Tucholsky und die Ostsee

»Die Ostsee ist ein 413.000 km² großes und bis zu 459 m tiefes Binnenmeer in Europa und gilt als das größte Brackwassermeer der Erde.«

Diese Fakten waren es sicher nicht, die Kurt Tucholsky zu einem begeisterten Ostseefreund gemacht haben. Es müssen Erinnerungen aus der Kindheit gewesen sein, die eine tiefe und starke Liebe zu dieser Landschaft, ihrer Natur, ihrem Klima, ihrem Licht, ihrer Sprache, ihren Gerüchen und natürlich ihren Menschen in Tucholsky verankert haben. Er äußerte diese Liebe in vielfacher Form. Die Ostsee kommt häufig in seinen Arbeiten vor und so gut wie immer in sehr liebevoller Weise; gelegentlich allerdings auch ironisch verfremdet.

Ein Zeuge für die Liebe Tucholskys zum Norden und zur Ostsee ist Fritz J. Raddatz. Er schreibt 1975 im Vorwort der Taschenbuchausgabe der Gesammelten Werke unseres Autors, nachdem er über den Umzug der Familie Tucholsky 1893 nach Stettin berichtet hat:

Dort [in Stettin; K. L.] kommt der sechsjährige Kurt zur Schule. Obwohl aus dieser Zeit wenig überliefert ist, müssen die ersten Kindheitseindrücke stark und dauerhaft gewesen sein. Bis hin zu seinem Bekenntnis »Heimat« im Jahr 1929 zieht sich durch Kurt Tucholskys Denken und Fühlen die Beziehung zur Ostseelandschaft. Wir werden sehen, wie Landschaft und Natur eine wesentliche Rolle bei dem »Berliner Literaten« spielten; es ist festzuhalten, wie sehr die spröde, gegen zu rasche Annäherung und Vertrautheit sich eigenartig wehrende Ostseeküste seiner Sensibilität entsprach. Der animalischen Buntheit und unmittelbaren Lebensfreude der südlichen Sonne galt seine Sehnsucht nie.1

Tucholsky hat auch im Süden Frankreichs, z. B. in dem Badeort Le Lavandou an der Mittelmeerküste Urlaub gemacht, aber für Raddatz’ Sicht spricht, dass er sich in den letzten knapp sechs Jahren seines Lebens ein Heim in einem Ort nicht weit von der schwedischen Metropole Göteborg suchte und nicht in Nizza oder Le Lavandou. Und auch bei seinen Urlauben besuchte er häufig und gern den Norden.

Vater Alex Tucholsky vertrat in Stettin in dem großen privaten Eisenbahnunternehmen Lenz & Co. die Berliner Handelsgesellschaft/BHG. Tucholskys wohnten zunächst in der König-Albert-Straße 12 und ab 1898 in der Kronprinzenstraße 29, ganz in der Nähe des Kaiser-Wilhelm-Platzes.2 Während der Zeit in Stettin, also von Ende 1893 bis zum Frühjahr 1899, fanden häufig Besuche der Ostsee und der pommerschen Städte statt. So waren die Tucholskys in Misdroy – davon existiert sogar ein Familienbild – sowie in Swinemünde, Usedom, Heringsdorf und anderen Ostseebädern. Helga Bemmann berichtet von Fahrten nach Rügen, Greifswald, der Geburtsstadt Alex Tucholskys, und Stralsund.3

Ein Bild – in Coeslin, heute Koszalin, etwa 150 km nordöstlich von Stettin, aufgenommen – zeigt den vier- oder fünfjährigen Knirps und weist die Notiz der Mutter auf: »Kurt’s erste Hosen«. Der von uns allen so geschätzte Michael Hepp schreibt in seiner rororo-Biographie:

Stettin. Hier, in seinen Jugendjahren, entstand Tucholskys tiefverwurzeltes Gefühl für den Norden, hier hörte er das rollende Plattdeutsch, das er später in seine Geschichten einflocht. In der landschaftlich reizvollen Umgebung von Stettin lernte er die eher spröde Natur kennen, die er bis zu seinem Tod liebte und nach der er sich sehnte: die See, die Wälder, die Stille.4

Kurt Tucholsky hat sein ganzes Leben immer wieder längere Arbeits- oder Ferien-Aufenthalte an der Ostsee genommen. Und er hat mindestens seit dem Krieg immer wieder mal damit geliebäugelt, irgendwo im Norden seine Heimat, sein Zuhause zu suchen.

Aber wir sind ja noch im Frieden: Im August 1911 fährt der 21jährige Kurt Tucholsky mit seiner Freundin Else Weil, die später seine erste Frau werden wird, für drei Tage nach Rheinsberg in eine Art Liebesurlaub. Im Anschluss verbringen die beiden ›Turteltauben‹ drei Wochen in Warnemünde an der Ostsee. In dieser Zeit erstellt Tucholsky eine erste Fassung der Erzählung »Rheinsberg«. Im August 1912 macht Tucholsky erneut in Warnemünde Urlaub.5 Es folgen erste Arbeiten für die »Schaubühne« und Tucholskys Bemühungen um seine Promotion. Im April 1915 wird Tucholsky Soldat. Wolfgang Sax, der 2015 mit Peter Böthig die schöne Ausstellung »Wo waren Sie im Kriege, Herr?« in Rheinsberg geschaffen und ein einschlägiges Buch mit dem gleichen Titel geschrieben hat, wies mich darauf hin, dass Tucholsky von Mitte Mai 1915 bis zum ersten August im Memelgebiet »in ruhigen Grenzstellungen«6 eingesetzt war und sicher öfter hier die Ostsee besucht hat. Dafür spricht eine Bildpostkarte an seine Schwester Ellen vom Juni 1915, die auch in der Gesamtausgabe zu finden ist (vgl. GA 16, S. 58–59).

Später im Krieg taucht in einem Brief an den »Simplicissimus« -Autor Hans Erich Blaich vom Juni 1917 unvermittelt, mitten in einem Textteil, in dem Tucholsky über die allgemeine Lage im Kriege klagt: »[…] dieser Stiefel paßt mir gar nicht – ausziehen wird da wohl das Beste sein« folgender Satz auf: »Seit 2 Jahren habe ich Schweden im Kopf – was halten Sie davon?« (GA 16, S. 110). Aus Turn-Severin im besetzten Rumänien schreibt Tucholsky im September 1918 an seine Freundin Mary Gerold von einem Plan, an dem er wohl schon seit Mitte des Jahrs 1918 arbeitete: »Mein Plan war dieser – um einmal alle Karten aufzudecken: hier unten Kommissar werden, [was ihm kurz darauf im Oktober 1918 gelang, K. L.] […] und dann zu versuchen, nach Kurland zu gehen [wo sich Mary befand, K. L.], und von einer Kriegsstellung sachte in eine Friedensposition hinüberzugleiten.« (GA 16, S. 438) Kurland hatte er als Soldat kennen- und lieben gelernt. Bereits im Februar 1916 schreibt der Armierungssoldat Tucholsky an seine Schwester Ellen, dass »Kurland ein wundervolles Land« (GA 16, S. 77) sei. Kurland ist eine Landschaft an der Ostsee westlich von Riga.

In Kirchdorf auf der Insel Poel in der Nähe von Wismar im Kurhaus »Schwarzer Busch« machte unser Protagonist im September 1919 zwei Wochen Urlaub an einem wunderschönen Sandstrand (vgl. GA 22, S. 30). Und das junge Ehepaar Tucholsky/Weil führte seine Hochzeitsreise in den mecklenburgischen Ostseeurlaubsort Graal, nordöstlich von Rostock. Dort hielt sich das Paar im September 1920 zwei Wochen in der Pension Buchenhof auf. Diese Pension, die heute ein Heimatmuseum für den Doppelort Graal-Müritz beherbergt, besuchte die KTG auf ihrer Jahres ›Kuscheltagung‹ 2010 vom Bücherhotel Groß Breesen bei Güstrow aus.7 Und hier sind wir zeitlich auch bei unserem heutigen Gastland Polen: Tucholsky ist bereits seit Juli 1920 Chefredakteur des »Pieron« (vgl. GA 22, S. 32), der uns hier in Stettin noch beschäftigen wird.

Im Jahre 1921 im Juni/Juli arbeitet sich Tucholsky weiter nach Nordosten vor. Er macht Urlaub in Kölpinsee bei Koserow auf Usedom im Hotel »Seeblick« und verbringt einige Tage bei Rudolf Nelson, den er 1922 im Juli erneut für 10 Tage aufsucht (vgl. GA 22, S. 33–34). Innerlich hatte Kurt Tucholsky seine Ehe mit Else Weil schon hinter sich, kurz nachdem sie geschlossen war und er bemühte sich bereits wieder um Mary Gerold, die er zufällig im September 1920 traf und seitdem wieder um sie warb. Kurz bevor er seine Stelle im Bankhaus Bett, Simon & Co. am 1.03.1923 antrat, verbrachte er einen Kurzurlaub mit Mary im Kurhaus Zippendorf am Südufer des Schweriner Sees, also mittelbar an der erweiterten Ostsee (Wallensteingraben) (vgl. GA 22, S. 35). Ab diesem Zeitraum finden die Urlaube und Aufenthalte häufig weiter im Süden statt, also z. B. mit Mary Gerold ein Kurzurlaub im Riesengebirge. Und 1924 geht Tucho nach Paris. Ende August 1924 heiratet er Mary Gerold. Es folgen Reisen in die Provence und die Pyrenäen. Tucholsky reist in ganz West-Europa viel umher.

Nachdem er von Mai bis Mitte Juli 1927 in Mogenstrup auf der dänischen Insel Seeland den Sammelband »Mit 5 PS« zusammengestellt hatte, sah er die Ostsee im Juli 1928 wieder. Er arbeitete im schonischen Kivik an der südschwedischen Ostküste weiter an diesem Sammelband (vgl. GA 22, S. 41–42). Von April bis Oktober 1929 hielten sich Tucholsky und Lisa Matthias in Läggesta, in der Nähe des Schlosses Gripsholm am Mälarsee auf:

Im August 1929 machten wir – von Läggesta aus – eine längere Orientierungsfahrt durch Schweden, um endlich – für das kommende Jahr – eine bessere und gut beheizbare Villa zu finden. (GA 20, S. 839)

Diese sollte nicht zu weit von einer größeren Stadt liegen, dabei aber doch im Grünen und in ruhiger Umgebung gelegen sein.8 Dieses Haus fand man, mit Hilfe eines schwedischen Bekannten, in Hindås, einem Ort 35 km östlich von Göteborg. Dort mietete Kurt Tucholsky die Villa Nedsjölund. In diesem Haus wohnte er von 1930 bis zu seinem Tode im Dezember 1935.

Von Hindås aus machte Tucholsky drei Monate Urlaub in Lysekil, einem Fremdenverkehrs-Ort etwa 75 km nördlich von Göteborg. Gertrude Meyer hatte das Haus gebucht und blieb einige Wochen; danach besuchte ihn Hedwig Müller aus der Schweiz, die er Nuuna nannte. Tucholsky schreibt Anfang Juli 1934 an sie:

Ob das nun Einbildung ist oder reale Kräfte – diese Landschaft im Norden ist eben meine. Dabei ist es keineswegs mein Ideal – das wäre der lange Sandstrand mit der unendlichen Linie am Horizont und Buchenwälder. Diese Landschaft hier ist ein kleiner Satz aus der Symphonie bei Maloja… […] Wenn ich an den schwammigen Tessin denke: hier sagt alles zu mir Ja. Da, wo Du bisher bei mir warst, das war ja landschaftlich so gut wie nichts – hier wirst Du ein kleines bißchen begreifen, warum ich immer mit dem Norden so viel angebe. Wie die grünen Bäume gegen den grünen Himmel stehen – also Du wirst das sehn. (GA 20, S. 354)

Einen letzten großen Urlaub machte Tucholsky mit Gertrude Meyer, seinem ›Fröken‹. Beide hielten sich im Sommer 1935 zweieinhalb Monate in Visby auf der Insel Gotland auf:

Ich sitze zur Zeit auf Gotland, welches in der Ostsee liegt und mir demzufolge gut tut. Mensch, die Ostsee ist eben anders – sogar die Herren Schweden (inkl. Mädchen!) sind hier erträglicher als im Westen. (GA 21, S. 290)

Im Juli 1936 findet Kurt Tucholsky seine letzte Ruhe in der Nähe von Schloss Gripsholm auf dem schönen Friedhof von Mariefred. Seine Grabinschrift aus »Faust II« lautet: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.« (GA 22, S. 55)

Nach der Tour d’Horizon durch Tucholskys ›physische‹ Annäherungen an die Ostsee und die nordische Landschaft möchte ich auch einige Beispiele für die literarischen Bemühungen Tucholskys aufzeigen, in denen er sich um und mit der Ostsee und der Ostseeregion auseinandersetzt.

Vielen von uns kommen ganz sicher die Anfangszeilen aus dem Gedicht »Das Ideal« in den Sinn:

Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn –
aber abends zum Kino hast dus nicht weit. (GA 9, S. 433)

Durch und durch ironisch, aber sehr liebevoll, ist der Peter Panter-Text aus der »Weltbühne« von Mai 1922: »Saisonbeginn an der Ostsee«, in dem der Autor alle vorkommenden Personen, von den Wirten über die Fischer, die »fleißigen Gemeindeväter«, die Strandkorb-Besitzer, den Badearzt, die Schiffer und – nach den Geistlichen beider Konfessionen – auch noch den Landrat, so durch den Kakao zieht, dass es eine wahre Freude ist. Der Text endet mit den Worten: »Und der Landrat hebt den Zylinder und spricht, Auftakt und Anfangssignal der Sommerszeit 1922: ›Hiermit erkläre ich die Ostsee für eröffnet -!‹ « (GA 5, S. 339–343)

Eine eher bewegende Sentenz finden wir in dem Text »Heimweh nach den großen Städten«, der im August 1928 in der »Vossischen Zeitung« erschien. Dessen Anfangszeilen lauten:

Manchmal, wenn ich der Ostsee den Rücken wende, der alten Frau, sehe ich in das schwedische Land Schonen hinein, die Ostsee plätschert, ich guck gar nicht hin. Denn wir sind verheiratet, seit …zig Jahren – wir kennen uns, lieben uns, haben uns ganz leicht über, gehen mitunter ein bißchen auseinander, betrügen uns (ich sie mit der Nordsee, sie mich mit der Literatur auf Hiddensee-) – vor mir liegt Schonen. Ein hübsches Land… (GA 10, S. 338)

Immer wieder tauchen liebevolle Erwähnungen der niederdeutschen Sprache, der Landschaft und natürlich der Ostsee in »Schloß Gripsholm« aus dem Jahre 1931 auf. So tauschen sich Karlchen und die Prinzessin seitenlang über ihr jeweiliges Plattdeutsch aus, das Tucholsky so wunderbar beschreibt:

Die Prinzessin erzählte die [Geschichte; K. L.] vom Schuster Hagen, dem der Amtsverwalter sein Prost Neujahr zugerufen hatte: »Ick wünsch See uck veel Glück taut niege Johr, Meisting!« – und der andere hatte dann verehrungsvoll über den ganzen Marktplatz zurückgebrüllt: »Ins Gegenteil! Ins Gegenteil, Herr Amtsverwalter!« (GA 14, S. 202–205)

Tucholsky nutzt diesen Abschnitt zu einer Eloge auf die plattdeutsche Sprache:

Es ist jener Weg, den die deutsche Sprache leider nicht gegangen ist, wieviel kraftvoller ist da alles, wieviel bildhafter, einfacher, klarer – und die schönsten Liebesgedichte, die der Deutsche hat, stehen auf diesen Blättern. Und die Menschen …. was es da im alten Niederdeutschland, besonders an der Ostsee, für Häuser gegeben hat, eine Traumwelt von Absonderlichkeit, Güte und Musik, eine Käfersammlung von Leuten, die alle nur einmal vorkommen. (GA 14, S. 204)

Und nachdem er den Teil der Geschichte abgesondert hat, der in die Hände von dummen Heimatdichtern gefallen sei: »Das ist nicht unser Plattdeutsch, das nicht«, bekennt er seine Liebe:

Niederdeutschland aber geht nicht ein – es lebt und wird ewig leben, solange dieses Land steht. Dergleichen hat es außerhalb Deutschlands nur noch einmal gegeben, aber da auf dem Rücken einer dienenden, nicht gut behandelten Kaste: in Kurland. Doch der Niederdeutsche ist anders. Seine Worte setzt er bedächtig, und sie sind gut. (GA 14, S. 204)

Eine kleine Merkwürdigkeit, die mir bei meiner Recherche zum Thema auffiel, möchte ich in meiner Eigenschaft als Pommer (wenn auch Vorpommer) hier vortragen: In fünf Texten bis 1926 benutzt Kurt Tucholsky den Ortsnamen des kleinen hinterpommerschen Ortes Belgard, um kontrastierend die große Welt, Königsberg, Bali, Berlin oder andere Orte zu beschreiben. Die Kreisstadt Belgard an der Persante, heute Białogard, nicht weit von Kolberg und Cöslin, also nicht weit von der Ostsee, steht bei Tucholsky als Beispiel für eine kleine Provinzstadt.

Natürlich finden wir noch viele Male in Tucholskys Texten die Erwähnung des mare balticum als freundliche Ostsee, als Mütterchen Ostsee, die treue Ostsee, die faule Ostsee usw. Aber nach dem vorne Gesagten benötigen wir keine neuen Beweise, sondern glauben, ja wissen ganz sicher: da ist eine Liebe gewesen, die war tief und echt und sie hielt ein Leben lang.

Am Schluss dieser kleinen Nordland- und Ostsee-Hommage soll der sehr bekannte und immer wieder bewegende Textauszug stehen, der den Tucholsky/Heartfield-Band »Deutschland, Deutschland über alles« von 1929 beschließt:

Nun haben wir auf vielen Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen.
Ja –: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland. Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen… […]. (GA 12, S. 226)

Und weiter unten:

[…] außerdem hat jeder sein Privat-Deutschland.
Meines liegt im Norden. Es fängt in Mitteldeutschland an, wo die Luft so klar über den Dächern steht, und je weiter nordwärts man kommt, desto lauter schlägt das Herz, bis man die See wittert. Die See – wie schon Kilometer vorher jeder Pfahl, jedes Strohdach plötzlich eine tiefere Bedeutung haben … wir stehen nur hier, sagen sie, weil gleich hinter uns das Meer liegt – für das Meer sind wir da. Windumweht steht der Busch, feiner Sand knirscht dir zwischen den Zähnen … Die See. Unvergeßlich die Kindheitseindrücke; unverwischbar jede Stunde, die du dort verbracht hast – und jedes Jahr wieder die Freude und das »Guten Tag!« und wenn das Mittelländische Meer noch so blau ist … die deutsche See. Und der Buchenwald; und das Moos, auf dem es sich weich geht, daß der Schritt nicht zu hören ist; und der kleine Weiher, mitten im Wald, auf dem die Mücken tanzen – man kann die Bäume anfassen, und wenn der Wind in ihnen saust, verstehen wir seine Sprache. Aus Scherz hat dieses Buch den Titel »Deutschland, Deutschland über alles« bekommen, jenen törichten Vers eines großmäuligen Gedichts. Nein, Deutschland steht nicht über allem und ist nicht über allem – niemals. Aber mit allen soll es sein, unser Land. Und hier stehe das Bekenntnis, in das dieses Buch münden soll: Ja, wir lieben dieses Land. (GA 12, S. 229–230)

Anmerkungen

1 Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke. Vorwort von F. J. Raddatz, TB-Ausgabe, Bd. 1, Reinbek 1975, S. 13.

2 Vgl. Michael Hepp, Kurt Tucholsky, Reinbek 1993, S. 17; Helga Bemmann, Kurt Tucholsky, Berlin 1990, S. 17–21.

3 Vgl. Bemmann, Kurt Tucholsky, S. 19.

4 Michael Hepp, Kurt Tucholsky (RM 50612), Reinbek 1998, S. 8–9.

5 Vgl. Kurt Tucholsky, Gesamtausgabe. Texte und Briefe, Bd. 22, Reinbek 2011, S. 26. Im Folgenden ausgewiesen als GA mit Band- und Seitenangabe.

6 Wolfgang Sax, E-Mail vom 30.08.2016 an den Autor des vorliegenden Beitrags.

7 Vgl. Frank B. Habel, …vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße… Rundbrief Dez. 2010, S. 5–7.

8 Vgl. Lisa Matthias, Ich war Tucholskys Lottchen, Hamburg 1962, S. 179.

 

Aus: Vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße. Tucholsky, die Ostsee und Polen. Dokumentation der Tagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft 2016 in Szczecin/Stettin. Leipzig, Weissenfels: Ille & Riemer 2017, S. 33-42.

© Klaus Leesch/ Verlag Ille & Riemer Leipzig; Weißenfels, 2016