gestorben, doch durch seinen Tod ist es zum Absolutum, zur Ewigkeit geworden.