Der Traum von Tallinn und Tartu
Я всегда твердил, что судьба – игра.
Что зачем нам рыба, раз есть икра.
Что готический стиль победит, как школа,
как способность торчать, избежав укола.
Я сижу у окна. За окном осина.
Я любил немногих. Однако – сильно.
Я считал, что лес – только часть полена.
Что зачем вся дева, раз есть колено.
Что, устав от поднятой веком пыли,
русский глаз отдохнет на эстонском шпиле.
Я сижу у окна. Я помыл посуду.
Я был счастлив здесь, и уже не буду.
Dass das Schicksal ein Spiel ist, war mir immer schon klar.
Wozu brauchen wir Fisch? Es gibt doch Kaviar.
Der gotische Stil triumphiert hoch oben samt Spitze
als Kunst high zu sein ohne zu spritzen.
Ich sitze am Fenster. Da draußen die Espe.
Ich liebte wenige. Doch immer fester.
Ich meinte, der Wald sei vom Holzscheit bloß ein Stückchen.
Wozu das ganze Mädchen? Ein Knie kann doch entzücken.
So müde vom wirbelnden Jahrhundert-Staub
ruht auf estnischen Turmspitzen das russische Aug.
Ich sitze am Fenster. Hab Geschirr abgewaschen.
Ich war glücklich hier, werd nie mehr davon naschen.
Dies sind die ersten beiden Strophen eines in Tallinn und Tartu entstandenen Gedichtes des russischen Literaturnobelpreisträgers Joseph Brodsky von 1971, aus seinem Band Das Ende einer schönen Epoche (Конец прекрасной эпохи), und dazu meine deutsche Übertragung aus dem Band Brief in die Oase, den ich zu Brodskys 10. Todestag 2006 im Hanser Verlag herausgegeben habe.
Ich hätte sagen müssen: des nachmaligen Literaturnobelpreisträgers. Der 1940 in Leningrad geborene Dichter wurde 1963 in einem absurden Prozess wegen „Parasitentums“ und „Nichtstuerei“ zu fünf Jahren Zwangsarbeit im russischen Norden verurteilt und im Jahr 1972 unter massiven Drohungen zum Verlassen der Sowjetunion gezwungen. Er ging ins amerikanische Exil. Nur anderthalb Jahrzehnte nach der Ausbürgerung musste sich der einstige „Parasit“ – als sei’s im Märchen – einen Frack besorgen und nach Stockholm reisen. Der Literaturnobelpreis des Jahres 1987 erwartete ihn. Am 28. Januar 1996 erlag Brodsky, erst fünfundfünfzigjährig, in New York seiner Herzkrankheit.
Das zitierte Gedicht ist, im Jahr vor der Exilierung entstanden, eine groteske vorläufige Lebensbilanz und Besinnung auf die subversiven Kräfte der Poesie. Das seltsame „Spiel“ des Schicksals wird ad absurdum geführt, die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Teil und Ganzem werden umgestülpt, Hierarchie und Logik werden karnevalistisch (im Sinne Michail Bachtins) verkehrt: „Wozu brauchen wir Fisch? Es gibt doch Kaviar.“ Und: „Ich meinte, der Wald sei vom Holzscheit bloß ein Stückchen.“ Die Figur des „Pars pro toto“ wird absurd, wenn das Ganze nur ein Teil des Teils ist. Der Reiz des übermütigen Gedichtes beruht auf dem scheinbaren Widersinn seiner Aussagen, das Verfahren der Verkehrung ist eine Feier der Poesie.
Dann heißt es verblüffend unvermittelt, dass der gotische Stil siegen wird, und dass er berauschend sei, ein wahres Narkotikum: „Der gotische Stil triumphiert hoch oben samt Spitze / als Kunst high zu sein ohne zu spritzen.“ Das russische Verb „торчать“ heißt „aufragen“, im Jugendjargon aber tatsächlich „high sein“, berauscht sein, sich unter dem Einfluss einer Droge befinden. Gotik als Narkotikum, oder ein wenig kalauernd: Nar – gotik – um? Die aufragende Sichtbarkeit der Spitze – der Spritze – ist selber die Droge.
Aber wo, um Himmels willen, hätte ein russischer Dichter im abgeschotteten Sowjetreich – noch dazu nicht weit von Leningrad – gotische Bauwerke sehen können? Natürlich in Tallinn: die Nikolai-Kirche, die Olai-Kirche und das aus dem 13. Jahrhundert stammende Rathaus, das Wahrzeichen Tallinns, mit seiner tatsächlich frappant einer Spritze gleichenden Turmspitze.
Bei den besten russischen Gedichten des 20. Jahrhunderts herrscht prinzipiell keine Unschuldsvermutung. Sie schreiben sich durchtrieben ein in ein Gesamtgewebe, sind vielfältiges Echo, Antwort auf (oder Polemik gegen) Texte von Vorläufern oder Verbündeten. Brodsky, der Erbe der „klassischen russischen Moderne“ Ossip Mandelstams, Anna Achmatowas und Marina Zwetajewas, erinnert sich natürlich, dass einer von ihnen schon einmal die gotische Architektur gefeiert hatte: Ossip Mandelstam in seinem Gedicht Notre-Dame (1912) und in seinem Manifest Der Morgen des Akmeismus von 1913. Dort heißt es, die Dichter des „Akmeismus“, jener Gruppierung, der Mandelstam angehörte und in deren Namen das griechische Wort für die „Spitze“ (Akmē) steht, führten „in die Beziehungen der Wörter die Gotik ein“. Mandelstams Manifest ist ein Bekenntnis zur menschlichen Schöpferkraft, zum „Geist des Bauens“. Zitat:
„Bauen bedeutet: gegen die Leere kämpfen, den Raum hypnotisieren. Der gute Pfeil des gotischen Glockenturms ist zornig, denn sein ganzer Sinn besteht darin, den Himmel zu durchstechen, ihm seine Leere vorzuwerfen.“
Im weitern bezeichnet Mandelstam die Gemeinschaft der Dichter als eine „Komplizenschaft der gegen die Leere und das Nicht-Sein Verschworenen“.2 Der Kampf gegen die Leere, den Mandelstam propagierte, verbirgt sich noch in Brodskys Lobpreis des Narkotikums namens Gotik, das er in Tallinn fand.
Sein Gedicht steckt ohnehin voller Chiffren, die ihre geheime Strahlkraft entfalten. Zum Beispiel der Wald, der traditionell für Russland steht: „Ich meinte, der Wald sei vom Holzscheit bloß ein Stückchen“. Das Große oder groß sich Aufführende, wie es Imperien eben tun, ist ein Nichts gegen das Teilstück. Das Imperium ist klein im Vergleich zur Republik am Rande. Und es ist ein dunkler Wald.
Noch einmal Mandelstam, in einem Gedicht von 1918, also kurz nach dem Oktober-Umsturz der Bolschewiken. Es bezeichnet die neue Hauptstadt Moskau als obszön, als „zotige Hauptstadt“ – und als dunklen Wald. Die zweite und die dritte Strophe des Gedichtes Wie fremd ist alles in der Zoten-Hauptstadt (Все чуждо нам в столице непотребной) lauten:
Она, дремучая, всем миром правит.
Миллионами скрипучих арб она
Качнулась в путь – и полвселенной давит
Ее базаров бабья ширина.
Ее церквей благоуханных соты
Как дикий мед, заброшенный в леса,
И птичьих стай густые перелеты
Угрюмые волнуют небеса.
Als dunkler Wald will sie die Welt beglücken,
Millionenfach auf Karren knarrend treibt
Sie schwankend los – das halbe All erdrücken
Ihre Basare: breites Bauernweib!
Nur ihre Kirchen – wohlriechende Waben
Wie wilder Honig, verloren tief im Wald,
Die dichten Vogelschwärme drüber plagen
Den Himmel, mürrisch blickt er, kalt.3
Dasselbe Gedicht spricht vom „Räuber-Kreml“ (разбойный Кремль). Vor dem mitgedachten Hintergrund der byzantinisch-sowjetischen Staatsfestung lässt Brodsky in seinem Gedicht die schlanken gotischen Glockentürme sich abheben. Die Prophezeiung „Der gotische Stil wird siegen“ ist Voraussage einer neu zu gewinnenden Unabhängigkeit Estlands in europäischem Geiste. Eine prächtige Hommage und Kompliment eines russischen Dichters, dessen eigene geistige Autonomie – und sei es im Exil – obsiegen wird. Nichts ist unschuldig in Brodskys Gedicht, nicht einmal dieser Refrain, der fünfmal erklingt: „Ich sitze am Fenster“. In der sechsten Strophe aber: „Ich sitze im Dunkeln“. Die Fenster-Metapher ist wie alles andere kulturell, politisch, historisch aufgeladen. Dieses ostentative Am-Fenster-Sitzen des Dichters Brodsky ist keinesfalls bedeutungslos oder nebensächlich.
Peter der Große wollte bekanntlich mit Sankt Petersburg, der aus den Newa-Sümpfen hervorgepressten Stadtgründung, ein „Fenster nach Europa“ aufschlagen. Brodskys Geburtsstadt Leningrad/Petersburg war aber 1971 kein Fenster nach Europa mehr, kein frischer Wind drang mehr durch es ein. Es war eine zugemauerte Luke hinter einem eisernen Vorhang. Wo aber ließ sich so auffällig ungeniert „am Fenster sitzen“ und einen Blick auf Europa werfen? In der alten Hansestadt Tallinn/Reval, und in Tartu/Dorpat, diesem wichtigen Bindeglied auf der Route – über Pskow – nach der mit der Hanse verbundenen russischen Stadt Nowgorod. Der Blick auf die gotischen Türme Tallinns schenkt dem russischen Fensterhocker einen Moment der Besinnung. „So müde vom wirbelnden Jahrhundert-Staub / ruht auf estnischen Turmspitzen das russische Aug.“
Alles ist hier historisch-politisch aufgeladen: gotische Turmspitzen, der russische Wald, das Sitzen an einem Fenster. Darunter mischen sich ungewöhnlich direkte Selbstaussagen Brodskys: „Ich liebte wenige“ und „Ich war glücklich hier“. Schicksal als Spiel, ein Baustil als berauschender Triumph, leuchtender poetischer Widersinn, Liebe und Glück – selten zeigen Brodskys Gedichte eine solche durchtriebene Unbekümmertheit.
Wo existiert die Möglichkeit einmaligen Glücklichseins? Am Rande des Imperiums. Die Randlage ist bei Brodsky immer ein privilegierter Ort, dem Aufenthalt in den Zentren der Macht unbedingt vorzuziehen. In den antikisierenden Briefen an einen römischen Freund (nach Martial) von März 1972 heißt es: „Wirst du schicksalhaft in ein Imperium geboren, / besser leb weitab in der Provinz am Meer …“4 (Если выпало в Империи родиться, / лучше жить в глухой провинции у моря).
Brodskys Werk ist ein Lobpreis der Poesie als Peripherie. Poesie ist selber eine Teilrepublik am Rande. Von dort ist der Blick auf das Zentrum freier. Zentrifugal ist die Poesie, hin zu den Rändern, wo der Triumph im Kampf gegen die Leere stattfinden darf. Brodskys Traum von Tallinn und Tartu ist ein Traum von europäischer Kultur und darüber hinaus, gemäß der von Mandelstam postulierten „Sehnsucht nach Weltkultur“ (тоска по мировой культуре).5
Ich werde auf dieses Brodsky-Gedicht zurückkommen, das entstand, als er in Tartu einen Freund besuchte, den litauischen Dichter Tomas Venclova, dem er im selben Jahr 1971 sein Litauisches Divertimento6 widmete und der hier bei dem Strukturalisten und Kultur-Semiotiker Jurij Lotman studierte. Tartu war einer der attraktivsten und freiesten Orte, wo sich an der Peripherie des Sowjetimperiums ohne ideologische Gängelung Literaturwissenschaft studieren ließ, die auch ästhetische Fragen und Probleme der Form umfasste, während in den Hauptstädten die notorischen Marxismus-Leninismus-Litaneien heruntergebetet werden mussten. Hier war das Erbe der mundtot gemachten russischen Formalisten und Strukturalisten (Boris Ejchenbaum, Viktor Schklowskij, Roman Jakobson, Michail Bachtin u. a.) lebendig, mithin das Beste, was die russische Literaturwissenschaft zu bieten hatte. Tartu war Asylstadt für eine Literaturwissenschaft, die diesen Namen verdiente.
Attraktiv war Estland auch für andere russische Autoren. Zum Beispiel Sergej Dowlatow, dessen Biographie ein paar frappierende Parallelen zu Brodskys Lebensweg aufweist. Geboren 1941 in Ufa, hundert Kilometer westlich des Ural, verließ er 1978 die Sowjetunion und zog ebenfalls nach New York, wo er 1990 wie Brodsky an einem Herzinfarkt starb, erst neunundvierzigjährig, weil er ohne Krankenversicherung vergeblich in mehrere Kliniken gebracht wurde, bis es zu spät war. In der Sowjetunion unpubliziert – dort hatte er keine Bücher, in der Emigration keine Krankenversicherung – veröffentlichte er in den zwölf Exiljahren, die ihm blieben, zwölf Bücher, drei Titel sind auch auf Deutsch erschienen.7 Seine in renommierten New Yorker Zeitschriften veröffentlichten Erzählungen
hatten in den achtziger Jahren in den USA einigen Erfolg, im postsowjetischen Russland erlangten sie Kultstatus.
Das Buch Der Kompromiss beschwört Dowlatows journalistische Abenteuer in Tallinn, 1972 bis 1975, als er, arbeitslos und entmutigt von den hauptstädtischen Medien, sein Glück in der sozialistischen Nachbarrepublik versuchte und für die Blätter „Sowjetisches Estland“ und „Tallinner Abendzeitung“ arbeitete. Einer kurzen Meldung aus der Tagespresse schickt der Schriftsteller die grotesken Hintergründe der offiziellen Nachrichten hinterher, witzige bis haarsträubende Geschichten aus dem Sowjetalltag um Kungelei, Schummelei und Suff, die die Kluft zwischen ideologischem Anspruch und banaler Realität enthüllen. Nicht einmal Misswirtschaft, sondern nur Kompromisswirtschaft. Die Kapitelüberschriften lauten: Erster Kompromiss, Zweiter Kompromiss, Dritter Kompromiss und so fort. Doch keine Entlarvungsprosa, keine Anklage: „In diesem Buch gibt es keine Engel und keine Bösewichte. Es gibt keine Sünder und keine Gerechten.“
Nach diesem illusionslosen Prosaisten eine angesehene Lyrikerin, die 1949 in Moskau geborene Olga Sedakova, die uns mehr über die estnische Aura mitteilen will. Ihr Text Reise nach Tartu und zurück (1998) erschien auch auf Deutsch.8 Sie erzählt die denkwürdige Fahrt zum Begräbnis des von ihr wie von vielen ehemaligen Studenten verehrten, 1993 in Tartu verstorbenen Jurij Lotman. Es ist eine Schrift der Trauer um „die Brillanz der Lotmanschen Schule, das späte Licht der Aufklärung, die Eleganz des freien Denkens“. Doch begraben wird er jetzt im Ausland, im seit 1991 unabhängigen Estland. Die Reisende braucht ein Visum: „Mit jener Höflichkeit, die wir als europäisch bezeichnen, und mit jener Großzügigkeit, die wir für russisch halten, stellte die estnische Regierung unverzüglich allen zum Begräbnis geladenen Gästen kostenlose Einreisevisa aus.“ Doch die Schwierigkeit bestand nicht in der Einreise in das andere Land, man musste zuerst das eigene verlassen und dann auch wieder zurückkehren dürfen.
Die Reisende wird an der Grenze von ruppigen russischen Beamten des Zuges verwiesen, weil sie das erforderliche Visum nicht hat. Ein schrilles Abenteuer beginnt. Sie geht in einem einstündigen Fußmarsch auf Schleichwegen und über die Bahnschwellen aus dem Grenzort Petschory Pskowskie nach Estland hinüber. Die würdevolle Trauerfeier in Tartu wird geschildert, die Raumsemantik der Grenze jedoch gewinnt bald danach ein unvermutetes Eigenleben. Wegen „illegalen Überquerens der Staatsgrenze“ wird die Dichterin aufgegriffen. Ich erspare ihnen die bürokratischen Schikanen, denen sie ausgesetzt ist.
Aber während des Wartens auf die Erlaubnis zur Heimreise besucht sie das Höhlenkloster von Pskow, einen historisch stark aufgeladenen Erinnerungsort. Es war ein Mönch dieses Klosters, Filofej, der um 1520 die Doktrin von „Moskau, dem dritten Rom“ formulierte („und ein viertes gibt es nicht“): Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 sei die göttliche Gnade auf Moskau übergegangen. Das Phantasma vom „dritten Rom“ prägte die russische Staatsdoktrin von Iwan dem Schrecklichen bis heute, noch in Putins Vorstellungen von Russlands Rolle sind mehr als nur Spurenelemente davon auszumachen.
Fern vom „dritten Rom“ aber galt Tartu in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei Intellektuellen anmutig-anachronistisch als das „russische Athen“. Ich zitiere zwei Passagen aus Sedakovas Text, die die Aura Estlands und Tartus anschaulich machen:
„Estland war auch früher spürbar freier von uns als wir selbst. Das verwunderte die Besucher immer aufs neue. Als ich in meiner Studienzeit in der Universität anstelle der üblichen Statuen Euripides erblickte, sah ich mich verstohlen um: Sieht vielleicht jemand, was ich sehe. (…) Die Statuen sind die fundamentale Sprache, die die Mächtigen mit dem Volk sprechen, schrieb der verrückte Chlebnikow. Welche Macht sprach eigentlich damals aus diesem verstörenden Euripides beim Eingang?“
Und das zweite Zitat:
„Leb wohl Tartu, (…) heilige Steine, andere Welt. Jetzt bist du endlich ganz anders geworden. Die Spuren des sowjetischen Lebens verschwinden aus den Straßen, es ist wie ein Haus, das nach langem und hässlichem Radau aufgeräumt wird. Ohne uns wird es hier schön sein. Und ohne Jurij Michailowitsch [Lotman]? Hier lebte Martin Luther, hier die Brüder Grimm.“9
Letzteres ist ein Zitat aus dem Gedicht Marburg von Boris Pasternak, der 1912 in Marburg bei Hermann Cohen Philosophie studierte. Der Vergleich Tartus (des alten Dorpat) mit der deutschen Universitätsstadt schreibt sich ein in eine stattliche Liste russischer Schwärmereien für Göttingen, Heidelberg, Marburg. Abwegig ist die Überblendung nicht: Die 1632 vom schwedischen König Gustav Adolf II. gegründete Universität wurde 1802 von Deutsch-Balten mit Hilfe Zar Alexanders als einzige deutschsprachige Universität des Russischen Reiches neu gegründet. Sie war eine Mittlerin zwischen der russischen und der deutschen Kultur. Tartu-Dorpat als „russisches Athen“ und patenter Marburg-Ersatz für Olga Sedakova – soviel zu Tartus fabelhafter Aura in den Augen russischer Intellektueller.
Ich komme zum Schluss noch einmal zurück auf das Brodsky-Gedicht. Nach den eingangs zitierten ersten beiden Strophen – nun auch noch die letzten beiden, die sich geradezu zu einem Manifest auswachsen. Nennen wir es ein wenig übermütig Brodskys „Tartu-Tallinner Manifest“.
Моя песня была лишена мотива,
но зато ее хором не спеть. Не диво,
что в награду мне за такие речи
своих ног никто не кладет на плечи.
Я сижу у окна в темноте; как скорый,
море гремит за волнистой шторой.
Гражданин второсортной эпохи, гордо
признаю я товаром второго сорта
свои лучшие мысли и дням грядущимя
дарю их как опыт борьбы с удушьем.
Я сижу в темноте. И она не хуже
в комнате, чем темнота снаружи.
Mein Lied war also völlig ohne Motiv
dafür singt man’s nie im Chor. Doch tief
im Innern weiß ich: zur Belohnung für solche Reden
wird keiner seine Füße auf die Schultern mir legen.
Ich sitze am Fenster; wie ein Schnellzug verloren
donnert das Meer hinter den gewellten Storen.
ls Bürger einer Epoche minderer Güte bewahre
ich stolz als eine ebenso zweitrangige Ware
meine besten Gedanken und der Zukunft schicke
ich sie als Erfahrung eines Kampfes mit dem Ersticken.
Ich sitze im Dunkeln. Doch nicht dümmer
als das Dunkel da draußen ist es hier drinnen im Zimmer.1
Es ist ein Manifest des poetischen Eigensinns, der sich der offiziell verlautbarten Sinn-Simulation entgegenstellen soll. Es ist ein Ausdruck der Freiheit und der frechen Selbstbehauptung eines nur wenig später ins Exil gezwungenen Dichters. Ein Bekenntnis zum Individuum, zum „unverwechselbaren Gesicht“, das Brodsky 1987 in seiner Nobelpreisrede würdigen wird.11 Und es ist ein Lobpreis der Gotik als Ausdruck der „Sehnsucht nach Weltkultur“, eine von Mandelstam inspirierte „Verschwörung gegen die Leere“, energisches Zeugnis eines „Kampfes gegen das Ersticken“. Und nicht zuletzt: eine Hommage an die Peripherie des Imperiums, eine Ohrfeige für die Zentren der Macht.
Sie merken, dass es allmählich dunkel wird im Gedicht. Doch das ist kein Grund für den Dichter, betrübt zu sein: Die Dunkelheit im Zimmer ist erträglich, sie ist nicht schlimmer als das „Dunkel da draußen“, denn im Zimmer können plötzlich die Lichter angehen, kann das Licht der Poesie aufblitzen. Hier steht das Gedicht in klarer Korrespondenz zu einem anderen, im Vorjahr, 1970, geschriebenen: Geh nicht aus dem Zimmer! (Не выходи из комнаты) – eine verwegene, trotzige Besinnung auf die Autonomie und Autarkie der Poesie.12
Soweit ein paar Gedanken zu Joseph Brodskys übermütigem „Tartu-Tallinner Manifest“ in Gedichtform. Seien Sie hiermit mit dem Segen einer störrischen Muse aus den „kleinen Paradiesen“ russischer Dichter entlassen.13
Beim vorliegenden Text handelt es sich um einen Vortrag von Ralph Dutli, gehalten am 18. Mai 2013 im Deutschen Kulturinstitut in Tartu (Estland), im Rahmen der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
1 Joseph Brodsky: BRIEF IN DIE OASE. Hundert Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ralph Dutli. München/Wien: Carl Hanser Verlag 2006, S. 56-57
2 Ossip Mandelstam: ÜBER DEN GESPRÄCHSPARTNER. Gesammelte Essays I: 1913-1924. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli. Zürich: Ammann Verlag 1991, S. 20 bzw. 21
3 Ossip Mandelstam: TRISTIA. Gedichte 1916-1925. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli. Zürich: Ammann Verlag 1993, S. 182-183
4 Joseph Brodsky: BRIEF IN DIE OASE, S. 71
5 Ralph Dutli: MEINE ZEIT, MEIN TIER. Ossip Mandelstam. Eine Biographie. Zürich: Ammann Verlag 2003, S. 446
6 Joseph Brodsky: AN URANIA. Gedichte. Aus dem Russischen von Birgit Veit u.a. München/Wien: Carl Hanser Verlag 1994, S. 37-40
7 Sergej Dowlatow: DIE UNSREN. Ein russisches Familienalbum. Ü: Gabriele Leupold. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1990. – Ders.: DER KOFFER. Ü: Dorothea Trottenberg. Köln: DuMont Verlag 2008. – Ders.: DER KOMPROMISS. Ü: Franziska Stöcklin. Zürich: Pano Verlag 2008
8 Olga Sedakova: REISE NACH BRJANSK. Reise nach Tartu und zurück. Zwei Erzählungen. Aus dem Russischen von Valeria Jäger und Erich Klein. Wien/Bozen: Folio Verlag 2000.
9 Olga Sedakova, ebenda, S. 75 bzw. S. 87
10 Joseph Brodsky: BRIEF IN DIE OASE, S. 56-57
11 Joseph Brodsky: DER STERBLICHE DICHTER. Über Literatur, Liebschaften und Langeweile. Aus dem Amerikanischen von Sylvia List. München/Wien: Carl Hanser Verlag 1998, S. 59-75
12 Joseph Brodsky: BRIEF IN DIE OASE, S. 48. Zu diesem Gedicht auch mein Essay: „Geh nicht aus dem Zimmer! Bossa Nova, Breschnew und Horaz: Ein vergessenes Gedicht von Joseph Brodsky“. In: Ralph Dutli, NICHTS ALS WUNDER. Essays über Poesie. Zürich: Ammann Verlag 2007, S. 146-155
13 Zu einem anderen Paradies russischer Dichter vgl. meinen Essay „Goldener Taubenschlag der Zeit. Begegnung mit dem verlorenen Paradies: Russische Dichter in Venedig“. In: NICHTS ALS WUNDER, S.156-168