Die Schere von Esther

Translated by / Übersetzung aus dem Litauischen von Vytenė Muschick
Also available in Lithuanian: Esteros žirklutės

Dieser Essay handelt von Fira Bramson oder Estera Bramson-Alpernienė (1924-2016), der langjährigen Leiterin der jüdischen Literaturabteilung in der litauischen Nationalbibliothek. In der Nationalbibliothek katalogisierte und verwaltete sie die erhaltenen Bestände des YIVO-Instituts (1925 in Vilnius gegründet, 1940 nach New York verlegt) zur Erforschung des Ostjiddischen, Jiddischen und des osteuropäischen Judentums. Heute befindet sich das vom Bibliothekar Antanas Ulpis zur Sowjetzeit versteckte YIVO-Material von Vilnius in der litauischen Nationalbibliothek Mažvydas, im Judaica-Zentrum. Das Judaica-Zentrum in Vilnius und das YIVO-Institut New York haben ein gemeinsames Digitalisierungsprojekt entwickelt, indem die Bestände des ehemaligen YIVO-Instituts in Vilnius Lesern in digitaler Form zugänglich gemacht werden.

Vytenė Muschick

Ich werde sie bei ihrem biblischen Namen nennen – Esther. Jetzt darf ich das. Vor Kurzem wurde sie so vom Rabbi in seinen Gebeten in die Ewigkeit gerufen, bevor er den verstorbenen Leichnahm mit den ersten drei Handvoll Sand von der Welt der Lebenden trennte.

Im Leben war es anders: Meistens hieß sie Fira, selten wurde sie Firotschka genannt oder gerufen. Ich muss ein wenig schmunzeln, bis zur Unkenntlichkeit wurde der Name der persischen Königin, der so viel wie Morgenstern bedeutet, in der hiesigen, durch die großen slawischen Sprachen gefärbten jiddischen Mundart verändert. Jetzt, wo sie in die Unendlichkeit der Zeit nach dem Leben eingegangen ist, jetzt ist Fira wieder zurückverwandelt in die Tochter Israels – Esther, der Morgenstern, Ester bat Israel.

Sie war Abiturientin des jüdischen Gymnasiums in Kaunas, Jahrgang 1941, eine Nachfahrin einer weltweit geachteten Litvaken-Familie. Am 21. Juni hatte sie ihre letzte Prüfung bestanden, ausgerechnet in Geschichte1. Als Anerkennung ihrer Reife und als ein Zeichen für ihre Selbstbestimmung übergab ihr Vater ihr einen Haustürschlüssel, damit sie von jetzt an nach Hause kommen konnte, wann sie wollte, auch nach zehn Uhr abends. In der Abenddämmerung lief Esther zum beliebten Treffpunkt der Gymnasiasten – dem Garten des Kriegsmuseums, jetzt mit ihrem eigenen Schlüssel. Da wartete schon ihr Freund auf sie (dessen Namen sie mir gegenüber nie erwähnte), die Schüler des jüdischen Scholem-Alejechem-Gymnasiums und des dritten litauischen Gymnasiums trafen sich dort. Dank Chaja und Lida, zwei lebensfrohen Jüdinnen, die das litauische Gymnasium besuchten, existierte der gemeinsame Freundeskreis. In der Schule war Salomėja Nėris2 höchstpersönlich ihre Literaturlehrerin, zum Freundeskreis gehörte die angehende Schauspielerin Lilijana Binkytė, Tochter von Kazys Binkis3, von Freunden Ljalka genannt. Ljalka war damals wahnsinnig in den jungen Poeten Eduardas Mieželaitis4 verliebt. An jenem Abend amüsierte sich Esther mit ihren Freunden das erste Mal so lange, wie sie wollte: Sie schwebte im siebten Himmel. Nur Lidas Schicksal warf Schatten auf die fröhlichen Gespräche der Freunde: Bei den Prüfungen war Lida nicht dabei, da sie eine Woche zuvor mit ihren Eltern nach Sibirien deportiert worden war. Erst um drei Uhr morgens schloss Esther mit ihrem Schlüssel die Haustür am Hafenufer auf. Sie legte sich hin, konnte aber nicht richtig einschlafen.

Eine Stunde später, so gegen vier, erzitterte plötzlich das ganze Haus. Esther erzählte mir immer wieder: „Ich bin aus dem Bett gesprungen und ins Wohnzimmer gestürzt, von dem die Fenster auf die Memel hinausgingen. Ich sah Feuer- und Erdfontänen am anderen Ufer des Flusses, in Aleksotas, und spürte die Hand des Vaters auf meiner Schulter: „Das ist kein Feuer, mein Mädchen, das ist Krieg. Er hatte augenblicklich alles verstanden.“ Der Mittsommermorgen brach an, der gestrige Nebel von Gedanken und Anzeichen von Hoffnungen waren auf einmal verschwunden, durch die Flugzeuge der Nazis am Himmel. Die Telefonleitung war noch intakt, eine Vielzahl von Anrufen stürzte herein: ein Teil der Verwandtschaft riet zu flüchten, ein anderer Teil – sich im Haus zu verschanzen und auf die Kinder aufzupassen, die Freunde schlugen vor, sich noch einmal in der Stadt zu treffen und alles in Ruhe zu besprechen. Esthers Mutter bereitete sich pflichtbewusst, wie immer, auf ihren kommenden Dienst als Hebamme im jüdischen Krankenhaus in Kaunas vor, sie wollte die Neugeborenen des Tages in Empfang nehmen. Esthers Schwester Gita bekam wie absichtlich eine akute Angina und lag mit hohem Fieber entkräftet im Bett, von Flucht konnte keine Rede sein. Nachmittags erfuhr Esther von Freunden über eine mögliche Evakuierung um zehn Uhr abends sollte man im Komitee der kommunistischen Jugendorganisation in der Kęstutis Straße sein. Der Vater hatte es für sie entschieden: „Geh dahin, mein Mädchen, vielleicht schaffst du es, nur der Mama sagen wir jetzt kein Wort, das würde sie allzu sehr aufwühlen. Es ist besser, wenn sie es später erfährt.“ Esthers letztes Telefonat mit der Mutter im Krankenhaus: „Ich bin zu Hause, mir geht es gut.“ Die Schwester ahnt auch nicht, dass Esther zum Abschiednehmen zu ihr ans Bett kommt: Sie redet wirr im Fieber. Der Vater packte das Wichtigste für sie zusammen. Im allerletzten Augenblick beschloss er, Esther eine kleine Schere mitzugeben.

In der Kęstutis Straße hatten sich die Menschen in kleine Gruppen von zehn Personen aufgeteilt, sie flüchteten zu Fuß aus Kaunas. Die „Herrschaften“ mit ihren Automobilen, die zur lettischen Grenze fuhren, wollten keine Flüchtlinge mitnehmen. Auf den Lastwagen der abziehenden russischen Soldaten sind sie mitgefahren, bei Fliegerangriffen der Deutschen sprangen sie über Bord und versteckten sich im Straßengraben vor den Maschinengewehrsalven und Bomben. Nahe der Stadt Zarasai erlebte Esther den Anfang eines Pogroms an den Juden mit: „Wir haben um die Stadt einen großen Bogen gemacht, aber ringsum genug gesehen, über das ich nicht reden möchte.“ Endlich erreichte Esther Daugavpils in Lettland, das schon von Geflüchteten aus Kaunas überfüllt war. In Daugavpils standen rote Autobusse aus der provisorischen Hauptstadt Litauens Kaunas, mit der alten Fahrtroute „Rathaus – Panemunė“. Im Gedränge am Bahnhof schaffte Esther es nicht, in den Zug einzusteigen, der nach Zilupe an die lettisch-russische Grenze fuhr (sie hatte Mütter mit Kindern vorgelassen). In der dritten Nacht, in der sie kaum geschlafen hatte, zog sie mit dick geschwollenen Füßen mit einer Gruppe junger Menschen weiter: „Als wir Zilupe erreichten, sahen wir, dass der vorausgefahrene Zug brannte. In der Nähe des Zuges waren Brennstofftanks explodiert, eine Bombe hatte sie getroffen und der Zug brannte sofort. Ringsum lagen überall Leichen, Kinder rannten wild durcheinander und wurden von ihren fast wahnsinnig gewordenen Müttern gesucht: „Diese Nacht war die grauenvollste auf meiner ganzen Flucht nach Russland. In dieser Nacht habe ich den Krieg erlebt.“ Es war derselbe Zug, in dem auch die Dichterin Salomėja Nėris mit ihrem vierjährigen Sohn Balandukas saß: In dem höllischen Durcheinander verlor sie ihren Sohn und fand ihn erst einige Tage später wieder. Ihr Gedicht „Zilupe“: „Wohin willst du laufen, wo bleibst du stehen? / Das Gesicht schwarz geworden, der Blick inwärts gerichtet. / Du fragst unentwegt, wiederholst dich immer: / Wer hat meinen kleinen Engel gesehen?“

Ich weiß nicht, wieso Esther mir dies einmal anvertraute, was man eigentlich nur seinen Nächsten erzählt. Da die Grenzposten den Befehl hatten, niemanden über die Grenze zu lassen, flüchteten sich die Überlebenden aus dem ausgebrannten Zug in den Wald zwischen Zilupe und Sebesch (der sich schon auf der russischen Seite befand). Hier wartete auf Esther ein neues Grauen – wie aus dem Nichts erschienen im Wald mit blankgezogenen Schwertern heran reitende sowjetische Kavalleristen, die auf die Menschenmenge eindroschen und die Flüchtlinge zurückgetrieben. Viele der Flüchtenden kehrten nach diesem Albtraum zurück – sie dachten, dass es ihnen im Ghetto besser ergehen würde. Esther war in einen Jungwald gelaufen, dort blieb sie unter einem Baum die ganze Nacht liegen. Bei Tagesanbruch hörte sie jemanden deutsch reden – das war wohl eine Landungstruppe der Wehrmacht, die das Grenzgebiet durchsuchte. Esther wurde nicht entdeckt, und kam mit einigen anderen die das Glück hatten, nicht aufgegriffen zu werden, aus dem Jungwald lebend über die Grenze nach Sebesch. Als sie mir davon erzählte, fügte sie noch hinzu: „Wenn dieses Datum naht, ein Tag davor und bis zwei Tage danach, träume ich immer wieder davon. Ich gebe mir Mühe, diese Tage voll zu verplanen. Und trotzdem. Trotzdem lande ich in diesen Nächten immer wieder an die Grenze bei Sebesch. Psychiater konnten mir da auch nicht weiterhelfen.“ Ich denke, es ist eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich kann nur ahnen, wie sich eine Frau fühlt, die mehr als siebzig Jahre aufgrund dieser ständig wiederkehrenden Bilder litt.

Ein Flüchtling kehrte aus Sebesch nach Kaunas zurück und berichtete Esthers Eltern im Kaunasser Ghetto, dass er Esthers Leiche gesehen hätte. Der Vater fiel in eine Depression, weinte ständig und wiederholte immer wieder: „Meine Schuld, es ist meine Schuld, dass ihr Körper jetzt irgendwo unbegraben herumliegt.“ Die Hoffnung, dass wenigstens einer aus der Familie überleben wird, schwand dahin. Im Oktober 1941, während der „Großen Aktion“ im IX. Fort von Kaunas, wurden die Eltern brutal ermordet. Esthers Schwester Gita wurde während der Selektion auf dem Hauptplatz im Ghetto den Lebenden zugewiesen. Sie rannte jedoch auf die andere Seite, zu den Todgeweihten, zu ihren Eltern. Und Esther: „Bis heute fühle ich gegenüber meinen Eltern eine Schuld.“

In überfüllten Zügen, durch Bahnhofsgewimmel, Zugkontrollen ausweichend, erreichte Esther mit zwei weiteren Jüdinnen aus dem Kaunasser Gymnasium „Aušra“, Alja und Lisa, (zu dritt konnten sie nur für eine Zugfahrkarte bezahlen) Almaty. Zuerst arbeitete Esther für die Lebensmittelzuteilung als Deutschlehrerin in einer kasachischen Kolchose-Schule: „Die Arbeit war furchtbar. Ich musste eine Sprache unterrichten, die während des Krieges keiner hören wollte.“ Esther musste Feldarbeit leisten, zusammen mit ukrainischen Verbannten Heu rechen. Als sie wegen eines Sonnenstiches vom Heuschober herunterfiel, kam sie ins Krankenhaus, und eine Ärztin bescheinigte ihr, dass sie drei Jahre jünger sei, als sie tatsächlich war – so ausgehungert und abgemagert war sie. Sie wollte nach Almaty, in die Hauptstadt, umziehen, versuchte eine Aufnahme an einem wissenschaftlichen Institut, scheiterte aber an der Marxismus-Prüfung, da sie sie Lehrbücher einfach nicht verstehen konnte: „Diese Texte wurden in einer mir vollkommen fremden Sprache verfasst, in einem Russisch, das ich nicht verstand. Ich habe ja die russische Sprache von meinem Vater gelernt, eine Sprache, wie man sie Anfang des 20. Jahrhunderts in St. Peterburg sprach.“ Unerwartet wurde sie in die Berge abgeordnet, zum Bau eines neuen Wasserkraftwerkes für die Kriegsindustrie. Die Arbeit war hier wie in einem Zwangsarbeitslager – mit bloßen Händen musste sie schwerste Steinblöcke schleppen. Zu viert trugen die Frauen einen Steinblock, manchmal tauschten sie eine Hand für die andere, die ausruhte. Schon bald hielt die schmächtige Esther nicht mehr durch: Ein Steinblock rutschte ihr aus den Händen und fiel ihr und ihren Mitstreiterinnen auf die Füße. Für dieses Vergehen wurde die junge Frau der antisowjetischen Sabotage beschuldigt – im Wohnheim wartete schon die Staatssicherheit auf sie. Eine Pförtnerin warnte sie rechtzeitig, sie solle dem Wohnheim fernbleiben. Esther kehrte von ihrer Arbeit nicht mehr zurück, sondern lief mit ihrem verletzten Bein die ganze Nacht, dreißig Kilometer weit, durch die Berge – bis sie in einer Stadt eine Poliklinik erreichte. Ein alter Arzt aus dem St. Petersburg der Vorkriegszeit schrieb ihr ein Attest über ihren schweren Gesundheitszustand (dabei riskierte der Arzt selbst in Ungnade bei der Staatssicherheit zu fallen). So wurde Esther von der harten körperlichen Arbeit befreit und durfte nach Almaty umziehen.

In Almaty kam sie unter in die Obhut litauischer Flüchtlinge, die sich um sie, eine Waise aus Kaunas, kümmerten. Esther erfuhr viel liebevolle Zuneigung: „Eine Einladung in dieser Zeit 'komm zu uns, iss mit uns Suppe' war etwas Außerordentliches.“ Besonders innig verband sie die Freundschaft mit Marija Cvirkienė, einer Künstlerin, der Tochter von Professor Merkel Račkauskas und der Ehefrau vom Schriftsteller Petras Cvirka, der damals in Moskau arbeitete. Beide Frauen machten Handarbeiten und bestritten mit den Stricksachen ihren Lebensunterhalt. Eine besonders treue Kundin, eine sich gut zu kleiden wissende Frau Oberst, besorgte ihnen das nötige Strickgarn. Marija besaß nur noch ein einziges Paar abgetragene Schuhe, die sie in Nizza, auf ihrer Hochzeitsreise mit Petras, gekauft hatte. Auf dem Schwarzmarkt in Almaty suchten sie nach einem neuen Paar: Das Wichtigste war dabei, echte Schuhe von Pappschuhen aus Karton zu unterscheiden. Auf dem Markt fanden die beiden Frauen nichts, als ihnen plötzlich eine Stimme auf Litauisch zuraunte: „Ich werde euch keine schlechten Schuhe verkaufen.“ Das war der Schuhmacher Čepas aus der Kęstutis Straße in Kaunas, der ebenfalls in Kasachstan gestrandet war – er verkaufte Marija echte Lederschuhe. Im Frühling sammelten beide Frauen vor der Stadt junge Brenneseln – Marija war an Skorbut erkrankt und dies waren die einzigen zugänglichen Vitamine. Am Ende des Krieges erhielt Esther mit Hilfe der Familie Cvirka die Erlaubnis, nach Moskau zu fahren. Von hier aus kam sie mit dem Zug im Oktober 1944 nach Vilnius.

Sie mied Kaunas: Sie hatte keine Hoffnung, dort Verwandte zu finden. Eine Freundin, mit der sie in Russland gewesen war, überredete sie und sie ging Monate später nach ihrer Rückkehr auf Spurensuche nach ihrer Familie. Die Wohnung der Großeltern in der Ožeškienė-Straße stand leer, die Fenster waren zerschlagen. Sie rannte weinend heraus. In der elterlichen Wohnung am Hafenufer wohnte jetzt eine andere Familie, die sie sofort hereinbat. Esther ging durch die Zimmer – nichts, gar nichts fand sie von den ihr bekannten Familiensachen! Vor dem Eingangstor traf sie die alte Hausmeisterin, die ihr erzählte: Als Esthers Eltern ins Ghetto verschleppt wurden, konnten sie kaum persönliche Sachen mitnehmen. Sie wirkten verloren und sehr bedrückt. Am nächsten Tag sei ihr Dienstmädchen Rozalija gekommen, die mit ihrem Neffen alles Übriggebliebene abtransportierte, die Möbel, das Bettzeug … Esther bekam einen Hinweis, wo Rozalija wohnte: „Ich ging nicht zu ihr, suchte sie nicht auf. Mir wurde klar, es ist für mich unmöglich, in Kaunas zu leben. Jeder einzelne Ort weckte Erinnerungen an die nächsten, geliebten Menschen. In dieser Stadt fühlte ich mich wie auf einem Friedhof.“ Vom Hab und Gur ihres Elternhauses blieb ihr ein einziger Gegenstand – die Schere, die Vater ihr unerklärlicherweise vor ihrer Abreise mitgegeben hatte.

Ich hatte Esther an einem eigentümlichen Ort kennengelernt – in einer Zelle des ehemaligen Karmeliterklosters bei der St. Georg Kirche in Vilnius. Dort war in den letzten zwanzig Jahren ihr Arbeitsplatz gewesen. Der Raum erinnerte an eine Einsiedlerzelle, mag sein, dass es zu ihrem einsamen, tragischen, von den Verwandten abgetrennten Leben passte. Zugleich war es, das habe ich erst später begriffen, ein bescheidener Vorraum ihres großen Reiches. Dieser Raum – ein Zimmer im Dämmerlicht – hieß „Abteilung der jüdischen Literatur“, zu dem ein Korridor aus wehleidig knarrenden alten Holzdielen führte, den ich bei meinen Besuchen zu Esther nutzte. Esther war die Abteilungsleiterin und eine erfahrene Bibliographin – sie verwaltete, katalogisierte, erforschte jüdische Bücher, die in der Nachkriegszeit aus verschiedenen im Krieg geplünderten Bibliotheken, wie der Wilnaer Ghetto-Bibliothek oder der Bibliothek des weltbekannten YIVO-Instituts, in einer halbgeschlossenen sowjetischen Einrichtung zusammengetragen wurden. Ihr Arbeitsplatz nannte sich Der Palast der Bücher, er befand sich in den Gemäuern des Klosters. Esther begann ihre Arbeit zur Zeit der nationalen Unabhängigkeitsbewegung Sąjūdis, als der Spezialfundus der Judaica-Sammlung für Leser wieder zugänglich gemacht wurde – eine enorm große, wie durch ein Wunder gerettete Sammlung. Ein Teil dieser Sammlung war von dem Bibliographen Antanas Ulpis in der Zeit des Stalinismus direkt unter den Nischen in der St. Georg Kirche versteckt worden, um sie vor der Vernichtung in einer Papierfabrik zu retten. Esther hatte zwar keine Erfahrung als Bibliographin, sie erhielt diese Arbeit aber, da sie als eine hervorragende Kennerin der jiddischen Sprache und Literatur galt und ihre Ausbildung an einem angesehenen Gymnasium der Zwischenkriegszeit genossen hatte. Sie war eine Frau, die ihre Nächsten und ihr Zuhause verloren hatte und zur Sowjetzeit nur öde administrative Arbeit zu machen hatte. Es war ihr leider nicht vergönnt gewesen, eine eigene glückliche Familie zu haben. Diese Frau wurde nun die Behüterin eines beeindruckenden, wenn auch zugleich traurigen Schatzes. Eine Königin der Bücher eines fast komplett vernichteteten Geschlechts.

Schon bei meinem ersten Besuch begriff ich, dass mein eigentliches Ziel – das Sammeln von Material für meine Doktorarbeit über die mehrsprachige Wilnaer Kultur nur zweitrangig bleiben würde. Als ich die ersten Prüfungen bestanden hatte, – sie musste sich ja überzeugen, ob ich tatsächlich Jiddisch kann und eine Ahnung hätte, was die Namen wie Reisen, Kulbak und Sutzkever bedeuten, – entsprang dem Mund der Bibliographin langsam ein Wort nach dem anderen, und ich verstand sofort, dass dies eine lebendig erinnerte Geschichte der litvakischen intellektuellen Elite ist. In Esthers Klosterzelle blätterte ich unter Schaudern in den aus dem Büchermagazin mitgebrachten seltenen Büchern, die oft mit einem Stempel des Wilnaer Ghettos versehen waren, mit Abdrücken von geriffelten Schuhsohlen (auf manchen Seiten fand ich noch Schmutz kleben), die Seitenränder voller Anmerkungen der Leser, die später in Ponary ermordet wurden. Während dieser Zeit bereitete die Bibliographin ihrem Gast und sich einen Tee, nahm irgendeinen Gesprächsfaden wieder auf und erzählte ihre Geschichte weiter. Ihre Großeltern, Eltern, neun Onkel und Tanten, die in Kaunas, Vilnius, St. Petersburg und Paris lebten, ihre fatalen Schicksale, Charaktere, Laster … Das Familiennest – eine geräumige Wohnung der Großeltern in der Ožeškienė Straße in Kaunas, voller Bücher in sieben Sprachen, mit dem Geruch von Kaffee Hag. Durch das Fenster hörten sie den Gesang des Kantors der Choral-Synagoge Michail Alexandrowitsch … Ihr Vater, Absolvent der St. Petersburger Universität, war eine bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, er pflegte das Kunst- und Musikleben in seiner Familie und besonders die Oper: Vor jeder Opernaufführung erklärte er seiner Tochter ausführlich die Handlung und die Arien. Sie erzählte, wie sie auf dem Schoß des Vaters im Staatstheater saß und der Oper von Fromental Halévy La Juive (Die Jüdin) zuschaute, wie sie den berühmten Opernsängern Fjodor Schaljapin und Kipras Petrauskas in der Freiheitsallee in Kaunas hinterherrannte, so beeindruckend wirkten diese Männer auf sie … Wenn Esther ins Erzählen kam, hielt ich gewöhnlich meinen Atem an – es fühlte sich so an, als ob mich die geöffneten Bücher in eine verschwundene von Menschen ergriffene Welt hineinführten, der sie früher einmal angehört haben. „Eine Stimme wie aus einer anderen Welt“, „ein Gegenstand wie aus einer anderen Welt“ – das sind die Phrasen, die Esther zu sagen liebte. Vielleicht spürte sie instinktiv, dass ich einen Hunger auf diese „andere Welt“ hatte, deswegen ließ sie mich allmählich näher an sich herankommen.

Aber wie es sich für eine Königin gehört, war sie auch eine geschickte Taktikerin. Sobald sie spürte, dass mich etwas besonders interessierte oder dass ich ein seltenes, nicht katalogisiertes Buch suchte, wechselte sie absichtlich das Gesprächsthema, stellte sich taub für meine Andeutungen und Bitten, ging auf Distanz – und nur wenn sie ausreichend Aufmerksamkeit, Würdigung und Komplimente erhielt, konnte sie sich nach ein paar Tagen doch „versehentlich“ daran erinnern, worum ich sie gebeten hatte. Genauso wie die biblische jüdische Schönheit Ester, die solange den persischen König Ahasveros an der Nase herumführte, bis er folgsam wie ein Lamm wurde. Auch ich kam in die Fänge der Königin des Palastes der Bücher, und bereute es nicht. Als ich die von ihr ausgedachten „Ritterlichkeitsübungen“ und das Wechselspiel von „Nähe“ und „Distanz“ absolviert hatte, welches wahrscheinlich als Zeichen der Anerkennung ihrer „majestätischen Würde“ notwendig war, wurde ich großzügig entlohnt – mit im Katalog noch nicht erfassten Büchern, mit noch nicht erzählten Geschichten aus ihrem Leben. Genauso „vergaß“ Esther immer wieder meine beharrliche Bitte, um Erlaubnis, die Schatzkammer ihres Königreichs zu besuchen – das Hauptmagazin der Bücher in der geschlossenen St. Georg Kirche. Wie schon gesagt, dort wurden nach dem Krieg all die Kostbarkeiten aus den verwüsteten Bibliotheken Litauens, aus Landgütern, Priesterseminaren, Jeschiwen und Synagogen zusammengetragen. Im Laufe einiger Monate trug ich ihr immer wieder geduldig mein Anliegen vor, bis sie mich eines Tages mit unschuldigem Blick verwundert fragte: „Wie, Sie waren noch nie in der St. Georg Kirche? Nie eine Gelegenheit gehabt? Kommen Sie doch mit, ich kann es Ihnen zeigen.“ Und so trat ich in eine magische Wirklichkeit ein: Mehrstöckige Regale voller seltener, alter Bücher ganz bis zum barocken Gewölbe. Wenn ein Leser dahin durch eine schmale Leiter gelangt, umgeben ihn kaum hörbare Geräusche trompetender Engel und unsichtbaren Rauch verbreitende Flammen; wo in der Nische zwischen alten jüdischen Zeitungen ein Heiliger der Karmeliten mit einem durch das Schwert durchbohrten Herzen im Sterben liegt; wo kaum sichtbar, in einem Bücherlabyrinth, die rote Kehle des St. Georg Drachens leuchtet und ein hellblauer Mantel der Heiligen Maria schwebt; wo auf einem von den Ellbogen der Katholiken abgenutzten Handlauf eines Beichtstuhls ein aufgeschlagener Babylonischer Talmud liegt. Mich überkam das Gefühl, dass ich in die phantastische, von Jorge Luis Borges beschriebene Bibliothek von Babel gelangt bin, und dass Esther, die allwissende Hüterin dieser Bibliothek ist. Borges, übrigens, erwähnt in seiner Erzählung, dass man in dieser unendlichen Bibliothek Bücher in allen Weltsprachen finden kann – nicht nur in Jiddisch, sondern auch in einem Samisch-Litauischen Dialekt der Guaraní-Sprache mit der Flexion des klassischen Arabischen. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn ich erfahren hätte, dass in Esthers Magazin sich auch solche Bücher befänden. Wenn ich mich nur der Bibliographin mehr eingeschmeichelt hätte … Sie war mit den Labyrinthen des Königreichs der Bücher so vertraut, wie mit dem Leben der Menschen, – einiges wird daraus erzählt und manches eben verschwiegen. Als ich mich selbst überzeugt hatte, wie unvollständig noch die Kataloge der Judaica sind, habe ich mich einmal getraut, eine von Borges empfohlene Methode für die Suche seltener Bücher, auszuprobieren, – nämlich, das erste Buch aus dem Regal zu ziehen. Ich zog „Den Zohar“, die Hauptschrift der Kabbala mit einem von Borkenkäfern komplett zerstörten Buchumschlag heraus, die im Jahr 1800 in der ukrainischen Stadt Slawuta veröffentlicht wurde.

Ich entwickelte mich zu einem erfahrenen, Geschenke entgegennehmenden Besucher der Königin des Bücherpalastes, wurde vielleicht sogar ihr Favorit. So langsam begriff ich auch, worauf manche ihrer taktischen Manöver zielten. Esther wünschte sich sehnlichst, ihre Lebensgeschichte, die Geschichte ihrer Dynastie und ihre Erforschung des Bücherschatzes an zukünftige Generationen weiter zu reichen – einen weiteren Band der unendlichen Bibliothek von Babel hinzuzufügen. Sie hatte es zweifelsfrei verdient. Nur schrieb sie meist ihre Texte in ihrer Muttersprache, einem aussterbenden Jiddisch, und ich war fähig, ihre Texte zu übersetzen so wie ihre mündlichen Erzählungen aufzuzeichnen. So begann ich am Ende meiner Dissertation, parallel das „Esther-Buch“ vorzubereiten – ich ging zu ihr in die Zelle mit einem Diktiergerät und mit einem Bündel übersetzter Texte über die jüdische Buchgeschichte. Ihr Buch kam 2009 heraus, mit dem königlichen Titel – „Der Schatz des Jiddischen / Baym oytzer fun yidish“. Es wurde eine Edition, die Borges‘ würdig war – in Jiddisch und Litauisch, mit deutschen Einsprengseln und einer Note vom persönlichen Schicksal des 20. Jahrhunderts. Wie es sich für eine „elitäre Autorin“ gehört, wurde das Buch in einer kleinen Auflage gedruckt ein seltenes Stück - dass nur wenigen Auserwählten zugänglich sein sollte.

Als ich mit Esther sprach, blieben mir immer wieder Fragen offen, die ich zu stellen zögerte. Es war mir klar, dass manche Themen ein Tabu waren, sie schmerzten, und ich respektierte Esthers Schweigen, ihre Zurückhaltung. Einige der Themen, die ich nicht angesprach, waren schmerzliche, tiefsitzende historische Kränkungen. Wieso schloss sie sich in den 1940er Jahren, dem Jahr der sowjetischen Besatzung, dem Komsomol an? Was trieb sie genau dorthin wo sie immer wieder betonte, wie fremd ihr das sowjetische System sei? Warum sprach sie so herzlich nicht nur über Cvirka5 und andere litauische Kommunisten, sondern auch – was ich nicht nachvollziehen konnte – über Genrikas Zimanas6, den ideologischen Zerberus der Nachkriegs LKP, an den Esther sich vor allem als an ihren begabten Biologielehrer am jüdischen Gymnasium erinnerte? Esther hingegen hat mir nie Fragen gestellt, die ihr möglicherweise in den Sinn hätten kommen können. Was machten meine Großeltern in Panevėžys und ihre Verwandten in Kaunas, als Tausende von Juden, einschließlich Esthers Familie, in die Ghettos und in den Tod getrieben wurden? Warum haben wir darüber nicht gesprochen, und niemals darauf eingegangen – vielleicht wollten wir einen größeren Konflikt vermeiden? Wer weiß, ob wir uns nicht zerstritten hätten – oder vielleicht doch die dunklen Flecken bereinigt hätten? Und doch kann ich das Gefühl nicht ganz loswerden, dass wir diese unausgesprochenen Fragen gelöst haben, nur auf eine andere, mehr fruchtbare Art und Weise. Diese Fragen beantworteten wir durch gegenseitigen Respekt, Respekt vor der Andersartigkeit der Erfahrung und vor der Unterschiedlichkeit unserer Identitäten, und wir teilten die Liebe zu den wundersam geretteten Büchern, die wir beide lasen. Wahrscheinlich wurde unser Dialog auch durch den aristokratischen Hauch befördert, den Esther aus ihrem Elternhaus mitgebracht hatte, den sie bereit war, mit mir zu teilen, als ob sie beweisen wollte, dass Aristokratie nicht bestimmten Nationen, Klassen, Ideologien angehöre, sondern auch ein Ausdruck für die Schönheit der menschlichen Haltung sein kann. Schließlich war die biblische Esther, die aufgrund ihrer atemberaubenden Schönheit Königin von Persien wurde, nur ein jüdisches Waisenkind, das sein Elternhaus verloren hatte.

Und am Ende – nur eine schlichte Nachricht von einem Mobiltelefon: „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass Esther heute gestorben ist. Die Verstorbene wird aufgebahrt …“ Ich werde sehr still, dann – ein unfreiwilliger Gedanke: Immerhin wird dies ja mein erstes jüdisches Begräbnis sein. Und ausgerechnet von ihr, der Königin der Bücher. Leider erweist sich mein Bücherwissen über die Unterschiede der Bräuche als wenig brauchbar: Blumen mitnehmen oder nicht? Wie drücke ich mein Beileid aus? Im Saal eines gewöhnlichen Bestattungs-instituts teilen sich die Trauenden in Gruppen auf: Ältere Männer mit Kippot lesen jüdische Gebete, die Nachbarinnen, die zum Abschied gekommen sind, bekreuzigen sich vor dem Sarg und flüstern „Ave Maria“. Ich versuche herauszubekommen, wer von den Trauernden wohl Esthers Familienangehörige sein könnten, bis eine Nachfahrin einer anderen bekannten Litvaken-Familie bitter-traurig bemerkt: „Haben Sie jemals an einer Beerdigung teilgenommen, bei der es keine direkten Verwandten gab? Das sind die Folgen des Holocausts.“

Nichtsdestotrotz kommen viele Menschen zusammen. Esther wird von einer gemischten jüdisch-litauischen Gemeinde verabschiedet, die nicht Weniges miteinander zu bereden hat: Nach einer Weile schwebt im Saal ein lebendiges, geräuschvolles Murmeln. Der Rabbi, der das Beerdigungsritual durchführt, betritt den Saal. Eine Angestellte des Bestattungsinstituts trägt einige sentimental traurige Gedichte vor, die wahrscheinlich an die litauischen Trauergäste gerichtet sind. Diejenigen mit Kränzen, diejenigen mit kleinen Steinen in der Hand, die nach jüdischer Sitte auf den Grabstein gelegt werden sollen, wir alle wollen zu dem stillen, entlegenen jüdischen Friedhof gehen, der zur Sowjetzeit vor die Stadt verbannt wurde. Als jedoch der Sarg durch die Allee des Friedhofs getragen wird, entsteht eine neue, geräuschvolle Wolke des Murmelns: Die Trauergäste fragen einander. Ich gehe am Ende des Trauerzuges, die Frage erreicht mich daher spät: „Sie sind die letzte Hoffnung. Wissen Sie, wie Esthers Vater hieß? Der Rabbi muss ihn im Gebet erwähnen, aber keiner von uns erinnert sich daran.“ – „Auch ich erinnere mich nicht daran …“ Es ist so, als hätte jemand unser aller Gedächtnis abgeschnitten. Dann antwortet auf einmal eine Litauerin neben mir, eine Historikerin, die das jüdische Leben im Zwischenkriegs Kaunas erforscht: „Ich glaube, ich weiß es. Ihr Vater hieß Tuvje.“ Der Name von Esthers Vater, der im IX. Fort erschossen wurde, wird aus dem Gedächtnis einer Litauerin der jüngeren Generation für das jüdische Gebet hervorgerufen. Dann legt sich die Aufregung wieder. Schließlich kehrt in unsere gemischte jüdisch-litauische Prozession Harmonie ein. Wir haben es gemeinsam geschafft, die abtrennte Genealogie wiederherzustellen.

Zum Schluss bleibt der Trauerzug an der Allee der Ehrwürdigen stehen. Das Ende ist wortlos und gleicht einem Stummfilm. Ich zittere, jedoch von innerer Unruhe gepackt. Ein weit entfernter Angehöriger von Esther, der sich um die Beerdigung kümmert, fragt mich: „Wir möchten Sie bitten, ein Abschiedswort zu sagen.“ Aber was soll ich sagen, wieso ich? Habe ich überhaupt ein Recht dazu? Welche Worte könnten all das einschließen, was hier gerade vor sich geht? Ich sollte mich auf meinem ersten jüdischen Begräbnis auf die Trauerrede konzentrieren, aber am Grab der Königin der Bücher spüre ich nur, wie eine Schere die Stränge der Vergangenheit und der Gegenwart wie in einem Stummfilm geräuschlos zerschneidet.

Wieso gab der Vater Esther ausgerechnet diesen Gegenstand, als er sich für immer von ihr verabschiedete? Warum passte sie so aufmerksam auf diese Schere auf, trug sie immer mit sich, wie ein Symbol ihrer Identität, wie einen Talisman? Während der Kriegswirren in Kasachstan, auf der Rückkehr in das Nachkriegs-Vilnius, oder als sie zu einer Konferenz nach Deutschland fuhr, schon zur Unabhängigkeitszeit? Wenn Sicherheitsbeamte am Flughafen verlangten, die Schere aus dem Handgepäck zu entfernen, verlangte Esther ihrerseits, dass die Schere in einem Safe für Wertsachen aufbewahrt wird – weil es ein besonders kostbares Ding sei. Woran erinnerte sie diese Schere wirklich? Vielleicht nicht nur an die brutale Unterbrechung der Familienlinie, sondern an etwas anderes? Vielleicht an den Hausschlüssel des nicht mehr vorhandenen Hauses, den der Vater ihr zur Volljährigkeit geschenkt hatte? Oder vielleicht an die chirurgische Schere ihrer Mutter, mit der die Hebamme des jüdischen Krankenhauses in Kaunas die Nabelschnüre der Neugeborenen durchtrennte, die sie sogar in den ersten Tagen der Nazi-Okkupation zum Leben begleitete?

Warum ein so facettenreiches und seltsames Zeichen der Dynastie dieser Königin? Gehört dieses vielleicht doch besser nicht zur biblischen Esther, sondern zur Esther aus dem Litauen des 20. Jahrhunderts?

Es ist an der Zeit für mich, zu sprechen. Vertreterinnen der jüdischen Gemeinde haben ihre Abschiedsreden schon beendet. Auf einmal fällt mir die Bedeutung des Namens der Königin der Bücher ein – der Morgenstern. Wie von selbst bildet sich in meinem Kopf ein Satz in ihrer jiddischen Muttersprache:
. טײַערע פֿיראַ, דײַן ליכט וועט בלײַבן אין אונזער זכּרון

„Liebe Esther, Dein Licht wird in unserem Gedächtnis bleiben.“
Nach diesen Worten, singt der Rabbi den letzten Psalm.

Es gibt viele Scheren auf der Welt, die fähig sind, lebendige Erinnerung, Tradition, Verwandtschaft zu zerschneiden, Völker voneinander zu trennen. Es gibt jedoch zuweilen kleine Scheren, die bei Verlust alter Schlüssel fähig sind, vergessene Schatzkammern aufzuschließen und neues Leben einzuhauchen. Und es wird niemals eine Schere geben, die das ausufernde Licht durchtrennen kann.
Leb wohl, Esther.

 

1 Am 22. Juni 1941 überfiel Nazideutschland die Sowjetunion, an diesem Tag begann der Zweite Weltkrieg in Litauen.

2 Salomėja Nėris (1904-1945) – eine der bedeutendsten lyrischen Stimmen, Klassikerin der litauischen Poesie

3 Kazys Binkis (1893-1942) – litauischer Schriftsteller und Lyriker

4 Eduardas Mieželaitis (1919-1997) – litauischer Lyriker

5 Petras Cvirka (1909-1947) – litauischer Schriftsteller, der freiwillig in die kommunistische Partei eingetreten war und an der strukturellen und institutionellen Eingliederung Litauens in die Sowjetunion aktiv mitgewirkt hatte

6 Genrikas Zimanas (1910-1985) – Mitglied des Zentralkomitees (ZK) der Litauischen Kommunistischen Partei (LKP) von 1958-1962.

Aus der Essaysammlung: Kvietkauskas, Mindaugas (2016), Die Hafenfuge [Uosto fuga]. Vilnius: Lietuvos rašytojų sąjungos leidykla. S. 97-109.