Ebenen und Kanten: eine höchstpersönliche Sicht auf das historische Lettgallen

Translated by Franziska Zwerg

Lorsque son relèvement fut terminé,
le capitaine prononça ces seuls mots: »C’est ici!«
Jules Verne. Vingt mille lieues sous les mers

Obwohl es viel Leid gibt, hört das Lachen nicht auf …
Francis Murāns

1. Bereschit

99 Jahre nach der Zweiten Teilung der Rzeczpospolita kam in der Stadt Druja (Magdeburger Recht seit 1620, erteilt von Sigismund III., König von Polen und Großfürst von Litauen) mein Großvater väterlicherseits im Jahr 1892 zur Welt, auf der vertikalen Linie dieser Teilung: Druja-Pinsk-Sbrutsch.

Die erste Teilung von 1772, die entlang der Flüsse Westliche Düna, Drut und Dnjepr verlief, berührte Druja zwar, doch fiel Druja selbst, am linken Ufer der Düna gelegen, nach der Zweiten Teilung Polens an das Russische Imperium. Dreimal schnitt sich Russland ein Stück vom polnischen Kuchen ab. Zuerst ein Scheibchen westlich von Smolensk - mit Witebsk, Polazk, dem am rechten Ufer befindlichen Pridruisk (an der Druja, im heutigen Lettland - Piedruja), zusammen mit Dünaburg (Dwinsk, Daugavpils) und ganz Polnisch-Livland (Lettgallen). Der nächste Schnitt reichte von Druja hinab ​​bis an die Karpaten, und zwei Jahre später kamen auch Brest-Litowsk, Wilna (Vilnius), Kowno (Kaunas) und ganz Kurland dazu.

Somit wurde mein Großvater im Landkreis Disna des Gouvernements Wilna geboren, an der Spitze des Züngleins, mit dem das Gouvernement Wilna Witebsk berührte – also Lettgallen. Wenn ich mich nicht irre, hat es zu Beginn des letzten Jahrhunderts im Gouvernement Wilna oder im lettgallischen Teil des Gouvernements Witebsk keine Pogrome gegeben. Dünaburg, Reschiza, Ludza konnte man durchaus als jüdische Städte bezeichnen. Trotzdem ging mein Großvater nach Sankt Petersburg, besuchte die Erste Oberrealschule (1910) und anschließend die Bergbaufakultät der kurz zuvor gegründeten Sheffield University (1922). Er diente im Corps der Königlichen Ingenieure (1916-1918), der Eintrag im sowjetischen Beschäftigungsnachweisbuch dazu lautete „in den Reihen der britischen Truppen auf Befehl der Zarenregierung“. Wohl hat einer, der Anfang der 50er Jahre zusammen mit ihm im Arbeitslager Workuta gewesen war, erzählt, er habe in Lüttich seinen Namen und Nachnamen in eine Stele eingraviert gesehen, bei den „Gefallenen und Vermissten“.

Nach Worten meiner Eltern hat mein Großvater nie verheimlicht, bis zu seinem Universitätsabschluss in England gelebt zu haben. Aber was er dort tatsächlich tat, erfuhren wir ganz zufällig erst fünfzig Jahre nach seinem Tod, als ich selbst fünfzig wurde (aus dem Artikel von J. Nicholson „Die Prägung sowjetischer Fünfzigkopekenstücke in Großbritannien im Jahr 1924“; In: Neueste Geschichte Russlands. 2014. Nr. 2). 1927 kam er nach Moskau zurück und heiratete meine Großmutter, deren Mutter wiederum aus Druja stammte. Das einzige erhaltene Dokument, das belegt, dass er tatsächlich an der Grenze zwischen Belarus und Lettgallen geboren wurde, ist die vom Innenministerium der UdSSR 1954 ausgestellte Entlassungsbescheinigung aus dem Straflager.

2. E la nave va

Noch vor allen Teilungen (und sogar vor 1766) wurde an der Brücke über einen Zufluss zur Düna, dem Flüsschen Drujka, im Bezirk des späteren Ghettos auf der Ustje-Straße die Hauptsynagoge von Druja gebaut, eines der prächtigsten Barockbauten der Gegend (nicht erhalten). Man geht davon aus, dass die Synagoge, wie auch Turm und Tor des Bernhardinerklosters, von den Fürsten des Geschlechts Sapieha beim italienischen Architekten Antonio Paracca in Auftrag gegeben wurde.

Die Druja am nächsten gelegene, erste lettische Stadt an der Düna war Krāslava (zuvor Schtetl Kreslavka), in 22 Kilometer Luftlinie entfernt. In der Kirche des Hl. Ludwig von Krāslava konvertierte ich 100 Jahre nach der Geburt meines Großvaters zum Katholizismus. Die Kirche, die als Eichmaß der lettgallischen Kirchenarchitektur gilt, wurde vom Hofarchitekten des Adelsgeschlechts der Plater, Antonio Paracca errichtet (1767).

Der Lebensbeginn meines Großvaters fiel zeitlich zusammen mit dem Beginn des Dampfschiffverkehrs auf der Westlichen Düna. Aus den Erinnerungen eines Verwandten: „Bei Hochwasser im Frühjahr und hohem Wasserspiegel im Sommer verkehrten große Dampfer auf der Westlichen Düna, und am Abend legten sie auf der Ula an. Die Dampfer hatten tönende Namen: ‚Hoffnung‘, ‚Gigant‘, ‚Held‘, ‚Athlet‘, ‚Kämpfer‘, und außerdem gab es einen kleinen Dampfer mit einem bescheidenen Namen [‚Druja‘], nach dem Städtchen, das etwa hundert Werst von der Ula entfernt war. Dieser kleine Dampfer hatte es mir irgendwie besonders angetan, und wenn ich abends am Ufer der Düna war, bewunderte ich diesen Dampfer besonders. Viele Jahre später erfuhr ich, dass er, anders als die anderen Dampfer, einem Einwohner von Druja gehörte, Grigori Moreino, der ihn seiner Tochter Ljubow vermachte, die viele Jahre später meine Frau wurde - und folglich hätte dieser Dampfer zur Mitgift für mich werden können.“

Einem anderen Verwandten zufolge befand sich das für diese Schiff zuständige Kontor (das also meinem Urgroßvater gehört haben musste) in Dwinsk (Dünaburg). Nach anderen Quellen gehörte die „Druja“ zumindest zu Beginn des Jahrhunderts der Witebsker Schifffahrtsgesellschaft von S. Gindin und L. Rachmilewitsch („Russland. Eine vollständige geografische Beschreibung unseres Vaterlandes: Buch für den Haus- und Reisegebrauch für das russische Volk“; Hrsg. W.P. Semjonow-Tjan-Schanski. Bd. 9. 1905).

Druja ​​hörte als Stadt auf zu existieren, verwandelte sich in eine belorussische Gemeinde städtischen Typs und dann in eine Landwirtschaftssiedlung (sozusagen als „Know-how“ des staatlichen Programms zur „Wiederbelebung und Entwicklung des Dorfs“). Da es an einem lückenlosen Familiennarrativ fehlt, das durch zwei Kriege und Jahrzehnte grausamer Regierungsformen unterbrochen wurde, stelle ich mir die Vergangenheit lieber als eine parallel verlaufende Abfolge von Vergangenheiten vor, in denen es jeweils ein eigenes, am Drujka-Fluss gelegenes Druja gibt, und eine eigene „Druja“, die mit ihren Schaufelrädern die Westliche Düna entlangschippert, die auch Daugava heißt. Und selbstverständlich auch immer Antonio Paracca.

3. Latgola - Land der Mōra

wohl suchte ich nicht diese Breiten
berührte sie nicht mit Hand oder Lippen
liebliche Gegend, Teig duftet von Weitem
fette Erdbrocken, sahnige Pilzsuppen
dorthin hat man mich einst entsendet
glaubt‘s oder nicht - lange vorm Leben
vom Dwinsker Wasser voll Blei vergiftet
zum Glück sogar tödlich, lange vorm Sterben

Das vierzig Meter große Steinmädchen Milda im Zentrum vom Riga, ein Symbol der Freiheit, hält in ihren nach oben ausgestreckten Händen drei Sterne: Kurzeme, Vidzeme und Lettgallen. Kurzeme (Kurland) ist der Westen von Lettland, Vidzeme entsprechend das Zentrum, Lettgallen der Südosten. An das Russische Imperium waren sie als „Pferdeschwanz“ angeklebt. Ein großer Teil von Vidzeme im Bestand von Livland-Livonija kam ein halbes Jahrhundert vor Lettgallen dazu (Frieden von Nystad). Aber wichtig ist auch, dass Lettgallen zwei Jahrhunderte nacheinander in polnischer, nicht in schwedischer Umarmung verbrachte (daher auch der Name „Inflanty“ – Polnisch-Livland). Die Reformation kam auf seinem Territorium „nicht durch“, und so geschah, was geschehen musste: Es bildete sich ein Staat im Staat; eine unendliche Abfolge von Staaten. Jeder hatte sein eigenes Lettgallen. Latgale auf Lettisch, Latgola auf Lettgallisch, Latygola auf Russisch.

Roman Jakobson (dessen Mutter übrigens aus Riga stammte, wo sein Vater am Polytechnikum studierte) betont in seiner Rezension zum Etymologischen Wörterbuch von Vasmer (frei nach A. Sobolewski): „Der kostbarste und wundertätigste Stein (Stein aller Steine) der russischen Folklore Alatyr oder Latyr stellt zweifellos die Alternante des Wortes Latygor von Latgalia dar und bedeutet ‚lettischer Stein‘, also ‚Bernstein‘.“ Im Wörterbuch indes wird das angezweifelt – ‚in Anbetracht phonetischer und anderer Umstände‘. Klar ist eins: Lettgallen war bis zu einem gewissen Grad eine Alternante zum Wort Lettland.

Das livländische Lettland hatte nie einen Zaren oder König. Einst war da Herzog Jakob von Kettler, der innerhalb von vierzig Jahren Kurland in das zu verwandeln vermochte, was es weder davor noch danach war, wie ich finde: Indem er Manufakturen errichten ließ, eine Flotte schuf und Kolonien gründete. Das Volk jedoch sehnt sich nach einem Königreich, denn anders als jede andere Macht, sei sie despotisch oder demokratisch, birgt die Königsmacht reine Himmelsmagie. Gott gibt uns Könige und verleiht ihnen Gottesgnadentum, Dei gratia. Auf seine Weise versucht der Katholizismus dabei dieses Recht auszugleichen, indem es ihm die Macht des Papstes entgegenstellt.

Lettgallen als Geschöpf, als lebendige Seele, ist in seiner eigenen Vorstellung ein Königreich. Im 13. Jahrhundert hatte es tatsächlich einen König - Wsewolod von Jersika, Vissewalde rex de Gerzika. Und es gibt eine himmlische Fürsprecherin: die Jungfrau Maria, Königin des Landes Mōra. Die jüdische Miriam, die lettgallische Mōra und die lettische Māra sind identisch. Aber die Begriffe „Land der Mōra“ und „Land der Māra“ sind nicht identisch. Māra ist die „irdische“ Göttin der Letten, die Schutzheilige der Mütter, die Hüterin der Kuh. Während sie im Westen ihre eigene Identität bewahrt hatte, erlebte sie im Osten eine typische heidnisch-christliche Transformation: Sie verschmolz mit der Mutter Christi. Mōra nennt man auch die leidgeprüfte, 11 Meter hohe Skulptur (1939/1943/1992) im Zentrum von Rēzekne - die „Alternante“ des Freiheitsdenkmals.

4. Exodus

Sicherlich wissen nur wenige, und zwar nicht nur außerhalb Deutschlands, sondern auch außerhalb Berlins, dass Berlin, wie wir es heute kennen (mit Köpenick, Charlottenburg, Spandau …) erst seit 1920 existiert. Ungefähr zum selben Zeitpunkt wurde Lettgallen der dritte Stern in Mildas Händen. Im Frühjahr 1917 wurde auf dem Ersten Kongress der Letten von Lettgallen in Reschiza-Rēzekne entschieden, dass die Letten von Lettgallen, Vidzeme und Kurzeme ein Volk sind, und dass sich Lettgallen mit den übrigen Regionen des künftigen lettischen Staates zu einem Land vereinen sollte.

Der Kongress wählte den Vorläufigen Landrat Lettgallens aus 60 Abgeordneten, davon waren 24 Sitze für Nicht-Letten reserviert. Vorsitzender wurde der Geistliche Francis Trasuns; Opponent war (zu diesem Zeitpunkt) sein zuvor leidenschaftlicher Verbündeter und Schüler, der Ingenieur Francis Kemps, Urheber des Begriffs „Latgoler“ (von Latygola, 1900) - für eine Bevölkerung von insgesamt einer halben Million. Kemps wollte die Eigenständigkeit von Lettgallen stärken, Trasuns träumte von der Eintracht aller Katholiken. Der erste Präsident Lettlands, Jānis Čakste, wird später sagen, er habe „den dritten Stern in das lettische Wappen gefügt“. Beide hatten in Sankt Petersburg studiert und gearbeitet. Für das unabhängige Lettland verteidigten sie das Recht der Minderheiten auf ihre jeweilige Sprache (erfolglos).

Die russischen Altgläubigen befürworteten ein vereintes Lettland, die Juden wollten sich nicht von der Region Witebsk lösen, Kemps Anhänger befürchteten, die Frömmler planten Lettgallen an die „Chiuli“ (baltische Letten) zu verkaufen und verließen den Kongress. Es geschah, was geschehen musste. Ende 1917 „entließ“ der Rat der Volkskommissare drei Bezirke aus der Provinz Witebsk. 1926 wurde Trasuns exkommuniziert und starb nach einem Herzinfarkt. Kemps starb 1952 in der Verbannung in Tomsk, als er seine Manuskripte aus dem Feuer retten wollte. (Nicht alle dortigen Letten waren unter Zwang nach Westsibirien gekommen: Lettische Kolonisten besiedelten traditionell den Bezirk Omsk, während die Lettgallen, die bereits bei der ersten Volkszählung von den Letten getrennt erfasst wurden, den Bezirk Tomsk bevorzugten.)

Čyuļs [Singular] heißt entweder „Garbe“ auf Lettgallisch oder „Unwissender“ auf Polnisch; andererseits bezeichnet angaļi [Plural] die Spreu beim Dreschen von Getreide. Vor etwa fünf Jahren hörte ich in der Abteilung für Staatsangehörigkeit und Migration ein Gespräch zwischen einer Mitarbeiterin und ihrer Tochter im Grundschulalter, die ihre Mutter zur Arbeit begleitet hatte:

„Mama, warum nennt man die Lettgallen
angaļi‘?“
„Weil sie so schlecht Lettisch sprechen …“

5. Lettgallische Zeit

Man geht davon aus, dass sich die ersten Juden von Lettgallen im 16. Jahrhundert in der Gegend von Kreslavka niederließen. 1729 wurden alle ihre vierzig Häuser von Graf Jan Ludwik Plater aufgekauft, und dessen Sohn Konstanty Ludwik Plater machte aus dem Schtetl das wirtschaftliche und geistliche Zentrum von Lettgallen. Die Russen waren bereits im 13. Jahrhundert nach Jersika, zu König Wsewolod gelangt, und im 17. Jahrhundert strömten Altgläubige herbei - nach Daugavpils, das zwischen Russen, Polen und Schweden schwebte, nach Jakobstadt (dem heutigen Jēkabpils) … Herzog Jakob höchstpersönlich erlaubte eine russische Ansiedlung an der Düna (und an der Grenze Lettgallens) und sprach es in einem Freibrief direkt aus: „… daher sie auch ihre Priester und Schuhldiener mit Auferbunning einer Kirche und Schulen ihrer Religion auf ihre Unkosten zu bestellen …“

Die Russen, deren Vorfahren sich vor dreihundert Jahren, noch vor der Übersetzung der Bibel ins Lettische, hier niedergelassen haben, sind heute natürlich gekränkt, dass sie nachdrücklich angehalten werden, Lettisch zu sprechen, dass ihre Kinder nicht auf Russisch unterrichtet werden dürfen. „Das Natürliche ist immer primitiv […] Der Mensch ist ein schwieriges Wesen, Natürlichkeit steht ihm nicht“, schrieben die Brüder Strugatzki. Jedoch ist das primitive Gefühl, das solche Menschen gegenüber den Behörden erfasst, das natürlichste überhaupt.

„Der Macht gehört der Moment, der Wahrheit die Ewigkeit“ (Francis Trasuns) - Inschrift auf dem Denkmal zu Ehren des 100. Jahrestages des Kongresses in Rēzekne. Auf Lettgallisch.

In Krāslava lag der Anteil jener, die dort als čigāni (цыгане, Zigeuner) bezeichnet werden, immerhin über einem Prozent. Anscheinend waren sie, die Roma, zeitgleich mit den Juden aus der Rzeczpospolita hierhergekommen. Im Zweiten Weltkrieg wurden sie gleichfalls getötet (und gleichfalls gerettet). Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn ein Nicht-Zigeuner hier anfinge, einen Zigeuner hartnäckig mit „Roma“ anzusprechen. Vermutlich bekäme er was auf die Rübe. Bei den Krāslava-čigāni gibt es mindestens zwei Kasten: schwarz und weiß. Sie unterscheiden sich in Gesichtstyp, Haltung, Sprache und selbstverständlich im Status. Wie auch in Russland bezeichnet man in Lettgallen die wenigen nichtassimilierten Kaukasier im Alltag als „Schwarze“. Dagegen sind die „NeGr“ jene, die den Ausweis eines „Nichtstaatsbürgers“ (NeGrashdanin) besitzen (Aliens Passport). Schwarze – mit schwarzer Hautfarbe – nennt man auf Russisch ebenfalls Neger, und ich sehe keinen Grund, das zu ändern: Wir haben sie nicht reihenweise erschossen und nicht mal allzu sehr auf Tabakplantagen geschunden. Allerdings erwarten den lettischen Dichter Rainis mit seinem negativen Schwarzen Ritter einige Probleme auf der internationalen Bühne.

Belorussen, Litauer, Deutsche - das ist die historische Landschaft von Lettgallen. (Die Deutschen, die vom Vaterland 1939 zurückbeordert wurden, sind eine weitere ungelesene Seite.) Enthält die lettische Zeit eine Art Konservierungsmittel? Zäh, herb; es hat einen bitteren Geschmack (Mōra, Maria, die Wurzel von Mem-Resch- heißt auf Hebräisch – „bitter sein“). Man kommt schwerlich dorthin - aber nicht, weil es an Straßen fehlte oder weil es Felsmassive, unpassierbare Flüsse oder undurchdringliche Wälder entlang der Route gäbe. Es ist schwer, weil man gute Gründe haben muss, um sich zu einem solchen Trip zu entschließen.

6. In nomine Domini

Arkadi und Boris Strugatzki habe ich nicht zufällig erwähnt. In den fernen achtziger Jahren kam Boris auf seinem Weg von Leningrad nach Litauen in Krāslava vorbei, wo er und seine Kameraden am verlassenen Ufer der Daugava Halt machten und „mehrere Tage blieben“: „Die völlige Privatheit und Menschenleere waren das Beste an diesem Ort. Doch hatten wir unweit in einem Kiefernwald das alte Fundament eines Hauses gefunden, ich vermute, es stammte aus Zeiten des bürgerlichen Lettlands. Das Fundament war dicht mit wilden Himbeeren überwachsen, und darüber flogen riesige Schwalbenschwänze von unbeschreiblicher Schönheit.“ Heute befindet sich irgendwo dort das Gästehaus Upes dižvietas (wörtlich: ‚Großartige Flussorte‘).

Im Roman „Die Wellen ersticken den Wind“ (1984), der den Zyklus „Welt des Mittags“ formal abschließt, verlegen die Strugatzkis das letzte Domizil der zentralen Figur des ganzen Zyklus‘, Leonid Gorbowski, „auf eine kleine Lichtung über einer Klippe zur Daugava“. Hier will er mit seinen mehr als hundertfünfzig Jahren sterben …

In der Nähe von Krāslava war die Daugava schmal, schnell, klar. Gelb schimmerte der Uferstreifen aus trockenem Sand, von dem ein steiler Sandhang zu den Kiefern hinaufführte. […] Gorbowskis Haus, das „Leonidsheim“, war völlig gewöhnlich, die Architektur vom Beginn des Jahrhunderts […] Dort, im Inneren, ging Gorbowskis Leben zu Ende – und eine Epoche, eine lebende Legende. Sternenfahrer. Planetenerforscher. Entdecker von Zivilisationen. […] Großvater Gorbowski … Zuallererst - Großvater Gorbowski. Genau das - Großvater Gorbowski. Wie aus einem Märchen war er: immer gut und deshalb immer im Recht. So war seine Epoche gewesen, dass Güte immer siegte. „Von allen möglichen Lösungen ist immer die gütigste zu wählen.“

… aber er stirbt nicht.

Berücksichtigt man die Gesamtauflage der Strugatzki-Bücher - mehr als vierzig Millionen in mehr als dreißig Ländern – dann gibt es wohl kaum eine bedeutendere Anbindung von Lettgallen an den Weltkulturraum. (Wie viele Kunstpostkarten mit Werken des in Dwinsk geborenen Marcus Rotkovich wohl verkauft wurden?). Aber die Strugatzkis wären nicht die Strugatzkis und hätten vermutlich auch nicht solche Auflagen erreicht, wäre dieser in seiner allumfassenden Güte schreckliche Großvater nicht einer der ambivalentesten Helden der hellen Zukunftswelt.

„So war seine Epoche gewesen …“ Was für ein Satz! Die Bitterkeit des Plusquamperfekts. Sie hat also nicht gesiegt. Hätte sie das sollen?
Πάντα ῥεῖ - zusammen mit dem schmalen, schnellen Fluss. Zwei Jahrzehnte vor den „Wellen“ hatten die Brüder in der Novelle „Es ist schwer, ein Gott zu sein“ das Symbol der Weihe, des Teilhaftigwerdens an einer neuen Religion beschrieben: den Eisenring. Wer den Eisenring trägt, ist rein vor dem Heiligen Orden. Sagt man „im Namen des Herrn“, hört man zur Antwort „in seinem Namen“ - und kann gehen. Man schwört, dem Wort des Staates zu glauben – und kann gehen. Man legt die rechte Hand mit nach innen gedrehter Faust ans Herz: „Ich bin geimpft!“, erblickt im Gegenzug dieselbe Geste – und geht hin in Frieden.

7. Wadim G., 51 Jahre, russischer Unternehmer, studierte in Moskau

„Zu einer der Gruppen, die nach Deutschland zur Arbeit deportiert wurden, kam 1942 auch mein Großvater, den Erzählungen nach ein kräftiger, ausdauernder, fröhlicher Kerl. Er war siebenunddreißig damals …

Obwohl sie sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht abgesondert haben, blieben den Altgläubigen im Osten Lettlands die Besonderheiten ihrer Vorfahren aus alter Zeit weitgehend erhalten. Auch wenn die Rechte dieser ethnischen Gruppe derzeit von den Behörden der Republik erheblich eingeschränkt werden, wobei es auch an einem ernsthaften kulturellen Austausch mit anderen Stammesangehörigen in Russland fehlt, muss die Einzigartigkeit des Ethnos’ mittelfristig dringend erhalten werden.

Würde man Lettgallen mit aggressiveren ethnischen Gruppen besiedeln, käme es bei anhaltender Entvölkerung der indigenen Bewohner möglicherweise zu irreversiblen Veränderungen, aber die Ärmlichkeit der Region ist einer starken Durchdringung mit Migranten nicht förderlich. In Zusammenhang mit den oben genannten Faktoren kann man davon ausgehen, dass die Region, die von globalen Erschütterungen kaum betroffen ist, auch weiterhin ein ruhiger Hafen des gemächlichen Provinzlebens bleibt, weitab von schwerwiegenden Weltereignissen.

Mein Großvater kehrte 1944 aus Deutschland zurück und starb kurz danach. Aber zuvor, im Sommer 1945, kam meine Mutter zu Welt … So ging es die ganze Zeit - Tragödien und Überleben, Tod und Erhalt der Familie, Enttäuschung und die Zuversicht, dass alles besser wird. Anscheinend generiert das alles zusammengenommen einen spezifischen Geist, aus dem ein genetischer Code entsteht, der die stärksten Nationen vor dem Untergang bewahrt, es ihnen sogar ermöglicht, sich, egal an welchem Siedlungsort, in eine Gesellschaft einzufügen und auf sie Einfluss zu nehmen.

Eine Bestätigung dafür findet sich in der bunten Palette von Nationalitäten an dem Ort, an dem ich lebe - in Lettgallen – der sehr klein ist und sehr schön.“

8. Bus nach Asweja

Nach den Untersuchungen von Boris Rawdin wandten sich die neuen Machthaber nach der Besetzung Rigas durch Wehrmachtstruppen im Sommer 1941 auf unterschiedliche Weise an die lokale Bevölkerung. Plakate, Pressemitteilungen und andere Formen von Nachrichten wurden in korrektem Lettisch an die „Stammbevölkerung“ gerichtet; andererseits erinnerte die russischsprachige Kommunikation in gewisser Weise an die Standardformulierungen „matka, kurka, jaiko“, wie man sie aus dem militärisch-künstlerischen Diskurs späterer sowjetischer Filme kennt. Damit wurde den Letten eindeutig eine höherstehende Position eingeräumt, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt nicht als einzige „Stammbevölkerung“ Lettlands gelten konnten.

Beispiele führe ich nicht an, weil ich nicht weiß, ob das eine geschickte Manipulation oder eine typische militärische Nachlässigkeit war. Wenn ich mich nicht irre, verfügte die Wehrmacht sogar über deutsch-kalmückische Sprachführer, aber einen deutsch-burjatischen gab es nicht. Die UdSSR endete für sie an der Wolga, die Russen in Lettland waren eine angenehme Überraschung.

Wie auch immer …

Im Februar / März 1943 wurde unter Beteiligung der örtlichen Polizeieinheiten etwa auf halber Strecke zwischen Daugavpils und Puschkinskije Gory die Strafoperation „Winterzauber“ durchgeführt, um einen Teil der Partisanenschaft „Bratski“ im Dreieck zwischen Sebesch-Asweja-Polazk zu vernichten. Das Thema Partisanenbewegung ist so komplex, dass ich, der hier nur mit Gerüchten handelt, nicht darauf eingehen sollte.

(Um das Pathos zu mildern, erzähle ich Ihnen eine echt lettgallische Story:

… Seine Gattin war gestorben und er nahm sich eine neue Frau, die einiges im Haus erledigen sollte. Also putzen, Wäsche waschen, kochen. Nun, und als sie mit allem fertig war, da blieb sie auch. Dann ein zweites Mal. Einmal blieb sie, zweimal – so lebten sie unverheiratet zusammen. Er ging zur Beichte, erzählte alles so, wie es war, und da fragte der Priester:

„Bekennst du, mein Sohn?“
„Ob ich sie kenne, Pater? Ja sicher, wir schlafen doch zusammen!“)

Das Ziel war die Schaffung eines 30-40 Kilometer breiten „entvölkerten“ Streifens entlang der Ostgrenze Lettlands. Die deutsche Kommandoleitung war sich der Schwierigkeit des Themas bewusst. Historikern zufolge wurden acht lettische Polizeibataillone eingesetzt, das „Kommando Arājs“, ein ukrainisches Polizeibataillon, ein litauisches Polizeibataillon, eine Kompanie eines estnischen Polizeibataillons und mehr als ein Dutzend Untereinheiten der Wehrmacht, darunter Flugabwehreinheiten (fünf Geschütze) und eine Sonderlufteinheit (vier Flugzeuge).

Ich denke, man sollte sie Bataillone Lettlands nennen und erwähnen, dass die Partisanen, unter ihnen ebenfalls lettländische, den Vormarsch der Einheiten stoppen konnten, die sich dann auf die Schaffung einer 15 Kilometer breiten Todeszone beschränkten. Statistische Angaben können den Umfang der Maßnahmen wohl kaum vermitteln: Zahlen sind so tot wie jene Menschen es sind. Die Anzahl der niedergebrannten Siedlungen geht in die Hunderte, die der getöteten Zivilisten in viele Tausende (mehr als 10.000 Erwachsene, mehr als 2.000 Kinder). Deportiert zur Zwangsarbeit wurden …

Die Asweja-Operation brachte keinen „faktischen Nutzen“ - die „terroristischen“ Bedrohungen nahmen nicht ab. Sie wurde zur idealen Verkörperung der Idee von der „verbrannten Erde“, nur war es hier eine Offensive mit einer international ausgeführten Massenvernichtung der ansässigen Bevölkerung. Johannes Bobrowski, der zu Beginn jenes Jahres als Nachrichtensoldat in der Region Pskow-Opotschka-Pustoschka-Waldaj diente, hat in seinen Gedichten „Lettische Lieder“ und „Der lettische Herbst“ das Geschehen angedeutet. Lettland war fester Bestandteil der UdSSR, und es schickte sich nicht mehr, seine Bewohner für etwas dieser Art verantwortlich zu machen.

Dann entzünd ich dein Licht,
das ich nicht sehn kann, die Hände
legt’ ich darüber, dicht
um die Flamme, sie blieb
stehen rötlich vor lauter Nacht
(wie die Burg, die herabkam
über den Hang zerfallen,
wie mit Flügeln das Schlänglein
Licht durch den Strom, wie das Haar
des Judenkindes)
und brannte mich nicht.

Darüber las ich zum ersten Mal, als ich auch von den sowjetischen Fünfzigkopekenstücke erfuhr. Der Name „Asweja” kam mir bekannt vor: In den achtziger Jahren fuhr ein Bus von Krāslava nach Asweja; im Fahrplan am Busbahnhof stand Krāslava - Asveja, ganz ungewohnt, auf Russisch hieß der Ort Osweja.

9. Jasep D., 71 Jahre, Pole, Person des öffentlichen Lebens, studierte in Moskau

„In unserer Familie wurden acht Kinder geboren, ich war das jüngste. Wir lebten in einem Dorf, das wie unsere Familie hieß. Mein Vater war stolz auf seine adelige Herkunft. Früh am Morgen und spät am Abend fragte er mich nach dem obligatorischen Gebet immer: ‚Wer bist du?‘ ‚Ein Pole bin ich, noch ganz klein‘, musste ich antworten, ‚der weiße Adler soll mein Signum sein‘. Wenn Verwandte zu Besuch kamen, küssten wir der Tante die Hand.

Ich kam an Ostern zur Welt. Genosse Stalin wurde mein Vormund, denn ich war das fünfte Kind, drei vor mir waren gestorben, und meine Mutter bekam jeden Monat eine Zulage von sechs Rubeln ausgezahlt [Preis für ein Kilogramm Mehl]. Als ich fünf war, wäre auch ich fast an Meningitis gestorben. Ich weiß nicht, wie man das heute macht, aber damals rief der Dorfsanitäter zur Rettung des Kindes eines Kolchosehirten ein Flugzeug, das mich nach Riga brachte. Dort rangen die Ärzte zwei Jahre lang um meine Gesundheit - wahrscheinlich, weil ich Josef gerufen wurde. Ich erinnere mich, wie neidisch ich in der dritten Klasse der Grundschule war, als ich hörte, wie die Mütter meiner Kameraden hießen: Rewoljuzija, Stalina, Nimfa …

In der Schule verstand mich niemand. Da erzählten sie mir, wir seien Sowjets, Gott gäbe es nicht, in zwanzig Jahren würden wir im Kommunismus leben. In die Pionierorganisation wurde ich nicht aufgenommen. Da wurde mir klar, dass ich zwei Wahrheiten habe. Dann starb mein Vater, und mir blieb eine Wahrheit. Armeedienst, Fakultät für Theater und Regie, Stellenzuteilung. Meine Mutter starb 1974. Drei Jahre später kam durch meine Dummheit heraus, dass ihr Bruder - mein Onkel - Priester war. Da ich in einem Sektor arbeitete, der als ideologisch galt, kam ich sofort auf die schwarze Liste. Damals passierte etwas Unglaubliches, ein Wahnsinn für jene Zeit. 1975 erhielt ich einen Brief aus Wałbrzych, adressiert an meinen Vater, der acht Jahre zuvor gestorben war.

Er begann mit den Worten: ‚Falls Du Dich erinnerst, dann ahnst Du es wohl … Ich bin in Polen, dort blieb ich nach dem Zweiten Weltkrieg. Sitze hier im Irrenhaus. Ich wollte an die Dwina zurück, nach Hause, kam aber direkt von Berlin nach Warschau, ins Irrenhaus.‘

Die Älteren hatten nie über Verwandte gesprochen, aus Angst vorm KGB. Ich schrieb eine Antwort, ein Briefwechsel begann. So kam ich Vaters Cousine auf die Spur, einer begabten Pianistin, die am Konservatorium studiert hatte. Ihr Mann war ohne Gerichtsverfahren 1938 in Saratow erschossen worden, sie selbst überlebte sechs Monate der Leningrader Blockade und ein Jahr in Stalingrad, dann geriet sie in das auf Stalins Geheiß geschaffene Frauenbataillon ‚Emilia Plater‘ der polnischen Armee, benannt nach der Heldin des Novemberaufstands 1830/31, die in der Division namens Tadeusz Kościuszko gedient hatte, dem Anführer des Aufstands von 1794. Sie erreichte Berlin, von dort verbrachte sie der NKWD in eine psychiatrische Klinik bei Warschau, wo sie als Alice, Adoptivtochter von Zygmunt Berling, registriert wurde. Von dort kam sie nach Wałbrzych. Dreißig Jahre hatte sie meinem Vater über das Rote Kreuz geschrieben, aber die Briefe waren nicht angekommen. Dank der Krankenhausdirektion gelang es uns, Tante Lydia herauszuholen und sie nach Aserbaidschan zu ihrem Bruder zu bringen, einem Helden der Sowjetunion.“

Der Bruder starb 1985, auch ohne Erschießungen unter Gorbatschow in Baku erlebt zu haben; die Tante starb in Krāslava.

„Einmal kam die Mutter von Pater Alexander, die in Belarus lebte, nach Brasław zur Beichte. Sie wollte sich beim Priester einschmeicheln und prahlte:
‚Mein Sohn, o ja, der dient in Lettland als Priester, in einer orthodoxen Kirche.‘

Der Priester lächelte und sagte:
‚Macht nichts, Mütterchen, der Herr ist barmherzig und vergibt!‘“

10. Städte

Lettland, das sich zweimal von einem Imperium absonderte, erbte beide Male eine schreckliche demografische Krankheit – die Übermacht der Hauptstadt gegenüber allen anderen, ein russisches Problem, das sich in der Sowjetzeit verschärfte. Wie ein Staubsauger vertilgen Riga und Moskau die ihnen untergeordneten Verwaltungseinheiten, verflachen und vereinfachen sie. Doch ist eine polnische Stadt, selbst die gewöhnlichste, sehr oft ein Kosmos, wenn auch ein Mikrokosmos. Und der beginnt mit einer Kirche.

Lettgallen ist das Land der hellblauen Seen (über tausend). Aber noch mehr ist es ein Land der Kirchen. Kirchen sind zweifellos die Dominanten von Auleja, Višķi, Viļaka, Viļāni, Dagda, Kārsava, Krāslava, Līksna … Pasiene, Piedruja, Rēzekne, Stirniene … Die Superdominante ist die Basilika Mariä Himmelfahrt in Aglona, die vor der Pandemie Hunderttausende von Besuchern und Pilgern pro Jahr empfing. Ihre Mutter Gottes ist anderen Schwarzen Madonnen ebenbürtig: der im polnischen Częstochowa und der in der litauischen Kapelle des Tors der Morgenröte. Weiße Mauern, ein weißes Tor, weiße Wolken im weiten Himmel. Rechts ein See, links ein See.

Anlässlich des 100. Geburtstags von Wladimir Iljitsch Lenin sprengte die Sowjetregierung die wichtigste orthodoxe Kirche in Daugavpils - die Alexander-Newski-Kathedrale. Ebenfalls gesprengt werden sollte die Kirche Grīvas Sv. Jaunavas Marijas am Ufer der Daugava, aber ein Gemeindemitglied, Leiter des Sprengstofflagers (ein sowjetischer Armeeangehöriger), gab in seinem Rechenschaftsbericht einen geringeren Vorrat an Sprengstoff an, die Exekution wurde verschoben, währenddessen konnte die Kirche gerettet werden. Die Kirchen sind gewissermaßen mit der Erde verwachsen, sie wollen nicht von ihr weichen. Etwas Ähnliches habe ich an Synagogen beobachtet: Da geht man eine Straße entlang und sieht ein Gebäude, das nichts anderes als eine Synagoge sein kann. Darin befindet sich eine Turnhalle, ein Kulturzentrum oder das Gebetshaus von Baptisten. Sie ragen hervor wie Champignons, die den Asphalt aufbrechen … Aber nicht immer.

Der Bewohner eines lettischen Krähwinkels indes fühlt sich bis heute als Bürger des Universums, als Untertan der Ewigen Stadt. Entweder ist der Nachbar zum Vatikan gereist und hat dort den Papst gesehen, oder die Nachbarin ist nach Israel geflogen als Gerechter unter den Völkern. Oder in Sankt Petersburg wird die erste internationale Konferenz zur Lettgallistik abgehalten.

„Ich war ein glühender Chassid; das Wesen des Chassidismus sah ich in der Nähe zu Gott, in der Freude an Gott, und mir gefiel es sehr, dass die Chassidim während des Gebets nicht gesittet strammstanden wie auf einer Parade, sondern wild durch die Synagoge gingen, ungestüm gestikulierten, sangen und tanzten. Die Chassidim standen mit Gott sozusagen ‚auf Du und Du‘ und konnten sich nicht vorstellen, wie man der Schwermut verfallen kann, wenn Gott doch existiert und er uns so sehr liebt, wie wir nicht zu lieben verstehen. Wir verstehen es nicht, sollen uns aber bemühen … Die Mitnagdim sind nur Diener Gottes und können nur unterwürfig sein, doch die Chassidim sind Kinder Gottes, selbst wenn sie ungestüm und unzüchtig sind.“ (Mosche Altman, „Notizen eines Alten“)

Der lettgallische Katholizismus trägt Züge des Chassidismus. Der Begründer der Bewegung, Baal Schem Tov, starb am anderen Ende der Linie der Zweiten Teilung, die da noch nicht gezogen war: 1760 - tausend Kilometer von Druja ​​entfernt, wo der Bau der Synagoge kurz vorm Abschluss stand. Bevor er starb, sagte er, er gehe durch eine Tür hinaus und trete durch eine andere ein. Wenn ich mich zwischen den Seen und Hügeln von Lettgallen befinde oder entlangbewege, empfinde ich ein ähnliches Gefühl: eine Aneinanderreihung von Türen.

11. Ein Wort über Wörter

Das russische Wort „pas’cha“ für „Ostern“ kommt aus dem Griechischen - πάσχα; die Griechen haben es vom hebräischen Verb „lipsoach“ (vorübergehen) mit der Wurzel Pe–Samech–Chet, was verdächtig an das englische „to pass“ und das deutsche „passieren“ erinnert. „Pas’cha“ bedeutet: er ging vorüber (an den Juden) oder zog aus (aus Ägypten, für immer). Ferner ist da Χριστὸς πάσχων – Christi Leiden, Christus patiens; und πάσχων, das Partizip des Verbs πάσχω (leiden), dessen Wurzel παθ- lautet (daher kommt πάθος), ist verwandt mit dem lateinischen patior (passion). Ein Zufall?

Pasiene ist ein Dorf in Lettgallen mit der beeindruckenden römisch-katholischen Kirche des Hl. Dominikus von Antonio Paracca. In alter Zeit hieß es Posin, abgeleitet vom Namen des Flusses Sinjaja (das lettgallische Sīnuoja – „Sennaja“ (russ. Heu) verwandelte sich ins russische „Sinjaja“ (hellblau) und kehrte als „Blauer Fluss“, Zilupe, auf die Landkarte zurück). Von der Kirche bis zur russischen Grenze sind es nur vier Kilometer Luftlinie, bis zum Kontrollpunkt Zilupe genau acht Kilometer; im Litauischen bedeutet „pasienis“ Grenze, Schranke. Welch Zufall!

Als Lettland der Europäischen Union beitrat, liefen wir mit Nelken auf die gehobenen Schlagbäume zu. Die Insolvenzwelle großer Unternehmen hatte bereits eingesetzt, Menschen wurden überall aus ihren Wohnungen vertrieben, aber niemand nach Sibirien deportiert. Arbeitsplätze wurden abgebaut, die Abwanderung von Arbeitskräften nahm Fahrt auf, aber niemand wurde erschossen - weder in Moskau noch in Litene. In der Universität Daugavpils erschien ein skandinavischer Inspektor, der das nationale Ungleichgewicht prüfen sollte. Verzaubert von den gelehrten Schönheiten der Stadt trat er mit folgender Bilanz den Heimweg an: Ein Ungleichgewicht ist vorhanden, aber es betrifft nicht die Nationalitäten, sondern die Geschlechter. Auch Panzer kamen und forderten einen Teil des Budgets. Dann war die Optimierung des Gesundheitswesens an der Reihe. Dabei hatte sich die Bevölkerung auch ohne Gewaltanwendung um ein Viertel reduziert. Die Krankenhäuser fuhren ihre Aktivität herunter, Ärzte gingen fort – in den Westen, nach Russland. Die Schlangen vor den Notaufnahmen wurden länger - es gab niemanden, der die Verunglückten in Empfang nehmen konnte. Schließlich schloss die Pandemie die Grenzen: Allerdings hatten sich einige schon eine „gemischte“ Familie zugelegt, und Immobilien „auf der anderen Seite“. Und nun die ersten Opfer. Wie sich zeigte, kann eine optimierte Medizin die Herausforderungen der Natur nicht bewältigen. Der Tod holte sich viele Menschen.

In Lettland wird die Verleugnung der sowjetischen Besatzung zwar nicht gebilligt, jedoch nicht mit derselben Härte geahndet wie in Deutschland die Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Oft lese ich Aufrufe, der Ausdruck „Sowjetzeit“ solle nicht mehr verwendet werden, weil er zu neutral sei und die Gräueltaten des damals herrschenden Regimes nicht widerspiegele. Andernfalls würden jene, die nach 1991 geboren wurden, nie erfahren, in welcher Hölle ihre Vorfahren gelebt hätten. Ich bin zu Sowjetzeiten zur Welt gekommen und aufgewachsen; da gab es viel Gutes. Zum Einen sehr viele gute Menschen, die nicht allzu schlecht gelebt haben. Auch in der „Zeit der offenen Grenzen“ gab es viel Gutes. Und jetzt ebenfalls: Zum Beispiel erteilte im Juli 2020 der Leiter des lettischen Grenzdienstes innerhalb von zehn Minuten meiner russischen Mutter die Erlaubnis, die nach Russland geschlossene Grenze zu passieren. Fünf Stunden hatten wir am Kontrollpunkt auf der anderen Seite des Flusses Sinjaja auf sie gewartet, bis die russischen Grenzschutzbeamten auf der Gegenseite sie samt Gepäck endlich in das vorbeifahrende Auto einer kasachischen Familie steckten, die von Asien nach Europa wollte.

12. Die russische Sprache als Chakra

Bis vor kurzem habe ich mich so beschrieben: polnischer Jude, der in Lettland lebt und auf Russisch schreibt. Mittlerweile schreibe ich auch auf Lettisch. Daher bin ich berechtigt zu beklagen, was gerade mit der lettischen Sprache passiert.

Eine für politische Intrigen instrumentalisierte Sprache erfährt eine große Häutung. Im lexikalischen Kampf gegen alles „Fremde”, das von den russischen und deutschen Okkupanten aufgezwungen wurde, haben es die Hüter über die Reinheit der lettischen Sprache nicht nur auf jahrhundertealte Lehnübersetzungen aus dem Russischen abgesehen, sondern auch auf folkloristische Wörter wie zoste (Soße), deķis (Decke), ķēķis (Küche), also lettisierte deutsche Wörter, mit der Begründung, man habe auch eigene, nämlich mērce (wo man etwas eintunkt), sega (womit man etwas bedeckt), virtuve (wo man etwas kocht). Gott sei Dank darf der „ķirbis” (Kürbis) ein ķirbis bleiben. Syntax und Wortstellung im Satz werden reguliert, archaische Ausdrücke und grammatikalische Formen ignoriert. Aber Sprache ist Sprache und hat schon ganz andere Dinge gesehen … Und außerdem können die Gewaltaktionen gegen die eigene Sprache die Sprachkommissionen vom Lettgallischen ablenken!

Der von vornherein zum Scheitern verurteilte Januaraufstand von 1863 zeigte sich in Lettgallen in einer Reihe von hinterhältigen Überfällen auf Militärkonvois und führte zu einer Hinrichtung, die traurige Berühmtheit erlangte – in der Festung Dwinsk (oder deren Nähe) wurde Graf Leon Broel-Plater erschossen, Nachkomme polonisierter deutscher Landbesitzer, die das Licht der Zivilisation nach Livland gebracht hatten: Paläste, Schulen, Krankenhäuser, Bibliotheken. Danach begannen die Bauern, Gutshäuser anzuzünden und Rebellen zu jagen, und die Region wurde russifiziert. Über vier Jahrzehnte war der Druck von Büchern auf Lettisch verboten. Formal waren polnische und litauische Buchstaben verboten, was das Drucken in Lettgallen unmöglich machte (in Livland und Kurland wurde weiterhin in gotischer Schrift „Fraktur“ gedruckt). Auf diese Weise nahmen die russischen Behörden das Verbot von „Sütterlin“ an Schulen in Deutschland zugunsten der „deutschen Normalschrift“ vorweg.

Die Sowjetmacht setzte den Prozess fort und vertiefte ihn. Als ich vor fünfunddreißig Jahren erstmals nach Lettgallen kam, sprachen alle ringsum ausgezeichnet Russisch. Aber wer sich als Lette betrachtete, konnte auch Lettgallisch sprechen. Die bebende Phonetik ohne überspannte Vokale klang aufregend und anziehend. Das Affix des Reflexivums, das wie im Litauischen nach dem Präfix kommt, brachte einen um den Verstand: Der Bus musste at/SA/grīzt, damit wir at/SA/sēst konnten (anstelle von atgriezt//IES, („sich/zurückkommen“) und apsēst//IES, („sich/hinsetzen“). Die Sprache war weich und plastisch, als hielte ihr Bindemittel das Mauerwerk einer kaiserlichen Festung gegen starke Erschütterungen zusammen. Dreißig Jahre später, als ich in Kaliningrad einen Bildband über Heimatforschung mit dem darin nachgedruckten „Vater unser“ in der untergegangenen pruzzischen Sprache aufschlug, wurde mir auf einmal (wohl fälschlicherweise) klar, dass ich wusste, wie man es ausspricht …

Einmal erkannt und verstanden, öffnete sich die Sprache der Bezwinger und Zerstörer in einer neuen Dimension. Die russische Sprache ist die letzte Zuflucht der Armseligen, Geplagten, Getretenen. Ihre Stimmen, Gedanken, Erwartungen und Hoffnungen haben sich zu Sprachschichten verdichtet: Ablagerungen des Meeres der Freiheit im Sedimentgestein. Der diskrete Beitrag der Russen zur Wissenskultur steckt in der Sprache. Ich ahne, dass unsere Sprache den jungen Letten, die in den Russen-Gettos der Hauptstadt leben, barbarisch erscheint, aber in Lettgallen ist eine andere Sprache gebräuchlich; sie hat eine komplexe Vergangenheitsform (war denkend gewesen, war gehend gewesen) …